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Auf Nacht folgt Tag
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eBook305 Seiten4 Stunden

Auf Nacht folgt Tag

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Über dieses E-Book

"Wir werden dir helfen", sagt die junge Frau zu ihren Füßen.
"Helfen wobei?" Schlaftrunken richtet Edwina sich auf und erkennt augenblicklich die nur allzu bekannten Gesichter. Sie atmet tief ein, um nicht die Fassung zu verlieren. Keinen Fuß wollte sie mehr in dieses Haus setzen. Was ist aus diesem Plan geworden?

Edwina entspricht zu einhundert Prozent dem typischen Bild eines Teenagers nach dem Schulabschluss: furchtbar unzufrieden, absolut orientierungslos und vollkommen davon überzeugt, dass jeder Ort der Welt besser ist als das verschlafene Städtchen, in dem sie lebt. Doch als eine neue Familie in die Stadt zieht, die seltsam anders zu sein scheint, und sie sich mit den neuen Mädchen anfreundet, wittert sie ihre große Chance auf einen perfekten letzten Sommer in Scherinburg. Doch es ist keineswegs Zufall, dass die neuen Freundinnen gerade jetzt in der Stadt auftauchen: Edwina ist ihre letzte Hoffnung.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Mai 2018
ISBN9783743147447
Auf Nacht folgt Tag
Autor

Tessa Millard

Tessa Millard wurde 1995 in Thüringen geboren und entdeckte bereits im Grundschulalter das Schreiben für sich. Seit 2016 veröffentlicht sie Fantasy-Romane als YA-Autorin.

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    Buchvorschau

    Auf Nacht folgt Tag - Tessa Millard

    Inhaltsverzeichnis

    Teil 1

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Teil 2

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Teil 3

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Epilog

    TEIL 1

    Kapitel 1

    „Was wirst du jetzt tun?" Er sieht Edwina erwartungsvoll an und bemerkt ihren Moment der Unsicherheit. Nur kurz ist das winzige Zucken in ihrem Augenwinkel zu sehen und es wäre ihm durch das Leuchten ihrer grünen Augen und den hellen Schimmer des Sonnenlichts auf ihrer Haut fast entgangen.

    Die Folie, in welche das Sofa, auf dem sie sitzen, noch immer gehüllt ist, knistert und raschelt, als sie unruhig darauf hin und her rutscht. Das Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster in den kargen Raum hinein. Weiße Wände, heller Laminatboden, spärliche Möblierung. Es wird noch eine Weile dauern, ehe er sich vollkommen eingerichtet hat. Allein ein Koffer mit Kleidung und eine Kiste mit Geschirr stehen auf dem Boden herum und warten geduldig darauf, ausgepackt zu werden.

    „Ich werde bei meiner Tante arbeiten", antwortet sie und verdreht ihre Augen, die ihm so gut gefallen.

    „Echt? Das ist doch gut." Wenigstens hat sie eine Stelle gefunden.

    „Ich hätte mir schon etwas Zukunftsweisenderes gewünscht", sagt sie und nestelt an ihrem Armband.

    „Wie lang wirst du noch hier bleiben?" Er weiß, dass sie nicht bleiben wird. Sie wird ihr Leben nicht in diesem öden, verschlafenen Städtchen verbringen. Vielleicht würde sie ihm zuliebe bleiben, aber das ist nicht, was er will.

    „Bis das Semester anfängt."

    Es ist die Erleichterung, die ihm ein kleines Lächeln über die Lippen huschen lässt. Bis das Semester anfängt. Den ganzen Sommer. Sie wird den ganzen Sommer über in Scherinburg bleiben.

    „Und hast du schon eine Ahnung, wo die Reise hingehen soll?"

    Allein ihr kritischer Blick trifft ihn. Wenn er sie nicht bereits vor zwei Tagen danach gefragt hätte, würde sie ihm antworten. Natürlich weiß sie es nicht. Wie auch? Sie weiß ja nicht einmal, was sie will. Und ohne Ziel einfach in die Welt hinauszuziehen, scheint selbst ihr zu kopflos.

    „Ich finde, wir sollten unseren letzten gemeinsamen Sommer richtig genießen. Was schlägst du vor?", fragt sie ihn.

    Sie sieht ihm ins Gesicht und bemerkt den starren Ausdruck in seinen dunklen Augen. Es ist ihr letzter Sommer.

    „Lass uns zu Steffis Party gehen", sagt er ganz direkt und sieht ihr tief in ihre smaragdgrünen Augen. Zu gern möchte er sich in ihnen verlieren.

    „Was?" Entsetzt rückt sie ein Stück von ihm ab und zieht die Augenbrauen hoch, die Arme vor der Brust verschränkt.

    „Lass uns zu Steffis Party gehen", wiederholt er und sein verschmitztes Grinsen wird von Sekunde zu Sekunde breiter. Es ist niedlich, wie sie immer wieder versucht, ihm etwas auszuschlagen und schlussendlich niemals dagegen ankommt.

    „Meinst du das ernst? Ich meine, hast du in den letzten Monaten geschlafen oder hast du Drogen genommen oder was ist mit dir los? Hallo? Erde an Jeremy?", lacht sie und wedelt ihm mit der flachen Hand vor den Augen herum, als will sie ihn aus einem Tagtraum wecken. Doch so recht empören kann sie sich nicht über ihn. Den Magen dreht es ihr allerdings wirklich herum, wenn sie an diese Schlange von Freundin denkt.

    „Was kann ich denn jetzt dafür, wenn du nicht da warst? Ist doch nicht meine Schuld, wenn du nicht aufpasst!"

    Wir stehen mitten auf dem Hauptkorridor der Schule. Direkt vor der Cafeteria. Steffi schreit herum, als ginge es um ihr Leben.

    „Kannst du vielleicht etwas leiser sprechen? Muss ja nicht jeder mitkriegen."

    „Ist mir doch egal. Wenn du nicht so ein Streber wärst, wäre das ja auch gar nicht passiert. Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann bitte dir selbst."

    Steffi dreht sich um und stolziert davon. Sich selbst die Schuld geben. Die hat sie ja nicht alle! Eine schöne beste Freundin ist das, wenn sie gleich mit meinem Freund in die Kiste hüpft, sobald ich mal drei Tage nicht in der Stadt bin. Das darf doch alles nicht wahr sein.

    „Das solltest du dir vielleicht anschauen."

    Es ist Jeremy, der mir die neueste Ausgabe der Schülerzeitung vor die Nase hält. Das sind seine ersten Worte seit Monaten. Ich bin so überrascht und so erleichtert, dass er mit mir spricht, dass ich den Artikel in seiner Hand gar nicht beachte.

    „Was ist das?", stammle ich schließlich und erkenne es im selben Moment. Ich habe es tatsächlich auf die Klatschseite geschafft?

    „Ich denke, das reicht aus für einen Schulverweis."

    Schulverweis? Was zum Teufel? Ich reiße ihm das Blatt aus der Hand. Schulausflug. Übernachtung. Gemeinschaftsbad. Herr Lewinski. Das kann nicht sein. Ich habe ihr das im Vertrauen erzählt. Von Freundin zu Freundin. Das war doch nur eine lustige Geschichte wie jede andere auch. Woher sollte ich denn wissen, dass auch die Lehrer unsere Badezimmer mitbenutzten? Es hieß, sie hätten eigene Badezimmer auf ihren Zimmern. Und dann hatte er nicht mal abgeschlossen. Als wäre das Absicht gewesen. Meine Güte. Ich muss sofort mit Herrn Lewinski sprechen. Der arme Mann. Das wird ihn seinen Job kosten.

    Ich erkenne Steffi im Gewühl vor der Essensausgabe. Das Blut kocht in meinen Adern. Alles was ich noch höre ist das Rauschen in meinen Ohren. Mein Herz trommelt heftig gegen meine Brust. Erst als ich schon vor ihr stehe und gerade gegen ihr Tablett mit der heißen Suppe schlagen will, merke ich, wie mich jemand zurückhält und aus der Cafeteria führt.

    „Jetzt beruhige dich erst mal wieder. Das bringt doch nichts."

    Jeremy legt mir freundschaftlich den Arm um die Schultern und hält mich so davon ab, umzukehren. Wie kann man nur so verlogen sein?

    „Danke", murmele ich und ertrinke in meiner eigenen Scham. Nicht auszudenken, dass ich fast meinen besten Freund wegen ihr verloren hätte. Einen so heftigen Streit hatten wir noch nie. Und das nur wegen eines bescheuerten Typen, von dem ich dachte, dass er der absolute Traummann ist und dieser sogenannten Freundin.

    „Nicht der Rede wert."

    „Ach komm, du kannst ihr nicht für immer aus dem Weg gehen und es wird ihr den Abend verderben, wenn du nur einen Fuß in diesen Club setzt."

    Sie überlegt einen kurzen Moment und will ihm gerade widersprechen, als er mit heroischer Stimme und ausschweifender Handbewegung hinzufügt: „Willst du dich etwa von ihr vertreiben lassen? Willst du für immer, bis ans Ende deiner Tage, vor ihr davonlaufen, Edwina Lautermann?"

    Sie muss unwillkürlich lachen. Wie schafft er das nur immer? Und er hat Recht. Sie sollte sich von diesem Biest nicht das Leben schwer machen lassen. Schon viel zu lange ist es her, dass sie etwas getan hat, was man in ihrem Alter eben tut.

    Sie legt ihre Hände auf seine Schultern und sagt mit ernster Stimme: „Du bist der Beste!" Und sie fragt sich im selben Moment, wie seine Augen nur so unfassbar dunkel sein können.

    Ruhe. Als wäre mein Kopf vollkommen leer. Als würde sich kein einziger Gedanke, keine noch so kleine Sorge darin herumtreiben. Wie der leichter Sommerwind, der alles in so weite Ferne geraten lässt. Als wäre ich vollkommen bei mir. Als wäre mein Verstand so klar wie die Luft nach einem Regenschauer. Völlige Ruhe. Nur das rhythmische Geräusch meines Herzschlags.

    Jeremys Herz schlägt höher, als er das zarte Lächeln auf ihren Lippen sieht. Die Berührung ihrer warmen Hände auf seiner Haut tut ihm gut und er will gerade seine Augen schließen, als sie plötzlich von ihm abrückt, aufsteht und ihre Tasche von der Fensterbank nimmt.

    „Ich muss jetzt los. Sonst komme ich noch zu spät und du weißt ja, wie Geraldine es mit der Pünktlichkeit hält." Das ist die einzige nervige Angewohnheit ihrer Tante. Kein Problem wenn es unordentlich ist oder Edwina eine schlechte Note bekommen hat oder wenn sie einen Zuschuss zum Taschengeld braucht. Aber Schande über sie, wenn sie die Zeit vergisst, wenn sie zur verabredeten Zeit nicht am richtigen Ort ist.

    Jeremy erhebt sich schwerfällig vom Sofa, noch immer gefangen in diesem schönen Tagtraum.

    „Soll ich dich fahren?"

    Edwina stürzt auf ihn zu, gönnt ihm den kurzen Moment einer freundschaftlichen Umarmung und sagt: „Ach, Quatsch. Ich nehme den Bus. Tut mir leid, dass ich weg muss." Sie deutet auf die verpackten Möbel und die Kartons.

    „Kein Problem, antwortet er. „Aber was ist jetzt mit der Party?

    „Kannst du mich um 10 abholen?", ruft sie beim Schließen der Wohnungstür mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht. Natürlich holt er sie ab. Ein bisschen wie ein großer Bruder, der immer auf sie aufpasst.

    Edwina hüpft beschwingt das Treppenhaus hinunter. Wieso ist Jeremy eigentlich der einzige Mensch in ihrem Leben, mit dem sie ihre Gefühle und ihre Ängste teilen kann? Sicher, sie kennen sich seit dem Kindergarten, weil sich ihre Eltern vom ersten Tag an gut verstanden haben. Vielleicht ist es wirklich diese lange Zeit, die sie zusammenschweißt. Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie während ihrer gesamten Schulzeit immer unter sich geblieben sind. Viele haben sie belächelt. Oft hat man sie überreden wollen, doch auch mal nur mit Mädels auszugehen. Wozu?, hat sie sich stets gefragt. Jeremy ist ihr bester Freund. Und selbst wenn er eine beste Freundin vielleicht nicht ersetzen kann, ist er doch alles was sie braucht. Er tratscht wenigstens nichts weiter oder betrügt sie wie gewisse andere Menschen. Es läuft ihr schon wieder kalt den Rücken hinunter, wenn sie an den bevorstehenden Abend denkt. Mit einem Kopfschütteln verscheucht sie den Gedanken, während sie in den Bus einsteigt. Sie nimmt auf einem der vielen freien Sitze Platz. Edwina schaut aus dem Fenster auf die leergefegten Straßen von Scherinburg. Wie kann ein Ort nur so öde sein? Auch wenn Jeremy, und sie kann es verstehen, es sehr begrüßt, dass sie den Sommer über noch bei ihrer Tante wohnen wird, sie selbst wäre lieber woanders. An einem aufregenden Ort mit neuen Leuten, die sie nicht nach dem beurteilen, was andere über sie sagen. Es ergibt keinen Sinn in dieser Stadt zu bleiben. Wohin auch immer die Reise gehen wird, sie hofft inständig, dass es einen besseren Ort gibt als diesen. Dass es einen Ort gibt, der besser zu ihr passt. Allein Jeremy tut ihr leid, aber auch er ist kein kleiner Junge mehr. Es ist nicht mehr wie früher, als sie ihn vor den Rottweilern der Nachbarn retten musste oder ihm half, von seinem Baumhaus herunter zu kommen. Nein, Jeremy ist erwachsen genau wie sie und kommt auch ohne sie zurecht. Zumindest hofft sie das und erwischt sich dabei wie ihr ein kleines Lächeln über das runde Gesicht tanzte. Wie hilflos er in dieser Eiche gehangen hatte. Keine Bewegung wollte er mehr machen, aus Angst herunterzufallen. Sie war hinaufgeklettert, hatte ihm ihre Hand gegeben und gezeigt wohin er seine Füße bewegen sollte, um den besten Halt zu finden. Von diesem Tag an hatte er immer behauptet, Bäume würden ihm Angst machen.

    Sie steigt an der nächsten Haltestelle aus, schlendert ein paar Straßen entlang und erreicht schließlich zur verabredeten Zeit den Bioladen ihrer Tante. Geraldine ist gerade dabei die Körbe vor dem Laden mit frischem Obst und Gemüse zu befüllen. Wenn ihre Mutter das doch nur sehen könnte. Stets behauptet sie felsenfest, dass Geraldine es niemals schaffen würde einen Laden zu führen, geschweige denn davon zu leben. Inzwischen genießt Geraldines Lädchen jedoch großes Ansehen im Ort. Sie holt ihre Produkte schließlich aus der Region. Nicht wie die Supermarktketten.

    „Hallo, Tantchen." Sie klopft Geraldine freundschaftlich auf die Schulter.

    „Hallo, begrüßt sie diese und schaut prüfend auf ihre Armbanduhr. „Du kannst dich mit Amalia bekannt machen. Sie ist drinnen und räumt irgendwelche Regale um. Geraldine muss ein wenig schmunzeln. Jetzt lässt sie sich von den Aushilfen schon sagen, wie die Regale am besten sortiert werden.

    „Ich sehe mal nach." Edwina betritt den gerade einmal sechzehn Quadratmeter großen Laden und ist augenblicklich geblendet von der Ordnung und Sauberkeit.

    „Ich habe mal ein bisschen aufgeräumt, sagt die junge Frau und kommt zwischen den Auslagen hervor. „Ich bin Amalia.

    Erst im vollen Licht, das durch die Schaufensterscheiben dringt, offenbart sich ihre ganze Schönheit und Edwina ist sich nicht sicher, ob sie jemals einen schöneren Menschen gesehen hat. Ihr karamellfarbenes Haar reicht knapp bis zu ihren Schultern und betont in wundervoller Weise ihr schmales Gesicht mit den stechend grünen Augen. Die ebenmäßige, blasse Haut wirkt so zart und weich, dass es ein bezaubernd schönes Gefühl sein muss, sie zu berühren. Und der frische Duft nach Wildblumen und Sommerregen ihres Parfums erfüllt Edwina sofort mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Ausgeglichenheit.

    „Ja, das Aufräumen war auch dringend nötig. Auf mich hört sie ja nicht, lacht Edwina. „Kann ich dir noch irgendwie zur Hand gehen?

    „Wenn du magst, können wir uns noch das Lager vornehmen", schlägt Amalia vor und entblößt mit ihrem Lächeln ihre perfekt weißen Zähne.

    „Das Lager. Ja, da muss auch dringend aufgeräumt werden. Manchmal frage ich mich, wie sie hier überhaupt noch etwas findet."

    „Na, ihr zwei? Habt ihr was zu tun?", fragt Geraldine als sie den leeren Obstkorb hinter der Tür abstellt.

    „Ist das ein Scherz? Wir sind gerade dabei dein ganzes Chaos aufzuräumen."

    Ein schallendes Lachen dringt aus Geraldines rot bemalten Mund, während sie ihren typischen Haarhut, wenn man dieses eigenartig auftoupierte Vogelnest so nennen kann, zurecht zupft. „Ihr seid ja hoch motiviert. Ich will euch auch gar nicht weiter von der Arbeit abhalten, aber ihr könnt auch ruhig einen Kaffee trinken gehen, wenn ihr wollt. Macht euch nur keinen Stress."

    „Ich denke wir räumen erst mal das Lager auf. Dazu brauchen wir bestimmt noch ein paar Tage." Edwina zwinkert ihrer Tante zu und geht mit Amalia zusammen nach hinten.

    „Wo kommst du her?", fragt sie Amalia, als diese dabei ist, die leer geräumten Regale auszuwischen. Es ist beeindruckend mit welcher Eleganz sie selbst diese völlig banale Tätigkeit ausführt.

    „Meine Schwestern und ich sind aus Schweden hergezogen. Wir haben die alte Villa im Südviertel gemietet."

    Natürlich ist die Villa jedem ein Begriff. Spätestens nachdem sie monatelang das Stadtgespräch Nummer eins war, als es hieß, es würde dort spuken. Edwina fallen jedoch noch viele andere Gründe ein, dieses Haus als Wohnort auszuschlagen. Es gibt beispielsweise keinen Strom- oder Wasseranschluss. Außerdem ist die Anbindung schlecht. Aber das muss wohl jeder selbst wissen.

    „Was ist mit deinen Eltern?" Edwina öffnet einen schwarzen Filzstift und beschriftet die Kisten und Regale.

    „Meine Eltern sind früh gestorben. Seitdem kümmert sich unsere älteste Schwester Leopolda um alles. Aber was ist mit dir? Geraldine sagte, dass du bei ihr wohnst. Ist sie deine Mutter?"

    „Meine Tante. Meine Eltern wohnen außerhalb der Stadt. Das war wegen der Schule immer etwas unpraktisch." Eine glatte Lüge, aber Edwina hat sich so sehr an diese Ausrede gewöhnt, dass es ihr kaum noch auffällt.

    „Wirklich? Ein etwas merkwürdiger Grund, oder?"

    Amalia wirkt misstrauisch. Sie fixiert Edwina mit ihrem starren Blick, bis diese achselzuckend sagt: „Ja, etwas seltsam, aber so ist es eben."

    Amalia nickt entschlossen und räumt dann weiter ihren Teil der Regale ein. Sie hat ein eigenartiges Gefühl. Nichts Negatives, nur so ein Bauchgefühl. Eine Art Anspannung.

    „Kannst du das kurz für mich halten?", fragt sie schließlich und wirft Edwina eine Packung Reis hinüber noch bevor diese sich überhaupt zu ihr umgedreht hat.

    Edwina ist überrascht, fängt die Packung jedoch ohne Probleme und fragt: „Was ist denn damit?"

    „Ich wollte nur deine Reaktion testen, lacht Amalia und kommt herüber, um sich das Päckchen wiederzuholen. „Nicht schlecht gefangen.

    Auch Edwina muss lachen und verfrachtet kopfschüttelnd den letzten Karton in das erste aufgeräumte Regal. Bereits halb sechs ist es inzwischen. Die beiden Frauen machen sich auf den Weg nach vorn, um nachzusehen, ob sie Geraldine noch helfen können.

    „Hast du heute Abend etwas vor, Edwina?", fragt diese, während sie das Geld in der Kasse zählt.

    „Ich gehe mit Jeremy zu Steffis Party, warum?"

    „Ich dachte, du könntest Amalia vielleicht ein bisschen die Stadt zeigen. Aber möglicherweise kann sie ja auch mit zu der Party gehen", schlägt Geraldine vor und Edwina weiß genau, worauf sie hinaus will. Mit Sicherheit ist sie auch zu einem Teil daran interessiert, ihrem neuen Schützling die Ankunft hier in Scherinburg zu erleichtern, aber viel mehr zielt sie darauf ab, dass ihre Nichte dann doch endlich mal eine beste Freundin findet. Eine, mit der man auch mal über Frauenkram reden kann. Mal jemand anderen als Jeremy.

    „Ja, wieso eigentlich nicht. Das wird bestimmt lustig", willigt Edwina ein und versucht sich nichts anmerken zu lassen.

    „Das wäre großartig. Wir waren noch nie aus, seit wir hier wohnen. Ist es in Ordnung, wenn ich meine Schwestern mitbringe?" Amalia ist ganz aus dem Häuschen und wippt nervös auf und ab.

    „Klar, aber erwartet lieber nicht zu viel. Es ist nur eine kleine Feier in einem alten, modrigen Keller."

    Hastig kritzelt sie die Adresse auf einen kleinen Notizzettel. Sie verabreden sich für halb elf direkt vor dem Club.

    Kapitel 2

    Es klingelt an der Wohnungstür als Edwina gerade mit einem umgebundenen Handtuch aus dem Badezimmer stolpert.

    „Kannst du aufmachen? Es ist bestimmt Jeremy", ruft sie Geraldine zu, die die letzten Reste des Abendessens beseitigt und verschwindet in ihrem Zimmer. Das jadegrüne Cocktailkleid liegt schon auf dem Bett bereit. Es ist Ewigkeiten her, dass sie es getragen hat. Wenn sie so darüber nachdenkt, kann sie sich kaum noch erinnern, wann das war. Sie schlüpft hinein und kriecht in die dunkelgrünen Ballerinas, die ebenfalls schon lange im Schrank vor sich hingammeln. Es klopft an der Zimmertür.

    „Kann ich reinkommen?", fragt Jeremy durch den winzigen Türspalt.

    „Klar." Sie zieht den Reißverschluss zu und verstaut ihre Schlüssel in der kleinen Handtasche.

    „Das hattest du ja ewig nicht an", stellt Jeremy fest und mustert sie von oben bis unten.

    „Ja, das habe ich auch gedacht." Erstaunlich, dass er sich in ihrem Kleiderschrank so gut auskennt.

    „Hast du schon was gegessen oder wollen wir noch irgendwo anhalten?"

    „Ich habe schon gegessen. Aber im Kühlschrank steht noch ein Rest Lasagne." Edwina sieht Jeremy an der Nasenspitze an, dass er jeden Moment umfällt vor Hunger. Und da Lasagne sein Leibgericht ist, kann er dieses Angebot wohl kaum ausschlagen.

    „Aber die kann ich nicht hier essen. Geraldine quatscht mich immer so zu, dass ich gar nicht zum Essen komme, lacht er. „Vielleicht kannst du fahren, damit ich im Auto essen kann?

    Edwina nickt ihm lächelnd zu. Sie gehen zusammen in die Küche, wo Edwina die Schüssel aus dem Kühlschrank nimmt. Geraldine ist zum Glück gerade im Badezimmer, sodass sie die beiden nicht überreden kann zu bleiben, bis Jeremy alles verspeist hat. Die Lasagne brodelt kurz in der Mikrowelle, solange Edwina sich verabschiedet und Jeremy beobachtet ganz genau jede Umdrehung der Schüssel im Heizgerät.

    „Warum hast du denn nicht zu Hause gegessen?", fragt sie ihn auf dem Weg nach unten. Er hat sich bereits drei Happen in den Mund geschoben, seitdem sie die Wohnung im Dachgeschoss verlassen haben.

    „War bisschen stressig."

    Das sagt er immer, wenn seine Eltern sich gestritten haben. Seit Jahren schon ist ihre Beziehung nicht mehr das, was sie eigentlich sein sollte. Durch die vielen Nachtschichten von Jeremys Vater und den Dickschädel seiner Mutter wird es allerdings nicht besser. Edwina weiß, dass Jeremy ihnen mehrfach gesagt hat, sie sollten sich doch endlich trennen. Doch sie wollen nicht, weil sie ihm zuliebe versuchen, eine heile Familie zu sein. Nicht gerade das, was Jeremy sich wünscht.

    Edwina weiß nicht mehr, was sie dazu noch sagen soll. Sie will nicht immer wiederholen, dass es ihr leid tut. Natürlich tut es ihr leid. Sie weiß ja selbst wie es ist, eine verkorkste Familie zu haben. Sie wünscht es niemandem.

    Jeremy wirft ihr die Autoschlüssel zu, als sie am Wagen ankommen. Es ist eine einzige Schrottlaube. Überall ein bisschen Rost. Eine Lampe ist auch etwas altersschwach. Die Scheibenwischer funktionieren nur, wenn sie es wollen. Keine elektrischen Fensterheber. Aber es fährt und bisher konnten sie sich immer darauf verlassen. Trotzdem ist Edwina immer etwas mulmig, wenn sie fahren muss. Eine Panne würde sie sich gern ersparen.

    „Du kannst am Marktplatz parken. Dann laufen wir das Stückchen bis zum Club." Es ist keineswegs die Angst um sein Auto, sondern viel mehr die Scham und das Gelächter, das er ihnen ersparen möchte. Die wenigsten ihrer Mitschüler sind so auf dem Boden geblieben wie sie und geben sich mit einem alten Auto zufrieden, das sie von ihrem Großvater geschenkt bekommen haben. Wenn es keinen Markennamen trägt, ist es kein Auto.

    Edwina fährt über die Hauptstraße, welche im Ort eine weitläufige Schleife um den Stadtkern bildet. Nur wenige Autos kreuzen ihren Weg. Kein Wunder. Es ist Donnerstagabend. Jeremy verschlingt neben ihr die Lasagne, als hätte er wochenlang nichts gegessen.

    Ein tiefschwarzer, auf Hochglanz polierter Wagen überholt sie hupend direkt auf einer Kreuzung. Sie erkennen im letzten Moment das hämische Grinsen auf dem Gesicht des Fahrers.

    „Was will der denn hier?" Edwina beobachtet den Wagen bis er mit ungeheurer Geschwindigkeit um eine Kurve schlittert.

    „Ich dachte, der wäre schon weg. Jeremy bereut es fast, Edwina überredet zu haben, mit ihm auf die Party zu gehen. Wenn er gewusst hätte, dass Paul auch kommt, hätte er es ihr niemals vorgeschlagen. „Wir können umkehren, wenn du willst.

    „Nein, ich habe der neuen Aushilfe meiner Tante versprochen, dass ich sie mitnehme. Ich kann sie jetzt nicht sitzen lassen." Sie blinkt und biegt auf die Marktstraße ein.

    „Wie du meinst." Er mustert sie gründlich.

    „Irgendwann musste der Tag ja kommen." Edwina zuckt die Schultern, nachdem sie eingeparkt und den Schlüssel abgezogen hat.

    Jeremy nickt gedankenverloren und versucht dann,

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