Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ansgar Brinkmann: Der weiße Brasilianer
Ansgar Brinkmann: Der weiße Brasilianer
Ansgar Brinkmann: Der weiße Brasilianer
eBook236 Seiten3 Stunden

Ansgar Brinkmann: Der weiße Brasilianer

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Bin bis fünf Uhr früh in meiner Stammkneipe zu erreichen." (Legendäre Ansage auf Ansgar Brinkmanns Anrufbeantworter)
Weißer Brasilianer, der letzte Straßenfußballer, Kultspieler oder der Mann, der eine große internationale Karriere verschenkt hat: In fast 20 Jahren als Profifußballer hat Ansgar Brinkmann viele Spitznamen angehäuft und noch mehr Schlagzeilen produziert. Diese Biografie erzählt die Lebensgeschichte einer der streitbarsten und beliebtesten Figuren im deutschen Fußballgeschäft.
Im Buch kommen auch einige von Ansgar Brinkmanns Weggefährten zu Wort wie beispielsweise sein Freund und damaliger Mainzer-Mannschaftskollege Jürgen Klopp, Heribert Bruchhagen oder auch Reiner Calmund, der das Vorwort zum Buch geschrieben hat.
Nach der Ausbildung im Jugendinternat von Bayer Uerdingen unterschreibt Brinkmann mit 18 Jahren seinen ersten Profivertrag beim VfL Osnabrück. Lange ausgehalten hat es der Wandervogel Brinkmann weder in Osnabrück noch anderswo. Er spielte im Laufe seiner Karriere bei 13 Vereinen (u. a. in Berlin, Frankfurt, Bielefeld, Mainz, Dresden, Münster) unter vielen namhaften Trainern. Er absolvierte 316 Zweitligaspiele und lief 59 Mal in der Bundesliga auf, wurde zum Aufstiegshelden hochgejubelt und zum Oberligaspieler degradiert. Er war unkontrollierbar und trotzdem beliebt – weil er ehrlich und authentisch, sanftmütig und gutgläubig ist und weil er nie jemandem geschadet hat, außer sich selbst.
In diesem Buch beschreibt der Hamburger Sportjournalist Bastian Henrichs den Menschen Ansgar Brinkmann in all seinen Facetten, erzählt Geschichten und Anekdoten aus dem Leben des einstigen Profifußballers, der immer seinen eigenen Weg gegangen ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberDelius Klasing
Erscheinungsdatum21. Dez. 2011
ISBN9783768883276
Ansgar Brinkmann: Der weiße Brasilianer

Ähnlich wie Ansgar Brinkmann

Ähnliche E-Books

Sport & Freizeit für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ansgar Brinkmann

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ansgar Brinkmann - Bastian Henrichs

    UmschlagVerlagslogo

    DER WEISSE BRASILIANER

    ANSGAR

    BRINKMANN

    AUFGEZEICHNET VON BASTIAN HENRICHS

    Delius Klasing Verlag

    Für die Fans,

    die mich immer unterstützt haben!

    1. Auflage

    © by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

    Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

    ISBN 978-3-7688-3264-9 (Print)

    ISBN 978-3-7688-8132-6 (E-Book)

    ISBN 978-3-7688-8327-6 (E-Pub)

    Lektorat: Klaus Bartelt, Ute Maack

    Schutzumschlaggestaltung: Jörg Weusthoff/Hamburg unter

    Verwendung dreier Fotos von Axel Struwe, Bielefeld

    Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

    des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

    nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

    www.delius-klasing.de

    Inhalt

    Vorwort von Reiner Calmund

    Überall. Zu jeder Zeit – Wie alles begann

    Thunfisch aus der Dose

    »Ihr könnt hier auf mich warten«

    Wechselspiele

    Der letzte Rebell – Ein Porträt von Reinhard Rehberg

    Ich werde auch nass, wenn es regnet

    Oberkörper frei

    Clowns und Kriminelle – Wo das ganze Geld landete

    Mut zum Träumen, Kraft zum Kämpfen

    Der beste Coach

    Weggefährten über den »Nichtdisziplinierbaren«

    30 Vorlagen

    Die Ansgar-Brinkmann-Traumelf

    Vereins- und Torstatistik

    »Ich habe 316 Zweitligaspiele und 59 Bundesligaspiele gemacht. Ich weiß, dass mehr drin gewesen wäre, so sagen es zumindest viele Experten. Aber das beschäftigt mich nicht. Ich bin ein Mensch, der sich das Schöne bewahrt. Der Weg, den ich gegangen bin, war nicht immer richtig. Aber das war ich.«

    Ansgar Brinkmann

    »Ansgar war ein total begnadeter Fußballer mit hervorragender Technik. Er hatte unglaublich viele Tricks drauf und war neben dem Platz ein Typ, der immer zu einem Spaß bereit war und mit dem man viel lachen konnte. Deshalb ist der Spitzname ›weißer Brasilianer‹ absolut berechtigt. Er wurde schon lange vor mir so getauft. Mich nannte man erst nach dem WM-Endspiel 2002 gegen Brasilien so; alle sagten, ich wäre der Einzige auf dem Platz gewesen, der gespielt hätte wie ein Brasilianer. Ich habe aber gleich angemerkt, dass mein Kumpel Ansgar Brinkmann schon der ›weiße Brasilianer‹ ist. Wir hatten technisch ähnliche Voraussetzungen und ähnlich viele Sachen drauf, trotzdem möchte ich mich mit ihm gar nicht vergleichen. Mein Spitzname ist ›Schnix‹, Ansgar ist der ›weiße Brasilianer‹.

    Bernd Schneider

    Vorwort

    von Reiner Calmund

    Es war mein Geburtstag, der 23. November 2002. Der Spielplan sah vor, dass Bayer Leverkusen bei Arminia Bielefeld anzutreten hatte. Kein Wunschgegner, schon gar nicht im November, der in Ostwestfalen noch einen Tick grauer, trüber und nebliger ist als anderswo.

    Wir schlugen uns mehr schlecht als recht, und die Partie endete 2:2. Ich ärgerte mich nur deshalb nicht, weil ich keine Zeit dazu hatte. Ich musste direkt nach Spielschluss nach Barcelona fliegen, um mit Trainer Klaus Toppmöller unseren nächsten Champions-League-Gegner, den FC Barcelona, zu beobachten. Von Bielefeld nach Barca, es konnte gar nicht schnell genug gehen. Doch auch bei diesem Klassiker – CF Barcelona gegen Real Madrid – am späten Abend nahm keiner Rücksicht auf meinen Geburtstag; es gab nur ein hart umkämpftes mageres 0:0.

    Im Flieger nach Hause unterhielten wir uns dann noch einmal über die 90 Minuten auf der Alm. Und ich hatte die Zornesfalte auf der Stirn. Mich hatte der blonde Rechtsaußen der Arminia dermaßen aufgeregt, dass ich mich fast nicht mehr einkriegte. »Dem klebt der Ball wie Pattex am Fuß, der hält den Arsch raus, dreht drei Kringel und kann frei flanken. Oder er lässt sich fallen, der Fandel pfeift, und unsere Mickymäuse in der Abwehr gucken dumm aus der Wäsche – das geht gar nicht«, schimpfte ich. Und weiter: »Jedes Mal der gleiche Trick, der gleiche Hinfaller, die gefährlichen Flanken, und dann kommt der lange Reinhardt beim Freistoß von hinten angelaufen, und bei uns brennt’s lichterloh im Strafraum.« Vorwurfsvoll schaute ich Klaus Toppmöller an: »Da musst du den Jungs doch sagen, die sollen den Salontänzer mal richtig rasieren.«

    Ansgar Brinkmann hatte mir den Geburtstag vermiest. Dabei kannte ich den Jungen persönlich überhaupt nicht. Was ich über ihn gehört hatte, charakterisierte ihn als lockeren, lustigen Vogel, als »Enfant terrible«, als einen Straßenfußballer, der unheimlich viel konnte, aber viel zu wenig aus seinen Fähigkeiten machte.

    Unser Nationalspieler Bernd Schneider hatte schon vor der Partie vor Ansgar gewarnt: »Ein netter Kerl. Ein Top-Techniker, mit allen Wassern gewaschen und dreimal chemisch gereinigt.« Die beiden hatten gemeinsam für die Frankfurter Eintracht am rechten Flügel gespielt, sich dort ausgezeichnet verstanden – menschlich und fußballerisch.

    Den Menschen Ansgar Brinkmann lernte ich erst viel später kennen. Die Umstände waren wenig schön, doch der Junge, der sich mir da präsentierte, war aufrichtig, geradeaus und sensibel. Ich kannte seine problematische Vergangenheit und war mir sicher, dass er mit den richtigen Beratern an seiner Seite das Zeug zum Nationalspieler gehabt hätte. Selbst Berti Vogts, immer streng und kritisch, war von Ansgars sportlichem Talent mehr als überzeugt. Heute kenne ich Ansgar als jungen Mann, der aus seinen Fehlern gelernt hat und trotzdem zu allem steht, was ihm in den 20 Profijahren passiert ist.

    Der Fußball hat ihm viel gegeben, jetzt will er dem Fußball einiges zurückgeben und diesem Sport verbunden bleiben. »Fußball ist mein Leben, und in dem Bereich werde ich auch was machen«, sagte er mir voller Überzeugung nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn. »Egal ob als Trainer, Scout oder Platzwart!« Die Trainer-A-Lizenz hat Ansgar bereits mit Bravour gemacht.

    Ich wünsche ihm alles Gute auf seinem Weg und bin sicher, dass die Platzwarte durch ihn keine Konkurrenz bekommen werden.

    Reiner Calmund

    Überall. Zu jeder Zeit –

    Wie alles begann

    Der Bollerwagen, in dem ich sitze, ist Teil eines vom Kindergarten organisierten Umzuges. Eigentlich will ich dabei gar nicht mitmachen, lieber würde ich Fußball spielen. Nun verpasse ich das Training. In den Händen halte ich ein Schild: »Helmut, ich komme«, steht darauf. Gemeint ist der Bundestrainer Helmut Schön. Es ist der Sommer 1974, der Sommer der ersten Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt bin ich fünf Jahre alt. Ich wusste schon früh, was ich wollte.

    Die Weltmeisterschaft wurde zu einem großen Event in unserem Wohnzimmer. Mal kamen Nachbarn und Freunde vorbei, die keinen eigenen Fernseher besaßen und sich an unserem Schwarz-Weiß-Gerät erfreuten, mal saß ich nur mit meinen Eltern und meinen sechs älteren Geschwistern vor der Glotze und verfolgte die Spiele. Das Wohnzimmer war jedenfalls ständig voll. Zu den Deutschlandspielen gab es immer das Gleiche zu essen. Wenn ich sah, dass Currywurst mit Pommes auf den Tisch kam, stieg meine Aufregung. Und umgekehrt, wenn ich wusste, es stand ein Spiel an, konnte ich mich schon auf das Essen freuen. Ich habe die WM, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, extrem gut in Erinnerung. Weil sie über viele Wochen hinweg wie ein Fest gefeiert wurde. Und weil mein Vater ein Riesenfußballfan war, der jedes Tor so laut bejubelte, dass es die ganze Straße mitbekam.

    Mein Vater interessierte sich aber auch für andere Sportarten, und seine Begeisterung hat er an mich weitergegeben. Neben der Fußball-WM gab es 1974 noch ein zweites Sportereignis, eines, das die Weltmeisterschaft, was die weltweite Aufmerksamkeit betraf, sogar noch überstrahlte: der »Rumble in the Jungle«. Muhammad Ali gegen George Foreman. Mein Vater redete tagelang von nichts anderem, und er versprach mir, dass er mich wecken würde. Dass er das auch tatsächlich tat, werde ich ihm nie vergessen. Wochenlang sprach ich mit meinen Freunden über diesen Kampf; ich war der Einzige, der ihn live gesehen hatte. Bis heute hält meine Faszination für Ali an. Ich schaue alle Filme über ihn, habe Bücher über ihn gelesen und seine Geschichte verfolgt. Der Mann ist atemberaubend. Ali ist auf diese Welt gekommen, und der liebe Gott hat gesagt: »Du musst boxen.« Der sollte nichts anderes machen. Alles entwickelt sich weiter, die Leute springen weiter und höher, laufen immer schneller. Aber wenn man sieht, wie Ali damals geboxt hat – das ist nicht steigerungsfähig. Da können alle heutigen Weltmeister einpacken. Passion, Mut, der schmale Grat zwischen Selbstvertrauen und Überheblichkeit – das hat mich damals an ihm fasziniert, und das fasziniert mich heute noch. Ali hat ständig Sprüche gekloppt, aber es steckte etwas dahinter, und ich halte ihn sogar für äußerst intelligent. Politisch war es keine einfache Zeit für einen schwarzen Amerikaner – und der Typ hat einfach seine Meinung kundgetan und sich allem widersetzt, was er nicht für richtig hielt. Ali war seiner Zeit voraus, ein Freigeist und eine einzigartige Persönlichkeit, mit der sich niemand vergleichen sollte. Er hat mir gezeigt, was der Sport aus einem Menschen machen kann, welchen Einfluss man haben kann, wie populär und erfolgreich man als Sportler werden kann.

    Ich war ein eher zurückhaltendes, introvertiertes Kind. Nur wenn es um Sport ging, lief ich vorneweg. Allein schon, dass einen alle mögen und respektieren, dass man als Erster gewählt wird, nur weil man gut Fußball spielen kann – ist doch klar, dass einem das gefällt. Beim Fußball wusste ich schon früh: Da kann mir keiner was.

    Diese beiden Fernsehevents 1974, die WM und den Boxkampf einige Monate später, feierten wir als Familie. Wir jubelten gemeinsam und sprachen mehr miteinander als sonst. Das habe ich sehr genossen, denn der Alltag sah anders aus.

    Unser Haus war recht groß, ein Einfamilienhaus in einem ruhigen Wohngebiet in Bakum, einem Ort im Landkreis Vechta nahe Osnabrück. Ein eigenes Zimmer hatte ich als jüngster Sohn und Nachzügler trotzdem nicht. Ich schlief bei meinen Eltern, am Fußende ihres Bettes, bis ich elf Jahre alt war und zwei meiner Geschwister auszogen. In meiner Welt gab es nicht viel mehr als die Straßenzüge um unser Haus, den Fußballverein und den Bolzplatz. Andere Kinder fuhren in den Urlaub nach Italien und nach Spanien; ich durfte höchstens mal zur Kur nach Wangerooge. Und auch das nur, weil ich schweres Asthma hatte. Ich bekam nachts regelmäßig Hustenanfälle, die mehrere Stunden anhielten. Die Schwestern in dem Erholungsheim mussten mich dann betreuen, weil ich völlig erschöpft war.

    Tagsüber, wenn ich Fußball spielte oder draußen rumlief, war mir nichts anzumerken. Aber sobald ich zur Ruhe kam, ging es los. Husten bis zur Atemnot. Das war brutal. Ich bekam Spray und Medikamente, die ich aber nicht immer einnahm. Als kleiner Junge machte ich mir keine Gedanken, ich glaubte auch nicht daran, dass mir die Medizin helfen würde. In der Schule war ich häufig total übermüdet, weil ich erst am frühen Morgen hatte einschlafen können. Ich schleppte das Asthma mit mir herum, bis ich erwachsen war. Es wurde mit der Zeit zwar schwächer, aber erst mit 18 hatte ich fast keine Probleme mehr – einer von vielen Kämpfen in meinem Leben, den ich schließlich gewann.

    Mein Vater war Schuhverkäufer, zeitweise auch sehr erfolgreich. Er besaß zwar keinen eigenen Laden, aber er fuhr mit dem Auto durch die Gegend und verkaufte die Schuhe in verschiedenen Siedlungen und nahe gelegenen Orten. Meine Mutter war an erster Stelle Mutter und Hausfrau, später musste sie in der Schlachterei arbeiten, weil mein Vater nicht genug geklebt hatte. Wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren auch nicht arm. Ich besaß Fahrräder, sogar eine Carrera-Bahn, und es kam immer genug Essen auf den Tisch. Aber am glücklichsten war ich, wenn ich draußen sein und Fußball spielen konnte, egal ob es regnete oder ob die Sonne schien.

    Mein Tagesablauf sah fast immer gleich aus: Ich kam von der Schule nach Hause, Mittagessen, raus auf die Straße oder zum Training. Mit vier hatten mich meine Eltern im Verein angemeldet. In der E-Jugend des Schwarz-Weiß Bakum. Eigentlich war ich noch viel zu klein, aber eine F-Jugend gab es halt nicht. Nach uns trainierten immer die Älteren, D-Jugend, C-Jugend, dann die B-Jugend, bis abends die Herrenmannschaft kam. Ich verbrachte oft den ganzen Tag auf dem Sportplatz, schaute zu, schoss die Bälle zurück und hoffte ständig, dass ich mitspielen durfte. Selbst wenn die Mannschaft die verhassten Runden um den Platz drehte, lief ich mit. Immer vorneweg. Und wenn die Letzten vom Platz runtergingen und keine Sau mehr da war, spielte ich allein, bis das Flutlicht ausging, versuchte Ecken ins Tor zu drehen, hielt den Ball hoch und schoss aufs Tor.

    Es gab Leute, die mich für äußerst sonderbar hielten, und manche habe ich sicher genervt mit meiner ewigen Fragerei, ob ich mitspielen dürfe. Aber für mich gab es kaum etwas anderes, ich wollte immer spielen. In der Schule, auf der Straße, auf dem Sportplatz oder am Garagentor mit meiner Schwester Ingrid, die es später auch in die Bundesliga geschafft hat und sogar Nationalspielerin geworden ist. Der Ball war eine Droge, und ich war süchtig. Ich fuhr mit meinen Freunden auch mal mit dem Fahrrad durch die Gegend oder spielte Räuber und Gendarm, aber wir hatten meistens einen Ball dabei. Das war damals einfach so. Ich spielte überall. Und zu jeder Zeit.

    Heute treffen sich die Kinder ja kaum noch auf der Straße, weil es in jedem Haushalt drei Fernseher gibt und die Kids mit fünf schon ihren eigenen haben. Oder sie spielen den ganzen Tag mit Konsolen und surfen im Internet. Man kann den Kindern gar keinen Vorwurf machen. Aber wir hatten so etwas damals eben nicht. Genauso wenig wie Trikots von Spielern, die wir verehrten. Die gab es nicht, und darauf legten wir auch keinen Wert. Geputzte Schuhe und ein sauberes T-Shirt? Völlig egal. Ich war froh, wenn ich mal etwas von Adidas oder Puma besaß, aber ich hätte auch barfuß gespielt.

    Zehn, fünfzehn Kinder kamen immer zusammen. Hans-Jürgen Luxoll war dabei, die Brüder Dieter und Siegfried Bense, der »Flitzer« Manfred Kalkhoff, Torsten Renze, Thomas Kemper und ein paar andere mehr. In den Ferien trafen wir uns oft schon um neun Uhr morgens auf dem Bolzplatz. Am Anfang standen da nur Holztore, dann irgendwann ein Gestänge und schließlich sogar ein richtiges Tor mit Netz, das wir selbst wieder zusammenknüpften, wenn es mal kaputt war. So ein Netz fanden wir natürlich geil, schon allein des Geräusches wegen, das es gab, wenn der Ball ins Tor zischte.

    Wenn keiner da war, mit dem ich spielen konnte, kam ich manchmal auf abstruse Ideen. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal neun Runden um die Siedlung gelaufen bin mit dem Ball am Fuß. Die Nachbarn machten sich schon Sorgen, dass ich irgendwann umkippe, weil es an dem Tag so heiß war. Das störte mich aber nicht, ich dribbelte immer wieder die gleiche Strecke, die gleichen Straßen, rauf und runter. Zwei Stunden lang, völlig ohne Sinn, wie ein Irrer. Und auf den 350 Metern zum Sportplatz versuchte ich immer den Ball hochzuhalten. Ich wollte es schaffen, dass er auf dem Weg von meiner Haustür bis zum Sportplatz nicht den Boden berührte. Irgendwann – ich habe das sicher einige Hundert Mal probiert – gelang es mir. Und dann wieder und wieder. Immer mit rechts, nie abwechselnd. Minutenlang.

    Im Verein wurde schnell klar, dass ich besser war als andere in meinem Alter. Ich war nicht groß, aber kompakt und athletisch, und ich konnte viel geschickter mit dem Ball umgehen. Außerdem war ich sehr schnell. Deswegen habe ich eine Zeit lang auch recht erfolgreich Leichtathletik gemacht. Als ich neun oder zehn war, wurde ich sogar Niedersachsenmeister. Aber ich ging nicht gern zum Training. Mit fehlte der Ball. Irgendwann habe ich nur noch die Wettkämpfe bestritten. Ich saß im Startblock, der Schuss fiel, ich lief los, wurde Erster, und dann haute ich wieder ab. Ich kannte es nicht, Zweiter zu werden.

    Beim Fußball war es ähnlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir von der E-Jugend bis zur C-Jugend jemals verloren haben. Ich spielte auf allen Positionen, meist vorn und meist da, wo ich spielen wollte. Mit allen Freiheiten, damals schon. Wenn ich den Ball bekam, wo auch immer ich gerade herumlief, dann war ich nicht mehr zu stoppen. Als Anfänger hätte ich zwar noch zum Torwart zurückspielen dürfen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich das je gemacht hätte. Das war nicht meine Art. Wenn ich abspielte, war der Ball meist weg. Wir sind trotzdem immer Meister geworden, und ich habe oft in zwei Mannschaften mitgespielt, weil ich bei den Älteren ausgeholfen habe. In einem Jahr wurden wir D-Jugend-Meister und stiegen mit der C-Jugend in die höchste Klasse auf. Im nächsten hielten wir die Klasse locker, dann verließ ich den Verein, und die Mannschaft holte in der nächsten Spielzeit nur drei Punkte.

    Meine Trainer hatten sicher ihren Spaß an mir, andererseits machte ich es ihnen auch nicht leicht. Ich hatte schon immer Probleme mit Autoritäten, war rebellisch von klein auf und machte mir selten Gedanken über Konsequenzen. Es mag daran gelegen haben, dass ich schlechte Vorbilder hatte.

    Mein größtes Problem waren meine Brüder. Sie feierten ständig, tranken zu viel und randalierten. Martin, der Älteste, hat einiges auf dem Kerbholz. Er ist sogar in Supermärkte eingebrochen. Der Ruf meiner Brüder eilte mir voraus. Es wurde viel getuschelt im Dorf, bei den Nachbarn, auch im Verein, wo meine Brüder ebenfalls kickten. Es hieß immer: Ach, der Ansgar, der wird wie seine Brüder, der wird es zu nichts bringen, der hat auch keine Disziplin. Manchmal war es der ganz normale Neid, manchmal ging es über die Schmerzgrenze hinaus. Denn vor allem was den Fußball betrifft, war ich diszipliniert. Immerhin da. Das Gerede weckte zusätzlichen Ehrgeiz in mir. »Was willst du denn da?«, habe ich oft gehört, als ich später zu Bayer Uerdingen ging, um dort in der Jugend zu spielen. Abschätzig. Dieselben Leute grüßen mich heute und klopfen mir auf die Schulter. Das macht mich sauer, aber ich sage meistens nichts.

    Die Vorbehalte und abfälligen Urteile, die meist nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wurden, haben auch mit den vielen exzessiven Partys zu tun, die bei uns zu Hause gefeiert wurden. In der Provinz gab es damals überall Partybuden. Fast jeder Jugendliche hatte irgendeinen Raum oder Keller umgebaut. Theke rein, Musikanlage rein, ein paar Bänke oder Stühle dazu – Partybude fertig. Meistens war sie holzvertäfelt, und es hingen Poster an den Wänden. Unsere Partybude hatten wir in der Garage eingerichtet. Meine Eltern konnten sich gar nicht dagegen wehren, dass dort die Post

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1