Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling: Essay
Von Hans-Albert Walter und Herbert Wiesner
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Buchvorschau
Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling - Hans-Albert Walter
Handreichungen
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,31–40
Innsbruck, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
in fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiß bekommen,
wo ich im Elend bin.
Geheimnisvoll klingt das Wort und sehr pathetisch, mit dem der Dichter wiedergegeben hat, was in unseren Augen ganz banal ist und bar jeden Geheimnisses: Einer hat seine Stadt verlassen, ist weggewandert anderswohin. Mehr ist nicht geschehen. Der Mann hat sich darüber aber nicht zu fassen gewußt. Obwohl er hoffen durfte, neue Städte kennenzulernen, andere Gegenden, womöglich fremde Länder, hat er geklagt, daß er »im Elend« sei. Schwer begreiflich für den, der als Elend den unentrinnbaren Gang seines immer gleichen Alltags anzusehen gewohnt ist, und sei der noch so bequem gepolstert mit Freiheit, Freizeit und Geld. Ihm ist die Fremde nicht Qual. Heilung verspricht er sich von ihr, und sein Zauberwort heißt reisen, möglichst oft und möglichst weit weg. Ihm gilt als elend, wer daheim bleiben muß – welch armer Teufel, der sich nichts leisten kann.
Die Klage von Innsbruck, ich muß dich lassen ist allerdings schon sehr alt. Sie stammt aus einer Zeit, als das Wort »Elend« einen anderen, inzwischen lange vergessenen Sinn hatte. Den ursprünglichen aus noch viel früheren Zeiten.
Das althochdeutsche »elilenti«, von dem es herkommt, war nicht so verschliffen und vieldeutig wie unser heutiger Begriff. Eigneten dem Wort auch eine konkret faßbare Haupt- und eine aus ihr abgeleitete Nebenbedeutung, so meinten beide doch ein und dasselbe. »Elilenti« hieß zugleich »Verbannung« und »anderes Land« – weil man sich damals nämlich gar nicht hat vorstellen können, daß einer seine Heimat freiwillig verließ. Und da dies so ganz außerhalb allen Denkens, allen Wollens und Tuns lag, da es Gefahr für Leib und Leben bedeutete, dieses Verbanntwerden in ein anderes Land, wurde »elilenti« auch zum Synonym für »Not« und »Trübsal«: Was sonst als Not und Trübsal warteten auf den, der die Heimat verließ? Und also beklagt der von Innsbruck Scheidende, daß er gezwungen sei, ins fremde Land zu fahren: »wo ich im Elend bin«.
Verständlicher ist die Verszeile nun zwar geworden, nichtsdestoweniger noch genauso schwer nachzuvollziehen für den, den die Fremde nie geschreckt hat; der zeitlebens das Glück der Seßhaftigkeit genoß, meist nicht einmal ahnend, daß es ein Glück sei, und welch ein großes. Könnte es gleichwohl wissen. Liest täglich davon in der Zeitung und sieht schaurige Bilder im Fernsehen. Längst schon ist das Elend der politischen Verbannung auf Zeit oder der politisch erzwungenen Auswanderung auf Dauer dem Schwarzen Tod zu vergleichen, der Menschheitsgeißel des Mittelalters, längst schon ist es genauso unberechenbar und grauenvoll wie seinerzeit jene. Verblendet, wer sich für sicher hält, nur weil dieses Geschick im Augenblick andere trifft. Die Flüchtlingsströme der Gegenwart, die immer neuen Wellen von Vertreibung und Verbannung sind kaum noch zu zählen. Gut möglich, daß man unser Jahrhundert einmal das der Flüchtlinge nennen wird.
Derzeit rückt auf uns zu, was vor fast einem Menschenalter von uns aus die Grenzen anderer Länder zu überwinden, die Küsten fremder Kontinente zu erreichen suchte: menschliches Strandgut. Kein unpassender Vergleich, und schon gar kein ungehöriger. Wie der afrikanische, der nah- und der fernöstliche, der ost- und der südosteuropäische Flüchtling heute, ist der aus Hitlerdeutschland »im Elend« gewesen. Spricht man von den einen mit Achtung und Trauer, so kann man von den anderen schlechterdings nicht mit Abscheu reden. Erst recht wird dies nicht fertigbringen, wer nur ein wenig von ihrem so ähnlichen Schicksal weiß, davon, wie sie es durchlitten und ertragen, wieviel Kraft sie gebraucht haben, es zu meistern.
Obwohl Exilerfahrung vor allem Leiderfahrung ist, anfangs wird der Exilierte dieses Faktum kaum wahrnehmen. Je größer die Unterdrückung, je gefahrvoller das Leben in der Heimat war, desto freundlicher wird ihm das Land erscheinen, in das er geflohen oder ausgewandert ist. Hier kann er endlich wieder sagen, was er denkt. Niemand schreibt ihm die Gesinnung vor, niemand die Zeitung, die er lesen, den Gruß, den er entbieten muß. Der Nachbar ist bloß Nachbar, nicht auch potentieller Spitzel, und das scheue Sichern, das man in den dreißiger Jahren den »deutschen Blick« nannte, war zum Überleben nicht mehr notwendig, auch wenn man es vielleicht so schnell nicht loswurde.
Exil ist das Synonym für wiedergewonnene Freiheit, und es ist der Stolz des Exilierten, daß er die Sklavensprache nicht sprechen, daß er nicht einmal ihre Chiffren kennen muß. Von der Diktatur daheim und vom Diktator spricht er im Klartext und bedient sich nicht selten einer getragenen Sprache. Seine Feinde nennt er offen beim Namen und prangert die Verbrechen an, mit denen sie das Vaterland schänden. Nur keine Zweideutigkeiten! Sein im Lande ausharrender Freund jedoch muß zum mythologischen Bilde flüchten oder in entlegene Geschichtsbereiche, will er von der ihn bedrückenden Gegenwart sprechen. Vieldeutig muß sein Wort sein, auf alles passend und auf nichts, und dennoch werden es die verstehen, die drinnen seines Sinnes sind. Der Exilierte indes wird der glatten Stirn dieses Worts mißtrauen, ohne zunächst zu bemerken, daß er die daheim nicht mehr versteht, weil er die Sklavensprache nicht beherrscht; daß ihre Botschaften ihn nicht mehr erreichen, nicht ihre Nöte und Flüche, nicht ihre Wünsche und Träume. Dieser Graben trennt ihn von der Heimat, und er wird um so tiefer werden, je länger das Exil währt.
Den Mann oder die Frau, die gerade glücklich entkamen, schreckt das freilich noch lange nicht. Statt dessen werden sie anderes desto früher bemerken, je mehr sie zuvor auf des Lebens