Alte neue Welt
Von Richard Adler
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Über dieses E-Book
"Da wären wir. Meinst du, wir tun immer noch das Richtige?", fragte Mark.
"Ja. Wenn es die falsche Entscheidung war, war es die letzte, die ich traf." Sie ruhten sich einen Augenblick aus und sahen von der Anhöhe auf die Stadt hinab. Der Dom thronte wie immer über der Altstadt.
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Buchvorschau
Alte neue Welt - Richard Adler
Richard Adler
Alte neue Welt
Science Fiction
Impressum
Copyright © 2013 by Richard Adler
© 2013 by Th. Vollmer Verlag, Schelldorf
Covergestaltung: © UlinneDesign, Ulrike Linnenbrink, 48485 Neuenkirchen
Coverfoto: © Aaron Amat - fotolia.com
Alte neue Welt
„Kommst du heute Abend mit ins Colpa?"
Micha wandte seinen Blick vom Monitor ab und sah Tim mit schnellen Schritten auf ihn zukommen.
„Nein, ich muss noch die Geschäftsberichte lesen" antwortete Micha und widmete sich wieder dem Stapel Papier auf seinem Schreibtisch.
„Ach, lass doch diese blöden Berichte. Gehen wir feiern. Katrin wird auch da sein."
Tim wusste, dass Micha sich für Katrin interessierte. Und er sah gerne zu, wie dämlich Micha sich dabei anstellte, um ihr zu gefallen. Wenn die Jungs aus der Firma gegen Abend loszogen, konnte man sich sicher sein, dass am nächsten Morgen in der Abteilung für Wertpapierhandel ein gut gelaunter Tag anbrach, und der vorangegangene Abend für Gesprächsstoff sorgte.
„Ich habe keine Zeit. Ein anderes Mal", sagte Micha genervt und konzentrierte sich auf den Geschäftsbericht, welchen er mit einem roten Stift bearbeitete.
„Mensch Micha, was ist nur los mit dir?"
„Sei so gut und lass mich in Ruhe. Einer muss ja die Arbeit machen die wegen euch faulen Säcken liegen bleibt."
„Mich wundert es nicht, dass du keine Freunde hast. Alle wollen was mit dir unternehmen und du zeigst ihnen die kalte Schulter. Aber versauer ruhig hinter deinem Schreibtisch. Mir ist es langsam egal was aus dir wird."
„Komm, hör auf mich voll zu quatschen", warnte Micha.
„Du bist ein Arschloch", schnauzte Tim und verließ den Händlersaal.
Micha blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen, ruckte dem Kopf nach oben und riskierte einen Rundumblick. Die Schreibtische seiner Kollegen waren verweist und die Computer ausgeschaltet. Auch das gläserne Büro seines Abteilungsleiters Frank Butt war leer.
Micha sah auf seine Armbanduhr. Zwanzig Uhr. Der Freitagabend versprach nichts Aufregenderes als beim letzten Freitag. Warum also sich langweilen und in einer Kneipe herumschleichen, wo man am Ende als Idiot dastand? Katrin hatte er schon gerne um sich, aber nicht unter diesen Umständen. Er wollte alleine mit ihr sein, etwas mit ihr unternehmen und ein ruhiges Gespräch führen. Langsam näherkommen war seine Masche. Nicht wie die Draufgänger aus den verschiedenen Abteilungen der Investmentbank Marcks. Sie soffen und schleppten die Frauen reihenweise ab. Er selber konnte das nicht. Frauen machten ihn nervös. Er konzentrierte sich lieber ganz auf seine Arbeit. Und finanziell lohnte es sich. Micha bekam seit seiner Ausbildungszeit einen größeren Bonus als jeder andere seines Jahrganges. Aber in den Clubs von Frankfurt zählte das nicht. Einen BMW fuhren auch Leute wie Tim. Und den Frauen Drinks spendieren waren ihre leichteste Übung. Wie sollte er sein Handicap wettmachen? Jede Frau seine Kontoauszüge vorzeigen, damit sie sahen wie gut er seinen Job verstand?
Katrin war eine zwanzigjährige Frau, fünf Jahre jünger als Micha und alles andere als schüchtern. Sie wollte Spaß und keinen Langweiler. Schon öfters versuchte er eine Unterhaltung mit ihr zu führen. Dabei fiel jedem auf, dass ihr Micha gefiel. Immer berührte sie seine muskulöse Arme. Sie stand auf seine sportliche Figur und seinen gestylten blonden Haare. Aber schon nach wenigen Minuten sah sie gelangweilt aus und hielt nach einer rettenden Freundin Ausschau, die sie aus dem monotonen Gespräch befreite. Micha fehlten regelmäßig die Wörter. Er stammelte nur einzelne Brocken, so dass ihr Wunsch, das Weite zu suchen, schon bald größer war als die eines Flirts.
„Was machst du noch hier?", fragte eine tiefe männliche Stimme hinter seinem Rücken.
Micha drehte sich um und sah Frank Butt.
„Gehst du eigentlich nie nach Hause? Du bist der Erste der kommt und der Letzte der geht", stellte der Mitte dreißigjährige Mann nüchtern fest.
„Und wenn schon. Es ist verdammt nochmal traurig, dass sich keiner mit unserer Situation beschäftigt", sagte Micha und sah wie Butt sich mit dem Hintern auf seinem Schreibtisch setzte.
„Vielleicht ist den Leute die Situation nicht bewusst. Oder sie sehen keinen Sinn mehr, sich der Firma zu opfern."
Butt zeigte sein typischen nachdenklichen Gesichtsausdruck, dass er immer auflegte, wenn er etwas von Bedeutung sagte. Diese Szenen faszinierten Micha schon immer. Er witterte eine wichtige Information, die Butt ihm öfters zuschanzte.
„Was meinst du damit?"
„Dass die Situation mehr als brenzlig ist."
„Gehen wir unter?", fragte Micha besorgt.
„Was hältst du momentan von der Fischer Aktie?", fragte Butt und schob seinen ehemaligen Schützling einen Stapel lose Papierblätter zu.
„Gehen wir unter?", wiederholte Micha die Frage.
„Vor einigen Monaten dachte ich noch, an den Märkten gebe es ein kurzes Intermezzo. Das es nach einer kurzen kontrollierten Abwärtsbewegung wieder aufwärts geht. Aber diesmal ist es anders."
„Nun sag es schon, gehen wir unter?", schrie Micha so laut, dass die Putzfrau, die mit ihren Mob den Flur entlang schlenderte, ihm hören konnte. Butt sah ihn ernst an und erhob sich von dem Schreibtisch.
„Du stellst die falsche Frage."
„Und welche ist die Richtige?"
„Wer wird nicht untergehen?"
Butt lächelte geheimnisvoll und ging zur Fahrstuhltür.
„Sieh dir die Daten von der Fischer Aktie einmal genauer an. Und amüsieren dich mal. Am besten mit dieser Katrin", rief er aus dem Fahrstuhl, als die Tür sich schloss.
Micha war wieder alleine. Es war ihm zwar peinlich, dass alle sich mit dem Thema Katrin auskannten und ihm damit aufzogen, aber diesmal ignorierte er diese Anspielung. Er drehte sich im Bürostuhl von links nach rechts und von rechts nach links. Er dachte an das nach, was Butt sagte. Viele Staaten waren pleite. Die Kurse an den Börsen fielen von Woche zu Woche. Jederzeit konnte ein gewaltiger Sturm ausbrechen und die Welt in Panik versetzen. Und wenn sogar Butt so ein düsteres Bild zeichnete und den Glauben an die Firma verlor, wer sollte dann den Karren aus den Dreck ziehen?
Als Micha in der Investmentbank Marcks anfing, war Butt noch kein Abteilungsleiter. Er erledigte seinen Job vom Händlertisch aus, so wie Micha heute. Micha war damals Neuling. Keiner interessierte sich für die Anfänger. Sie wurden in ihrer monatelangen Ausbildung wie Dreck behandelt. Keiner der Profis nahm sie ernst und man ließ sie es auch spüren. Doch Micha hatte Glück. Butt unterstützte ihn. Butt wurde sein Idol. Er rief Micha übers firmeninterne Telefon an, flüsterte kurz was in den Hörer und legte auf. Es dauerte sechs Monate bis Micha einigermaßen verstand, was er ihm immer zu sagen pflegte. Micha besaß nur wenige Kunden, und diese hatten auch nicht viel Geld für Investitionen übrig. Aber durch Butts Tipps, die Micha nach und nach entschlüsselte, sorgte er schnell für den nötigen Erfolg, um von den großen Bossen bemerkt zu werden. Er lernte schnell und der Profit der Firma stieg. Rasch bekam er bedeutendere Kunden und überließ die kleinen Fische den anderen Neulingen seines Ausbildungsjahrgangs.
Die Börsen verhielten sich die Tage zurückhaltend und die Händler von Marcks saßen gelangweilt vor ihren Schreibtischen. Dutzende im Saal hängende Fernseher, zeigten pausenlos die neusten Nachrichten. Micha saß an seinem Schreibtisch. Drei Monitore zeigten ihm die wichtigsten Börsenkurse der Welt. Gelangweilt kaute er auf seinem exquisiten goldenen Kugelschreiber herum, den er als Auszeichnung für den höchsten Monatsumsatz bei Neukunden vom Vorstand geschenkt bekam.
„Vielleicht sollten wir was Trinken gehen. Was meinst du?", fragte Tim, der links neben ihm an seinen Schreibtisch saß.
„Du solltest lieber hier bleiben", sagte Micha.
„Warum? Es ist nichts los."
„Es ist eine Menge los. Sie dir die Nachrichten an", sagte Micha und deutete auf den nächsten Fernseher.
„Ach, im Nahen Osten ist immer Bombenwetter", scherzte Tim, als er den Bericht über den Krieg in Syrien sah und erntete ein applaudierendes Gelächter von den Kollegen. Micha schüttelte den Kopf über diese Sorglosigkeit, widmete sich einen Stapel von Berichten und lies die anderen links liegen.
Am nächsten Tag war es soweit. Früh am Morgen ging man noch seinen normalen Geschäften nach. Mittags kam dann der Handel zum Erliegen. Anschließend stürzten die Aktienkurse in den Keller. Sie fielen so, wie sie niemals zuvor in der Geschichte fielen, beruhigten sich einen Moment und rutschten dann noch ein wenig tiefer. Micha flitzte zwischen seinem Platz und der Anleihenabteilung in der oberen Etage hin und her. Der Crash am Aktienmarkt hatte eine riesige Umverteilung von Vermögen zur Folge, und die beiden Abteilungen reagierten vollkommen unterschiedlich darauf. Irgendein Glückspilz in der Aktienabteilung hatte Aktien leerverkauft und einen Reingewinn von zwanzig Millionen Euro eingestrichen. Sein Freudenrausch war einzigartig. Die restlichen Leute der Aktienabteilung wurden zwischen Verzweiflung und Verwirrung hin und hergerissen. Hilflos sahen sie zu, wie ihr geliebter Markt starb. Micha rannte zwischen den Händlertischen hindurch. Ein hektisches Treiben brach aus. Er schlug Haken, wich entgegenkommenden Händler aus und erreichte ausgepumpt Butts Büro.
„Stell mir keine blöden Fragen", forderte Butt ihm auf, als Micha die Tür krachend hinter sich zuwarf.
„Alles gerät außer Kontrolle. Alle nennenswerten Aktienindizes stürzen ab. Das nimmt historische Ausmaße an. Wir erleiden Riesenverluste. Eine amerikanische und zwei europäische Großbanken stehen kurz vor dem Kollaps", fing Micha fassungslos an.
„Die Zentralbanken werden helfen. Sie werden die Geldschleusen öffnen und den Markt mit billigen Krediten überfluten", prophezeite Butt seelenruhig.
„Das haben sie schon die letzten Jahre getan. Diese Maßnahmen zeigen doch keine Wirkung mehr. Sehe dir doch mal die Nachrichten an."
„Die Medien bauschen alles viel zu hoch auf. Das verkauft sich halt besser. Das ist alles viel Lärm um Nichts", versuchte er Micha zu beruhigen.
„Wir stehen kurz vor dem Bankrott."
Das konnte Micha natürlich nicht wissen, aber er hatte so eine Ahnung und wollte Butts Reaktion sehen. Gelassen sah Butt ihn mit ausdrucksloser Miene an.
„Besser du kümmerst dich um deine Kunden", empfahl er seinem ehemaligen Schützling und zeigte aus seinem gläsernen Büro auf die restlichen Händler, die allesamt hektisch mit den Telefonen hantierten.
Micha verließ verärgert das Büro. Im Händlerraum, der mit Händlern überfüllt war, brach Chaos aus. Telefone klingelten. Die Leute sprachen oder schrien in die Hörer, andere flehten und baten um Gelassenheit bei ihren Kunden.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße, schrie ein Händler der massive Probleme mit seinen Kunden hatten.
„Die Aktie überreagiert grade. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben."
„Sagen sie ihren Bossen, sie sollen die Füße stillhalten. Die Aktie erholt sich wieder."
„Das ist nichts als Panikmache. Machen sie jetzt nicht den Fehler indem sie verkaufen."
„Ihre Angst verstehe ich, aber sie dürfen sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen."
Micha hörte die Beschwichtigungen seiner Kollegen, und als er seinen Schreibtisch erreichte nahm er den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer seines wichtigsten Kunden. Er wusste was auf ihn zukam. Und er hasste es lügen zu müssen.
„Das ist wahrscheinlich erst der Anfang einer tiefgreifenden Bankenkorrektur. Das ganze System könnte uns um die Ohren fliegen. Wie kommt es, dass sie dieses Mal so danebenliegen? Es geht nur noch abwärts. Die von ihnen empfohlenen Wertpapiere kollabieren in diesem Augenblick. Also erzählen sie mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Holen sie mich gefälligst da wieder heraus", schrie der Banker einer französischen Großbank in den Hörer.
Micha beschwor mehrmals die Übertreibung des Marktes. Aber es half nichts mehr. Die Panik regierte. Fassungslos hängte er den Hörer auf und sah sich um. Sein Telefon klingelte. Seine Kunden versuchten ihn verzweifelnd zu erreichen. Sein Blick blieb am Gläsernen Büro haften. Butt lächelte zu Micha herüber. Nach drei Jahren Aktienhandel konnte Butt ein Stimmungstief ohne Mühe aushalten. Fast in dem Moment, wo sich seine Laune verdüsterte, hatte er seinen Seelenschmerz auch schon wieder vergessen. Denn inmitten der schlimmsten Phase verkaufte und kaufte er Aktienpakete im Wert von hundert Millionen Euro. Fast sein ganzes Denken drehte sich darum, den nächsten Deal abzuschließen. Er war wie ein Junkie, ewig auf der Suche nach dem nächsten Schuss. In diesem Moment wurde Micha klar was Butt getan hatte. Er spekulierte auf eigener Rechnung. Selbst heute kannte die Gier kein Halten mehr.
Als Micha merkte was Butt tat, sprang auch er auf den Zug auf und spekulierte von seinem eigenen Vermögen mit der Aktie die Butt die Tage auf seinem Tisch warf. Sie war mittlerweile so billig wie nie zuvor. Und als es die Runde machte, taten es ihnen die meisten Händler gleich. Alle dachten nur noch an sich selbst. Das Geld der Kunden war schon zum größten Teil verloren, und neues stellten die Investoren nicht zur Verfügung. Also kümmerte es in diesem Saal keinen mehr. Die Händler vom Marcks beschäftigten sich nur noch mit ihrer eigenen finanziellen Rettung.
Am Ende des Tages kam Butt zu Micha und setzte sich wie gewohnt auf dem Schreibtisch.
„Was hältst du davon?", fragte er.
Micha sah zu ihm hoch, antwortete aber nicht sofort. Er überlegte und starrte auf die große digitale Uhr, die an der Wand vor ihm hang. Butt versprühte immer Zuversicht. Solange er für die Firma kämpfte war nichts verloren, so die landläufige Meinung. Doch dieses Mal war es anders.
„Die Show ist vorbei, unsere Kunden pleite. Und wir? Weil es nicht unser Geld war, gehen wir nach Hause, als ob es ein Spiel war. Aber die Konsequenzen werden wir trotzdem spüren, ob wir es wollen oder nicht."
Wohl war, wohl war", sagte Butt, klopfte ihm amüsierend auf die Schulter und verließ den Saal. Micha blieb in seinem Bürostuhl sitzen und blickte ihn nachdenklich hinterher.
In den darauffolgenden Wochen war der Niedergang auch auf den Straßen sichtbar. Das Maß war voll. Die Verlierer dieser Wirtschaftskrise versammelten sich zu Großdemonstration, nachdem die Banken immer mehr Geld für Rettungsmaßnahmen zu Verfügung bekamen aber die Unternehmen pleitegingen. Die Arbeitslosenquoten schossen drastisch in die Höhe. Ausgehend von Italien über Frankreich bis zum Ruhrgebiet, erreichte das Chaos nun die Finanzmetropole Frankfurt. Molotowcocktail und Steine waren die Waffen der Demonstranten. Wasserwerfer und Tränengas die der Polizei. Der Börsenzusammenbruch war dabei nicht einmal das Schlimmste. Aber als ein Banker im Fernsehen die momentaner Lage als überspitz bezeichnete und das Leben als Schön beschrieb, brachte er damit das Fass zum Überlaufen.
Micha las am Frühstückstisch die Süddeutsche Zeitung, die ein pubertärer Zeitungsjunge jeden Tag in seinem Apartment zustellte. Er konnte nicht gut schlafen. Und so saß er um fünf Uhr am Küchentisch, trank Kaffee und studierte die Börsenkurse vom Vortag. Seine Stimmung war gedrückt. Sechs Mitarbeiter von Marcks wurden entlassen. Alle aus seiner Abteilung. Micha wartete jeden Tag darauf, auch seinen Schreibtisch räumen zu müssen. Was sollte er dann machen? Dass er sich mal so eine Frage stellen müsste, hätte er niemals gedacht. Investmentbanker war der Beruf, wo nicht nur das Geld zu fließen versprach, sondern der auch gefragt war.
Fünfzigtausend Demonstranten versammelten sich gestern Abend vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, und schwollen bis in die Nacht auf hundertfünfzigtausend an, entnahm er der Zeitung. Micha war wegen den täglichen Nachrichten nicht nur besorgt, er hatte Angst. Die Lage war unerträglich.
Gegen sieben Uhr verließ er sein Apartment und fuhr mit seinem silbernen BMW in die Firma. Hier bot sich das gleiche Bild wie vom Vortag. Die Leute ließen die Köpfe hängen, sprachen kaum und dachten an ihre Zukunft, an ihre Familie, den Hauskredit, den abzuzahlenden Mercedes und die Privatschulen ihrer Kinder. Sollte ihr gut organisiertes Leben mit einem Absturz enden?
„Was gibt’s neues?", fragte Micha einen der Händler beiläufig.
„Butt wurde entlassen."
Micha sank sprachlos in seinem Stuhl. Seinen Mentor? Wie konnten sie einen der besten von Marcks entlassen? Wenn er ging, wer würde ihm nachfolgen? Micha sah zum leeren gläsernen Büro.
„Wo ist er?"
„Oben beim Chef."
Micha schaltete seine drei Monitore an und sah sich die Charts von einigen Unternehmen an. Der Vormittag schleppte sich dahin, ohne das sich was spannendes ereignete. Immer wieder wandte er seinen Blick in Butts Büro. Aber er kam nicht. Butt verschwand aus dem Unternehmen wie ein Geist aus der Flasche.
Der Tag neigte sich dem Ende zu und die ersten Mitarbeiter verließen den Händlersaal. Im Gegensatz zu früher ging Micha nicht als letzter. Er sah darin keinen Sinn mehr. Marcks löste sich praktisch auf. Ein Bankrott war mehr als wahrscheinlich. Einst ein Rekrutierungslager für Spitzenbroker, nun ein Symbol der Apokalypse. Das wichtigste Ziel des Ausbildungsprogramms, sie zu drillen um Geld zu scheffeln, welches jeder Mitarbeiter absolvieren musste, erwies sich als gescheitert. Micha schaltete seine Monitore aus und steckte noch einige ungelesene Berichte ein, als der nervigste aller Arbeitskollege auf ihm zustürmte und ihn fast umrannte. Micha schüttelte ihn energisch ab, richtete seinen Anzug und strafte dem grade aus dem Ausbildungsprogramm entflohenen Mann mit einem bösen Blick.
„Ich will kaufen", sagte er außer Atem.
„Jetzt?", fragte Micha fassungslos.
„Ja. Wir sollten jetzt zuschlagen. Der Markt ist ausgebombt. So billig bekommen wir die Aktien nie wieder."
„Du musst noch eine Menge lernen. Die Aktien werden noch ein Weilchen unten bleiben."
Der junge Mann schüttelte energisch den Kopf. Er konnte nicht fassen, dass ein guter Händler wie Micha die Chance auf hohe Gewinne nicht sah. Galt er doch als ein Naturtalent bei Marcks.
„Hör auf mich. Die Hälfte deiner privaten Anteile laufen auf Kredit. Wenn du jetzt verkaufst, hast du zwar alles verloren aber keine Schulden", sagte Micha eindringlich.
Umsonst. Der junge Banker jagte zwischen den Händlertischen, als ob er von Micha davonlaufen wollte. Micha konnte grade noch sehen, dass er auf den Flur rannte, die Tür von Butts Stellvertreter aufriss, hineinsprang und sie krachend hinter sich zuwarf.
Der wird im Schuldenturm enden, dachte Micha und lief auf dem Parkplatz. Vor seinem BMW klingelte sein Telefon.
„Kamp hier!"
„Micha, hier ist Susan."
Seine Schwester klang aufgebracht. Ihre Stimme zitterte.
„Was ist los?", fragte er als Susan einen Moment schwieg.
„Hier ist die Hölle los. Sie ziehen durch die Straßen und zerschlagen alle Scheiben."
„Was?"
„Sie plündern, Micha. Hier ist die Hölle los…"
Die Verbindung brach zusammen. Micha rief sie zurück, ohne Erfolg. Er setzte sich ins Auto und schaltete das Radio an.
„Wir unterbrechen die Sendung für die Ereignisse, die sich in diesem Moment in Frankfurt und teils in andere deutschen Großstädte ereignen. Im Großraum Frankfurt eskaliert die Demonstration in nackte Gewalt. Tausende vermummte Demonstranten marschieren in Richtung Bankenviertel und zum