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Das Leben meiner Augen: Geschichten
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eBook345 Seiten4 Stunden

Das Leben meiner Augen: Geschichten

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Über dieses E-Book

Jeder erlebt Geschichten, die ihm einen besonderen Wert darstellen und deshalb nicht vergessen werden dürfen. Irgendwann setzt man sich hin und tippt die möglicherweise lange in der Erinnerung liegenden Ereignisse ein und freut sich, sie nun mit ganz anderen Augen zu sehen. Ein Buch ist eben ein Buch.
Einen Teil meiner Geschichten habe ich nun aufgeschrieben und jede einzelne soll ohne jede Besserwisserei, ohne Bevormundung anderer zu verstehen sein. Oft war es so, dass zum Zeitpunkt des Geschehens eine Auffassung entstanden war, an der lange nicht gerüttelt wurde. Was jedoch im Laufe der Zeit doch auch manchmal eintrat, ist das zu jedem Vorfall, sei er nun freudig oder schwierig, sich während des Aufschreibens oft neue, manchmal auch gegensätzliche Überzeugungen ergaben. Schon deshalb hat sich das Buch für mich gelohnt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Juni 2016
ISBN9783741218460
Das Leben meiner Augen: Geschichten
Autor

Werner Szczepanski

Ein Buch von Werner Szczepanski, geb. 1948 in Schleswig-Holstein. Nach den 'Berliner Jahren' folgte eine Zeit im Hinterland des ligurischen Meeres, die einige Bücher hervorbrachte. Jetzt im Umland von Berlin lebend, erscheint 'Morgan und Tesla' .

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    Buchvorschau

    Das Leben meiner Augen - Werner Szczepanski

    Ende

    1. Sommer 54

    Anfang

    Jeder Anfang ist das Ende einer vorausberechneten Zeit, plötzlich war Cico da. Cico wegen meines schwierigen Nachnamens, den kein Freund aussprechen konnte. Ich sehe das so: Mein Ende ist also ein anderer Anfang. Wäre es umgekehrt, würde ich in einer dieser Zeitschleife leben in der alles möglich ist. Das wäre auch nicht schlecht.

    Mit Eisblumen an den Fenstern, muss es in der kaum geheizten Gartenlaube eines hinter kleinen Tannen versteckt liegenden Grundstücks sehr kalt gewesen sein, als sich mein zukünftiger Vater meiner zukünftigen Mutter näherte. Deshalb bin ich ein Silvester- und Septemberkind, das erklärt einiges. Vielleicht lag Schnee um das Versteck und in den Adern meines Vaters floss der Chianti, woher sonst mein Drang in den Süden? Allerdings verfüge ich über keine weiteren Einzelheiten aus der verwaisten Zeit, da ich mich nicht erinnern kann.

    Ziemlich ereignislos vergingen die anschließenden ersten Jahre, deshalb einen Sprung in das vierundfünfziger. In ihm sah ich meine erste Fußballweltmeisterschaft im winzigen Fernseher eines riesigen Gasthofes, eingepfercht zwischen vielen Verrückten die schrien, als sei Krieg. In der Erinnerung sehe ich mich noch mit der Schultüte verloren in ihrer Mitte stehend. Sechs war ich gerade geworden und fühlte mich schon damals zu jung für mein Alter. Deutschland verlor dieses Spiel gegen Ungarn eindeutig acht zu drei und ich heulte, weil es mir weh tat. Aber Ahnung vom Fußball hatte ich nicht, sonst hätte ich vielleicht den Trick des alten Gauners Sepp Herberger durchschaut. Doch nahm mich die Atmosphäre des prall gefüllten Stadions und die Aussicht auf Ruhm gefangen. Mein Ehrgeiz erwachte, besser als einer dieser Fußballhelden, Fritz Walter oder Helmuth Rahn, wollte ich eines Tages sein und begann im Verein zu spielen. Holte mir gleich bei meinem ersten Spiel in eisiger Kälte durch den unfairen Tritt eines Gegners einen Hallux, den ich nicht weiter beachtete. Um jedoch beständig besser zu werden, war ich durch nichts aufzuhalten. Eine innere Stimme sagte mir: du musst trainieren, trainieren. Ich schonte mich nie, spielte an schulfreien Tagen oft bis zu acht Stunden ohne Pause, Sommers wie Winters. Besonders die harten Winter habe ich noch in Erinnerung. Ob Minus fünfzehn oder zwanzig Grad spielte keine Rolle, ich war wild, war draußen und damit frei. Manchmal gab es auch Gewitter mit mächtigen Blitzen und fürchterlichem Donner. Dann musste ich mich allerdings verstecken, denn meine Eltern meinten vor Naturkräften hätte man sich zu schützen. War die Gefahr vorbeigezogen spielten wir weiter, jedoch auf noch glatterem Boden, denn oft hatte es auch noch leicht auf das Eis geregnet. Dann waren wieder andere Tage. Ich erinnere mich an viele, an denen es nicht aufhörte aus dunklen Wolken zu schneien bis eine Höhe von einem Meter erreicht war.

    Weil sie nur selten befahren wurde, war die Straße vor unserem Haus zu meinem Sportplatz geworden. Einzig der blaue VW-Bus einer Firma, für die meine Mutter in Heimarbeit tätig war, störte alle zwei Stunden. Der Fahrer muss meine Mutter sehr gemocht haben, denn holte er die Schuhe wieder ab, lächelte er mich jedes Mal freundlich an. Durch die Abgeschiedenheit meines Winkels in der Straße konnte ich zwei Stöcke als Torpfosten für jede Mannschaft in die Ritzen der Gullydeckel stecken. War Glätte auf der Straße, war es eher Eishockey, was wir spielten, und einer meiner Gegner, Sommersprossen, rothaarig und klüger als ich, Karlheinz, der wie eine Kuh Wasser trank, rannte jede Stunde einmal in die Wohnung, um exakt einen Liter aus einem ekeligen Aluminiummessbecher in sich hineinzuschütten. Mit hochroter Birne kam er jedes Mal wieder zurück und schwitzte sich während des Spiels fast die Seele aus dem Leib. Ich spielte auch gegen mich selbst, meist dann, wenn andere schon wegen der Dunkelheit in ihren warmen Betten lagen. Mich focht das nicht an. Erst wenn sich meine Eltern an mich erinnerten und nach mir riefen, ging ich zurück in unsere kleine Zweizimmerwohnung.

    Für den Sommer aber erinnere ich mich in an gelbe Kornfelder in meiner kleinen Welt. An bunte Gärten, in denen die Schwester wie ein Kolkrabe Erdbeeren klaute und mit dieser Tat doch nur die Haarbüschen überdecken wollte, die sie anderen Mädchen herausgerissen hatte. Ich war nicht viel besser, schlug meine Gegner, wenn sie mich nicht freiwillig gewinnen lassen wollten. Doch sorgte ich bei größeren Raufereien dafür, dass meine Mannschaft gewann. Und irgendwie fühlte ich mich selbst anders als andere. Mir war die Wohnung meiner Eltern zu klein, Feuerwehrmann wollte ich nicht werden, Krieg spielen schon gar nicht. Konnte nicht ausstehen, zu tun was meine Eltern vorgaben. Mochte keine silbernen Sportwagen und keine Helden neben mir. Mädchen? Da war auch nichts, außer Hannelore F., blass und blond. Nur rechnen konnte sie wie ich.

    Der Herbst jedoch war immer die besondere Jahreszeit. Barfüßig lief ich über Stoppelfelder, um den verdammten Drachen in die Luft zu bringen. Gelang es mir mit Unterstützung eines lauen Gegenwinds endlich, hatte ich Angst er würde in die Hochspannungsleitungen abdriften, die am Rande des Feldes über Land führten. Einmal passierte es und eine übermächtige Angst, an der nassen Leine hängend durch einen Stromschlag sterben zu müssen, ist mir bis heute in Form von kleinen, bei geschlossenen Augen aus der Mitte kommenden Lichtblitzen geblieben. Ich kann mich dabei so gut konzentrieren, dass sie wie auf mich zukommende Lichtpunkte scheinen.

    Während meine Schwester in den Gärten stahl, spielte ich manchmal auch Wandtennis. Das geht so, dass man einen Ball gegen die Wand im ersten Stock wirft und sich, um ihn zu fangen, wie ein Torwart nach dem Abpraller auf den grünen Rasen hechtet. Heute wäre das nicht mehr möglich, schon nach dem ersten Wurf wären die Leute vor der Tür und würden sich über dies: wumm, wumm, beschweren.

    Hatte mich der Fußball am Abend bis an das Ende unserer Straße getrieben und schien es dunkel geworden, war der Weg weit nach Haus. Wegen der Bedenken dafür gerügt zu werden, rannte ich flott auf dem Sandweg vor den Eingängen der anderen Häuser und sprang wegen des Lusterlebnisses wie ein Hürdenläufer über ihre Steinfliesen. Einmal bog ich zu früh ab und bemerkte es erst, als ich am Tisch saß und Grünkohl essen sollte. Da wachte ich auf und verließ unter dem Gelächter unserer Nachbarn ihr Haus, schwor mir, sie nie wieder anzusehen. Damals hatte ich Durchhalten gelernt. Und bis heute will ich niemals aufgeben, ist die Chance zu gewinnen auch noch so klein.

    2. Sommer 1960

    Ein Stein

    Der Film und die Hitze hatte unsere Hirne weich gemacht. ‘Plopp!‘, machte es, Staub wirbelte auf. Direkt vor unseren Füßen blieb ein etwa faustgroßer Stein liegen. Eine Sekunde zuvor hatte ich aus verkniffenen Augenwinkeln den Oberkörper und Kopf eines Jungen aus dem Gebüsch auftauchen sehen. „Da ist der Kerl, rief ich und zeigte in dessen Richtung. Jetzt sah ihn auch Wolfgang. Er ballte die Faust und und schrie wild: „Mann, du Idiot, der Stein hätte uns treffen können! Wortlos zuckte der fremde Kopf kurz nach links, dann nach unten und blieb anschließend verschwunden.

    Während ich noch mit erschrockenem Gesicht überlegte, was zu tun sei, handelte Wolfgang. Er griff nach dem Stein und warf ihn, dabei ohne jede Absicht Schaden anrichten zu wollen, elegant in Richtung des Attentäters. Just, als sich der Stein auf den Weg machte, tauchte der Kopf wieder aus dem Gebüsch auf. Die Flugkurve zeigte direkt auf ihn und mit einem hässlichen Knall wurde die Schläfe getroffen. Der Junge sackte zusammen und verschwand wieder im Grün. Entsetzt sahen wir uns an. Was passiert sein könnte, ahnten wir sehr wohl, so jung waren wir auch nicht mehr. Vielleicht zwölf, dreizehn. Regungslos standen wir, keiner wusste was zu tun sei. Unvermutet öffnete sich dann das Gebüsch, der Getroffene bewegte sich heraus, er torkelte in unsere Richtung und fiel uns direkt vor die Füße. Ein letztes Aufbäumen mit widerlichem Zittern durchlief den jungen Körper. Mit dem Gesicht im weichen Kies lag er vor uns. Ich traute mich nicht an ihn heran. ‚Der ist tot‘, wusste ich. Wolfgang, ein Jahr älter und wohl auch mutiger, trat dichter heran. Sein schön beschuhter Fuß reckte sich vor, schlüpfte unter den Thorax und drehte den Jungen mit leichtem Anheben auf den Rücken. Ein unbekanntes Gesicht zeigte sich mir, an seiner Schläfer klaffte eine große Wunde, viel Blut lief heraus. ‚Du musst helfen!‘, durchzuckte mich. Nichts Besseres als unser Hausarzt fiel mir ein. Wie verrückt lief ich die zweihundert Meter bis zu seiner Praxis, stürmte vorbei an der erstaunten Helferin und durchschritt den Warteraum. „Halt!", riefen die anderen, ich kümmerte mich nicht um sie. Erst als im Untersuchungsraum eine halb entkleidete Dame aufschrie und mich der Arzt anblöckte: Hinaus!, wachte ich auf. Ohne weitere Worte verwies er mich des Raumes, und nun stand ich mit leeren Händen da.

    Verzweifelt ging ich zur Unfallstelle zurück. Wolfgang wartete zwischen vielen Polizisten mit Feuerwehr und versuchte sich irgendwie zu behaupten. Bedrängt wurde er immer wieder von der jammernden Mutter des Gefallenen. Mit der linken schüttelte sie ihn, in ihrer der rechten lag der blutige Stein. Ich nahm meinen Freund zur Seite. „Was machen wir?, fragte ich ihn, „ich kenne hier niemanden, lass uns verschwinden! Er aber war erfahrener, ruhig stand er und überlegte noch eine Weile. „Das sind schon Probleme, wand er ein, „aber du weißt, mein Vater ist Bürgermeister von Nortorf. Der boxt mich schon irgendwie heraus!

    3. September 1965

    Werner ohne Zähne

    September fünfundsechzig, ich spielte in der Landesliga und war meine ganz private Hoffnung anerkannter Stopper zu werden. Meist spielten wir Sonntagsvormittag, etwa jeden zweiten fuhren wir zu unseren Gegnern. So auch, als ein relativ unwichtiges Spiel bevorstand, und obwohl wir gemäßigt hätten spielen können, spitzt sich die Lage etwas zu, als einer meiner Freunde äußerst unfair gefoult wurde. Und wie es bei einem Derby so ist, man schaukelt sich auf, plötzlich ist echter Kampf gefragt.

    Es muss so Mitte der ersten Halbzeit gewesen sein, als ein Eckball hereinflog. Wir wehrten ihn ab, leider zu kurz, der Gegner griff erneut an. Eine Flanke fliegt herein, der Ball springt einige Male auf den Boden. Ich sprinte ihm entgegen und pralle auf den ungehobelt spielenden Stürmer der gegnerischen Mannschaft. Den unausweichlichen Zusammenprall sah ich kommen, verlangsamte trotzdem nicht und biss die Zähne zusammen.

    Dann fand ich mich auf dem Rasen wieder, ein Zahn lag neben mir, aus dem Mund blutete ich schrecklich. Bis zum Ende hielt ich durch, dann brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich zu erholen.

    Ein paar Wochen später benötigte ich einen Zahnarzt, weil ich kurz vor einer Ohnmacht stand. Ich war noch Lehrling und nahm mir trotzdem die Freiheit in der Mittagspause zu ihm zu gehen, niemand konnte ahnen wie mein Besuch ausgehen würde. Nur ein kurzes „Hmm, hörte ich als er meinen Mund hineinsah und das ziemlich lädierte Gebiss betrachtete. Ich hätte eher kommen müssen, fügte er noch hinzu. „Jetzt wird es schwierig für Sie! Er sollte Recht behalten, am Ende meiner Leidensfähigkeit machte ich mich auf den Heimweg, die Arbeit hatte ich vergessen. Fußball spielte ich in den folgenden Wochen trotzdem.

    Ein wichtiges Pokalspiel stand neunzehnhundertsiebenundsechzig vor der Tür. Ich hatte eine gute Freundin und wollte mal so richtig angeben. Ich fragte sie, Marianna willigte ein und zum ersten Mal hatte ich einen eigenen Zuschauer. Beim Stand von eins zu eins fliegt wieder einmal ein Eckball in unseren Strafraum, ihn wegzuköpfen springe ich hoch, da hechtet ein Gegner ebenfalls nach dem Ball. Mit großer Wucht trifft er mich mit seiner Stirn an meiner Schläfe. Mein Salto folgt und platt auf dem Boden liegend komme ich wieder zu mir. Kollegen tragen mich hinter das Tor, mir ist unglaublich schlecht. „Los, sagt einer, „jetzt nicht schlapp machen, wir haben keinen Reservespieler mehr, reiß dich zusammen. Ich versuche es und laufe wieder auf das Spielfeld, gelange bis zum Mittelkreis, wo nicht unbedingt mein Bereich ist, versuche herauszufinden in welche Richtung wir spielen – und kann es nicht. Mir wird noch schlechter. ‚Besser‘, denke ich, ‚ist dich fallen zu lassen. Irgendetwas wird schon passieren.‘ Im Wagen unseres Trainers komme ich wieder zu mir, meine Hände und Füße krampfen sich zusammen und kommen dem Körper immer näher.

    Unbeabsichtigt kralle ich mich irgendwo fest. „Warte, sagt jemand, „wir sind gleich im Krankenhaus.

    Tatsächlich, bald liege ich in einem schönen weißen Bett. Beruhigt hatte es mich nicht, eine Woche lang übergab ich mich, bis nichts mehr kam.

    Der Tag meiner Entlassung schien ein schöner. Ich war nach Haus gegangen, um meine Papiere für die Musterung zu holen. Dann stand ich unruhig vor der Kommission. „Sie sehen schlecht aus, sagte wieder einer. Ich erzählte von der letzten Woche, und das Unerwartete wurde wahr. „Kommen Sie noch einmal im nächsten Jahr zu uns, kranke Leute können wir in diesen Zeiten nicht gebrauchen, fügte er völlig uninteressiert hinzu. Einen schöneren Satz hatte ich vorher noch nicht gehört.

    Natürlich saß ich nicht ein Jahr herum und wartete wie das Kaninchen vor der Schlange. Eine Ausbilderposition hatte ich mir in Südafrika ergattert! Leider kam ich dort nie an. Die vermittelnde Stelle hatte übersehen, dass ich noch lang nicht volljährig war. Auch musste ich das schon zugestellte Ticket für eine Überfahrt von Genua nach Kapstadt wieder zurückgeben.

    Den Mut gab ich nicht auf. Mich wird die Kommission nicht ein zweites Mal sehen, beschloss ich. Um in der noch zur Verfügung stehenden Zeit einen sicheren Ausweg zu finden, denn töten wollte ich unter keinen Umständen lernen, wählte ich die zunächst einfachste Möglichkeit und ging wenig später nach Berlin.

    4. Juli 1966/67

    Fire for my cigarette

    Rudston in Yorkshire war schon ein halbes Jahr entfernt und immer noch redeten wir im Verein von den Wochen, die wir in diesem winzigen Dorf verbrachten. Unser Trainer war dort nach dem Ende des Krieges in Gefangenschaft gewesen, hatte die Zeit genutzt, um eine der Schönen kennenzulernen, sie zu heiraten und anschließend mit nach Deutschland zu nehmen. ‚Wer will schon in diesem popeligen Minidorf leben?‘, wird er sich gesagt haben. Die verwandtschaftlichen Verbindungen blieben jedoch bestehen, jedes Jahr verbrachten sie dort ihren Urlaub. Irgendwann wird der Gedanke entstanden sein die Fußball-WM zu einem weiteren Besuch zu nutzen und zwar gleich mit dem ganzen Verein, Olympia Neumünster!

    Wildes Geheul brach aus, als er diesen Vorschlag unterbreitete. Wir alle wären lieber heute als morgen dorthin gefahren, aber die WM fügte sich nicht unseren Wünschen und begann erst einige Monate später. Ich ging noch einen Schritt über das Geheul hinaus und dachte: Bevor ich alt werde, muss ich unbedingt dort hin.

    Als fünfzig Leute am achten Juli sixty-six in seinem Rudston eintrafen, hatte sich das gesamte Dorf auf die Socken gemacht und uns als Vertreter einer berühmten Mannschaft sowie grandiosen Fußballnation mit spontanem Beifall begrüßt. Jeder Haushalt nahm mindestens einen Spieler auf, meine Gastgeber gleich zwei, da sie über genügend Platz auf ihrem Bauernhof verfügten. Helmut B. zog mit ein. Die anschließenden Wochen waren mit diversen Spielen der deutschen Mannschaft geplant sowie Fahrten in die Umgebung und viel Freizeit.

    Am liebsten fuhren wir jedoch mit dem Bus in diese wunderschönen Perle Bridlington hinein, um am Meer zu sitzen, Stunden auf das blaue Wasser zu starren, den Mädchen nachzusehen und einfach die erste große Reise des Lebens zu genießen. An den Tagen, an denen wir zu den Fußballspielen fuhren, mussten wir ziemlich schnell wieder ins Dorf zurück. Einmal wurde der Bus verpasst und die gesamte Gruppe hatte die zehn Kilometer zu Fuß auf uns zu nehmen. Wir waren in Eile, fürchteten schon unseren Mannschaftsbus zu versäumen, da bog mein Bauer um die Ecke und deutete auf die Heckklappe seines kleinen Lieferwagens. Wir sprangen hinein und er fuhr uns die letzten Kilometer ins Dorf.

    Als wir uns zu den restlichen Kollegen setzen wollten, forderte uns jedoch einer auf schnellstens ihren Bus zu verlassen, wir würden entsetzlich stinken. Erst jetzt fiel uns auf, im Wagen meines Bauern zwischen Stroh und den Resten einer Mahlzeit seiner Kühe gestanden zu haben. Dass der Geruch solange an uns haften würde, hätte sich aber keiner vorstellen können.

    Beckenbauers Aufstieg zur Berühmtheit erlebten wir im Anschluss beim 5:0 gegen die Schweiz in Sheffield. Seine Tore und der unglaubliche Linksschuss von Lothar Emmerich in der achtunddreißigsten Spielminute gegen Spanien von der linken Seitenlinie her, wird kein Zuschauer vergessen. Unsere daraus entstandene gute Laune hielt sich während der weiteren Busfahrten nach Birmingham, noch zweimal Sheffield, dann bis nach dem Halbfinale in Liverpool, das 2:1 für Deutschland gegen Russland ausging. Das Endspiel verfolgten wir leider auf der Fähre nach Ostende, dem Trainer war es nicht möglich gewesen Eintrittskarten zu besorgen.

    Aber bitte noch einmal zu den abendlichen Gängen von Bridlington nach Rudston zurück. Denn, blieben wir bis spät abends, wurde es so richtig schön. Wir verpassten absichtlich den letzten Bus, saßen bis zum Dunkelwerden am Strand, dieser göttlichen Erfindung, tranken, rauchten, redeten auch oft mit den Engländerinnen, denn Exoten waren wir, junge Männer von drüben, vom Kontinent!

    Einmal, ich erinnere mich noch genau, lernten wir zwei Mädchen aus Wrexham, Wales, kennen, weil das Lied der ‘Troggs: Wild thing‘ nicht nur von uns auf einer Musikbox gewählt wurde, sondern auch von ihnen.

    Wieder einmal war es dunkel und wir hatten etwa die halbe Strecke nach Rudston zurückgelegt, als uns wilde Geräusche eines Autos erreichten, das irgendwo auf einer Wiese zu stehen schien. Dann entdeckten wir neben der Straße einen zerrissenen Stacheldraht durch den der Wagen gefahren sein musste, und fanden ihn festgefahren im Schlamm, mitten auf freiem Feld, eingekeilt zwischen schlafenden Kühen. Der Fahrer war stark angetrunken und versuchte sich zu befreien. Es gelang ihm nicht, als er uns bemerkte bat er: „Please, help me." Also packten wir an und schoben seinen kleinen, feinen, englischen Sportwagen zurück an die Straße.

    Ein Jahr später.

    Nach unserer Rückkehr sprachen Peter und ich im Kreise unserer Freunde oft über England, das erweckte in ihnen den Wunsch ebenfalls dorthin zu wollen. Irgendwann hatten sie uns überzeugt und, um die Reise zu ermöglichen, kauften wir fünf den Kombi eines Gesellen, reparierten ihn auch hier und da.

    Endlich waren die letzten Absprachen getroffen, Koffer und Zelte gut verstaut, die Karten im Handschuhfach. Geld klimperte in den Taschen und vollgetankt war der Wagen auch. Du meine Güte, dachten wir, da deuten sich wunderbare Wochen an, los geht’s. Über Hamburg und Rotterdam fuhren wir auf eine Fähre. Dann erwartete uns Dieters Schwester in Slough, nahe London. Am späten Nachmittag trafen wir ein, aßen eine Kleinigkeit und Punkt zwanzig Uhr waren wir in der einzigen Disco des Ortes. Peter, der noch nie geraucht hatte, wandte sich gleich an das erste Mädchen: „Please, can I have fire for my cigarette?", sagte er, und wir alle lachten.

    Nach dieser einen Sekunde waren nicht mehr nur Mädchen zu sehen. Wie einem geheimen Zeichen folgend stürmten ihre Freunde, die wir vorher gar nicht gesehen hatten, aus allen Ecken. Dann ging’s los. Horst bekam den ersten Schlag, plötzlich hingen alle an mir. Unter dem Gewicht der Angreifer ging ich zu Boden, steckte noch viele Schläge und Tritte ein, deren Folgen man später gut bewundern konnte.

    Wir saßen schon im Auto, da stürmte noch einmal der Freund des ersten Mädchens aus der Disco. „Fahr los", feuerten wir Jürgen an, der als einziger den Führerschein besaß. Aber Jürgen muss mit seinen Gedanken irgendwo anders gewesen sein, er hörte nicht. Der miese, rotzige kleine Engländer klopfte wie wild gegen die Seitenscheibe, Jürgen drehte sie herunter, wir vier stöhnten auf, und Jürgen bekam weitere Schläge an den Kopf. Was macht Jürgen? Der macht doch die Tür auf und kriegt weitere Treffer an die Birne.

    „Schlag die Tür zu!", riefen wir.

    „Geht nicht! schrie jetzt Jürgen, „der hat noch seine Hand dazwischen.

    Und wir: „Na und, du Pfeife, fahr endlich los!" Was ihn letztlich aus seinen Träumen riss, weiß er wahrscheinlich bis heute nicht, aber er tat‘s dann.

    Bevor wir jedoch bei Dieters Schwester eintrafen, leckten vier schwer getroffene Jungen ihre Wunden, ich kühlte zusätzlich ein blaues Auge. Nur Peter, der für den gesamten Ärger irgendwie verantwortlich war, pfiff still vor sich hin. „Wie siehst du denn aus, so rein und ohne Beulen?, staunten wir, „wo bist du gewesen?

    „Ich habe mich gleich in die Toilette verzogen, als der Kerl direkt auf mich zukam. Denkt ihr denn ich lasse mich wegen Nichts verprügeln?" Nun gut, dachten wir, jeder hat seinen eigenen, ganz privaten Stil.

    Vor Angst in weitere Schlägereien verwickelt zu werden, blieb Dieter in Slough. Wir restlichen vier fuhren über Wrexham/Wales, wo wir einige Tage blieben, und ich wegen meines ‘Black Eye‘ stark bewundert wurde, nach Rudston zu meinem Bauern, richteten unsere Zelte auf und fuhren jeden Abend nach Bridlington. Einmal, ich werde das nie vergessen, besuchten wir trotz der klammen Kassen ein Konzert von ‘The Who‘. Wahnsinn war das, alle tobten schon vorher im Saal herum. Der Pete Townsend, schon bei seinen ersten Griffen an die Gitarre fielen die ersten in Ohnmacht, Pete, der mit der riesigen Nase, hatte gleich die Whiskyflasche am Hals, aber er hielt bis zum Schluss durch, zum jungen, kraftvollen ‘My Generation‘, wie auch zwei Jahre später in Woodstock, ‘Happy Jack‘ folgte. Dann, und jeder hatte es erwartet, sprang er hoch, holte dabei weit aus und zertrümmerte mit vielen Schlägen seine teure Gitarre auf dem Boden. Das Publikum war nicht mehr zu halten, aber wir verließen fluchtartig den Saal, eine weitere Prügelei wollte sich keiner gönnen.

    Wieder ging es weiter, wir holten Dieter von seiner langweiligen Schwester, besuchten in London noch die Carnaby Street und zelteten abends am Ufer jenes berühmten Flusses, der Themse. „Das ist unser letzter Abend in England, wer weiß ob wir jemals zurückkommen, wollen wir nicht ein bisschen in Fluss schwimmen?", fragte ich.

    Drei stöhnten laut auf: „Um Gottes Willen, du hast wohl noch nicht genug einsteckt, meinten sie, „doch nicht in dieser Brühe! Peter und ich kümmerten sich nicht um die Warnungen, wir schwimmen auch in dunkler Nacht und überall, herrlich war es.

    Bereits nach fünf Stunden stimmte etwas nicht mit meinem Magen, aber ich kümmerte mich nicht um ihn. Als wir am nächsten Morgen starteten, musste Peter, der immer wieder rief: „Verdammt, Hagebutte für die Nutte!", weiß der Teufel woher er den Spruch hatte, schon hinten im Wagen auf den Koffern liegen, ihm ging es schlecht. Ich hielt noch irgendwie bis zur Fähre durch. In Calais angekommen, Paris beabsichtigten wir noch anzusteuern, wollten wir zwei sterben. Mein Gott, war uns schlecht und in Frankreich war es so entsetzlich heiß!

    Beim Aufbau der Zelte konnten wir nicht helfen. Wie heiß es wirklich war spürten wir, als Peter und ich am frühen Nachmittag aufwachten. Im Zelt kochte die Luft, riesig dicke Köpfe hatten wir, und die Freunde waren nicht da. Paris war ihnen wichtiger als unser Leben.

    Nachts reichten uns Nachbarn Cola, Bananen und Kohletabletten, dadurch ging es uns ein wenig besser, doch der nächste Vormittag war grausam. Trotz des schlechten Zustandes waren wir mit der Metro in die Nähe des Eiffelturmes gefahren. Dann schleppten wir uns von der Toilette einer Bar zur nächsten, bis wir ermattet auf dem Rasen des Marsfeldes lagen. Die drei anderen kümmerten sich wieder nicht um uns, sie fuhren einfach den Turm hinauf.

    Peter liegt links, ich rechts, zwischen uns steht ein bayrischer Tourist. „Seppl, bring mir ein Eis mit", ruft er seinem Kollegen zu. Ich verstand die Welt nicht mehr.

    Mit mehr als drei Kilo Untergewicht traf ich wieder in Neumünster ein, doch die Stadt hatte sich

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