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Martins Plan: Ein Westdeutscher geht nach Brandenburg
Martins Plan: Ein Westdeutscher geht nach Brandenburg
Martins Plan: Ein Westdeutscher geht nach Brandenburg
eBook490 Seiten4 Stunden

Martins Plan: Ein Westdeutscher geht nach Brandenburg

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Über dieses E-Book

Kurz nach der Wende beschließt der Westdeutsche Martin Steinland, sein berufliches Glück in Ostdeutschland zu suchen. Als Stadtplaner ist er von der Herausforderung fasziniert, am Neuaufbau des Landes mitzuwirken. Allerdings treibt ihn nicht nur der Idealismus, sondern auch die Aussicht auf eine schnelle Karriere und auf die kräftige Gehaltsaufbesserung, die allen westdeutschen Staatsdienern im Osten gewährt wird. Für diesen schnellen Reichtum erscheint ihm auch eine vorübergehende Trennung von seiner Familie gerechtfertigt.
Doch als „Besserwessi“ ist er an seiner neuen Wirkungsstätte, der Stadt „Kossenow“ in der Nähe Berlins, nicht sehr willkommen. Die Vertracktheit der örtlichen Verhältnisse, die Machenschaften hartnäckiger Gegner, aber auch seine eigene Unzulänglichkeit stehen seinen Plänen im Weg und bringen schließlich sein ganzes Leben in Gefahr.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. März 2016
ISBN9783741217135
Martins Plan: Ein Westdeutscher geht nach Brandenburg
Autor

P. W. Richter

Peter Werner Richter, geboren 1946 in Schleswig-Holstein, aufgewachsen in Südbaden, hat seine familiären Wurzeln in Rostock und Danzig. Damit wurde ihm sein besonderes Interesse am Prozess der deutschen Vereinigung gewissermaßen in die Wiege gelegt. Beruflich war er lange Zeit als Stadtplaner tätig, sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands. Daneben hat er Erfahrungen als Volkswirt, politischer Karikaturist und Journalist. Peter Richter kennt die Verhältnisse, über die er schreibt, aus eigener Erfahrung; dennoch ist sein Anliegen in diesem Erstlingswerk vordergründig kein autobiografisches. Der Autor lebt heute in einem kleinen Dorf in Brandenburg und widmet sich ganz dem Schreiben.

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    Buchvorschau

    Martins Plan - P. W. Richter

    KURZ NACH DER WENDE beschließt der Westdeutsche Martin Steinland, sein berufliches Glück in Ostdeutschland zu suchen. Als Stadtplaner ist er von der Herausforderung fasziniert, am Neuaufbau des Landes mitzuwirken. Allerdings treibt ihn nicht nur der Idealismus, sondern auch die Aussicht auf eine schnelle Karriere und auf die kräftige Gehaltsaufbesserung, die allen westdeutschen Staatsdienern im Osten gewährt wird. Für diesen schnellen Reichtum erscheint ihm auch eine vorübergehende Trennung von seiner Familie gerechtfertigt.

    Doch als „Besserwessi ist er an seiner neuen Wirkungsstätte, der Stadt „Kossenow in der Nähe Berlins, nicht sehr willkommen. Die Vertraktheit der örtlichen Verhältnisse, die Machenschaften hartnäckiger Gegner, aber auch seine eigene Unzulänglichkeit stehen seinen Plänen im Weg und bringen schließlich sein ganzes Leben in Gefahr.

    PETER WERNER RICHTER, geboren 1946 in Schleswig-Holstein, aufgewachsen in Südbaden, hat seine familiären Wurzeln in Rostock und Danzig. Damit wurde ihm sein besonderes Interesse am Prozess der deutschen Vereinigung gewissermaßen in die Wiege gelegt. Beruflich war er lange Zeit als Stadtplaner tätig, sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands. Daneben hat er Erfahrungen als Volkswirt, politischer Karikaturist und Journalist.

    Peter Richter kennt die Verhältnisse, über die er schreibt, aus eigener Erfahrung; dennoch ist sein Anliegen in diesem Erstlingswerk vordergründig kein autobiografisches.

    Der Autor lebt heute in einem kleinen Dorf in Brandenburg und widmet sich ganz dem Schreiben.

    Inhaltsverzeichnis

    Teil I

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    Teil II

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    22. Kapitel

    Teil III

    23. Kapitel

    24. Kapitel

    25. Kapitel

    26. Kapitel

    27. Kapitel

    28. Kapitel

    29. Kapitel

    30. Kapitel

    31. Kapitel

    32. Kapitel

    33. Kapitel

    34. Kapitel

    35. Kapitel

    36. Kapitel

    37. Kapitel

    38. Kapitel

    Teil IV

    39. Kapitel

    40. Kapitel

    41. Kapitel

    42. Kapitel

    43. Kapitel

    44. Kapitel

    45. Kapitel

    46. Kapitel

    47. Kapitel

    Teil V

    48. Kapitel

    49. Kapitel

    50. Kapitel

    51. Kapitel

    52. Kapitel

    53. Kapitel

    54. Kapitel

    55. Kapitel

    56. Kapitel

    57. Kapitel

    58. Kapitel

    59. Kapitel

    Historische Nachlese

    Nachwort

    TEIL I

    1.

    Draußen war es schon dunkel.

    Am lang gestreckten Esstisch saßen fünf Männer unterschiedlichen Alters, beleuchtet vom grellen Licht zweier Leuchtstoffröhren, die in geringer Höhe über dem Tisch hingen. Vier der Männer hatten an einer Längsseite des Tisches Platz genommen, ein weiterer an seinem Ende. Die vier Stühle auf der gegenüberliegenden Seite waren leer.

    Sie saßen unbewegt da, als warteten sie auf etwas. Nur gelegentlich murmelten sie ein paar Worte, räusperten sich oder tranken Kaffee oder Tee. Auch der Mann am Ende des Tisches saß still über seinen Aktenstapel gebeugt und schwieg. Seine schmächtige Gestalt, sein schütteres Haar und sein abgewetztes, graues Jackett wiesen ihn nicht gerade als Führungspersönlichkeit aus; dennoch schien er der Anführer oder Vorsitzende zu sein. Seine kleinen Augen, die hinter einer dicken Hornbrille verborgen waren, wanderten unstet hin und her und verrieten, wie nervös er in Wirklichkeit war.

    Plötzlich gab er sich einen Ruck und sah auf seine Armbanduhr. „Jetzt sind sie schon fünfzehn Minuten zu spät", stellte er fest und blickte vorwurfsvoll in die Runde.

    „Wahrscheinlich finden sie uns nicht", bemerkte der Mann zu seiner Rechten, der von Gestalt und Kleidung her sein größerer Bruder hätte sein können.

    „Oder sie sitzen mit ihrem Wagen auf, vermutete ein weiterer, der auf dem nächsten Stuhl saß. „Der Weg ist zu tief ausgefahren.

    Ein leichtes Schmunzeln huschte über ihre Gesichter.

    „Mit einem Wartburg wäre das wahrscheinlich kein Problem, fuhr er grinsend fort, „aber mit einem Mercedes? Oder BMW?

    „Die liegen so tief, meldete sich der jüngste von ihnen, der am Ende der Reihe saß, „wenn da eine Maus quer über die Straße rennt, haben die schon einen Wildschaden!

    Die Bemerkung löste allgemeine Heiterkeit aus.

    „Na na, du musst doch ganz still sein! Du bist ja nur neidisch!, wandte der zweite Redner ein. „Du mit deiner aufgemotzten Rennpappe!

    Als die Wirkung des Witzes verebbt war, trat wieder gespannte Ruhe ein. Man schüttete Kaffee oder Tee nach, einige taten Kaffeeweißer dazu und klingelten beim Umrühren vernehmlich mit dem Löffel. Dann war nur noch das Summen der Leuchtstoffröhren über ihren Köpfen und das Knistern des Feuers im Herd zu hören.

    Der Raum, in dem sie saßen, war rustikal eingerichtet. Die groben Holzmöbel wurden von großen Splinten zusammengehalten; die Stühle hatten ausgesägte Herzchen in den geschwungenen Lehnen. Der Boden bestand aus Holzdielen, die Wände waren bis zur Brusthöhe mit glänzenden Paneelen ausgekleidet, und über allem thronte ein Rehgehörn an der Wand. Insgesamt machte der Raum den Eindruck einer Wohnküche in einer Jagdhütte oder Datsche. Er hätte gemütlich sein können, wären nicht die beiden grellen, summenden Leuchtstoffröhren gewesen, deren Licht auch in die hintersten Winkel zu dringen schien, als wollten sie keinerlei dunkle Machenschaften zulassen.

    Die fünf Männer am Tisch schien das nicht zu stören. In gewisser Weise passten sie zur anspruchslosen Einrichtung: Ihre Gesichter, besonders diejenigen der beiden ältesten am Tischende, erschienen ebenso grob geschnitzt wie die Möbel. Ihre Bewegungen waren kantig, und ihre Kleidung so unmodisch, dass es schon beinahe wieder provokant war. Nur der dritte in der Reihe, der ebenfalls schon den Älteren zugerechnet werden konnte, hob sich durch ein etwas gepflegteres Äußeres ab. Er trug eine randlose Brille und einen sorgfältig gestutzten, leicht ergrauten Vollbart, auch seine dunkle Nappa-Lederweste schien nicht gerade aus einem Kaufhaus der ehemaligen DDR zu stammen.

    Bei aller Grobheit ihrer allgemeinen Erscheinung, die eher an eine Berufstätigkeit in der Landwirtschaft denken ließ, war ihren Gesichtern ein eigentümlich beflissener Zug eigen, so als hätten sie ihr bisheriges Leben innerhalb der Regeln und Zwänge einer großen Bürokratie verbracht.

    Eine weitere Viertelstunde verging.

    Der Mann mit der Weste brach schließlich das Schweigen. „Allmählich frage ich mich, ob sie wirklich kommen", bemerkte er.

    Der Vorsitzende machte eine abwehrende Handbewegung. „Natürlich kommen sie. Er hat es mir in die Hand versprochen!"

    Der andere blieb skeptisch. „Die Wessis versprechen viel."

    Nach einer Weile hörten sie, wie draußen ein Wagen hielt. Durch das Fenster sahen sie das Licht der Scheinwerfer, das gleich darauf abgeschaltet wurde.

    „Ich werde sie in Empfang nehmen", verkündete der Wortführer und ging in den Flur hinaus. Die anderen sahen ihm nach und horchten.

    Bald darauf traten drei Herren in hellen Anzügen ein. Während sie ihre Blicke kurz über das Mobiliar schweifen ließen, gingen sie auf die Wartenden zu und schüttelten ihnen die Hände. Es wirkte übertrieben, so als hätten sie es vorher einstudiert. Dann nahmen sie auf den drei freien Jägerstühlen Platz und stellten ihre Aktentaschen auf den Boden.

    Niemand sagte etwas. Der Mann am Ende des Tisches rückte seine Hornbrille zurecht, strich sich durch das schüttere Haar und nahm schließlich ein Blatt Papier auf, das vor ihm auf dem Stapel lag. Umständlich und förmlich begrüßte er die Neuankömmlinge und blickte dabei aufmerksam, wobei seine kleinen Augen zuweilen hinter den Lichtreflexen seiner dicken Brillengläser verschwanden, in die Runde. Einer der jüngeren Gastgeber sah die leeren Tassen der Gäste, stand auf und goss ihnen Kaffee aus der weißen Isolierkanne ein. Während Zucker und Kaffeeweißer erneut die Runde machten, fuhr der Wortführer der Gastgeber fort: „Meine Herren, wir sollten gleich zur Sache kommen. Wir haben Ihre Liste abgearbeitet und alles ordnungsgemäß zusammengestellt. Hier sind die aktuellen Grundbuchauszüge vom 23.2.1993, hier die Flurkarten, und dies ... – er faltete umständlich eine alte Lichtpause auseinander – „... ist eine Ablichtung des alten Generalbebauungsplanes aus der DDR-Zeit. Die Fläche der alten KIM ist rot markiert. Er legte den Plan in die Mitte des Tisches und strich ihn glatt. Die Gäste beugten sich darüber.

    „Was heißt noch mal KIM?", fragte einer von ihnen.

    „Kombinat industrielle Mast. Genau genommen heißt das Objekt H-Z-M-K. Hühner-Zucht- und -mastanlage Kossenow!", erklärte der Bärtige mit der Weste.

    „Nicht ganz unbedeutend in der Vergangenheit, fuhr der Vorsitzende fort. „Der Betrieb war einer der größten der Republik. Die Versorgung der Hauptstadt mit Broilern wurde hauptsächlich von hier aus gesichert, von Kossenow! Der Stolz in seinen Worten war unüberhörbar, und die Gäste nickten anerkennend. Dann setzte er weitschweifig die Erläuterung der Unterlagen fort, schob schließlich den Stapel zu den Gästen hinüber und beendete seine Ausführungen mit der Feststellung: „Fakt ist jedenfalls, dass trotz der intensiven Tierhaltung nur geringe Bodenverunreinigungen auf dem Gelände festgestellt wurden. Er lächelte angespannt. „Dem Verkauf dürfte somit nichts im Wege stehen.

    Einer der Gäste, der offenkundig der älteste von ihnen war und durch seine Gepflegtheit sowie seine farbige Krawatte auffiel, zog die Akten zu sich heran und begann, sie oberflächlich durchzublättern. „Wo ist die Erklärung, dass keine Ansprüche von früheren Eigentümern bestehen?", fragte er, zum Vorredner gewandt.

    „Die besorgt der Notar. Außerdem haben wir unsere eigenen Kanäle, fügte dieser hinzu. „Sie können davon ausgehen, dass hier keine Schwierigkeiten bestehen.

    Die Gäste nickten bedächtig.

    Während sie die Akten studierten, brummten die Leuchtstoffröhren. Die fünf Männer warfen sich verstohlene Blicke zu, dann wieder sahen sie zu den Verhandlungspartnern hinüber und versuchten in ihren Gesichtern zu erkennen, was sie wohl von dem Angebot hielten.

    Der Herr mit der bunten Krawatte blickte schließlich von den Papieren auf und bückte sich zu seiner Aktentasche, um ihr eine Broschüre zu entnehmen. „Unsere Machbarkeitsstudie für den Standort Kossenow ist recht positiv ausgefallen, sagte er. „Das gilt allerdings auch für die anderen Standorte.

    „Andere Standorte? Welche wären das denn?"

    „Beeskow und Storkow."

    Die Gastgeber blickten verdutzt. In ihrer Unbedarftheit hatten sie nicht damit gerechnet, dass sich die „Investoren" – so nannten sie ihre Geschäftspartner meistens – noch andere Grundstücke ansehen würden.

    „Ja, sie haben einige Vorzüge. Storkow zum Beispiel liegt recht nahe an der Autobahn. Und durch Beeskow führen drei Bundesstraßen."

    In den Gesichtern der beiden jüngeren Männer machte sich Bestürzung breit. Die drei älteren setzten eine undurchdringliche Miene auf, als hätten sie schon erwartet, dass sie über den Tisch gezogen werden sollten. Wenn sie auch nicht genau wussten, wie.

    „Aber der Standort Kossenow verfügt über einen sehr großen Einzugsbereich, hielt der Mann mit der Hornbrille dagegen. „Er reicht von Fürstenwalde fast bis Cottbus! Und vom Spreewald bis nahe an Frankfurt! Das ist eine riesige Fläche!

    „Eine riesige, aber leider recht dünn besiedelte Fläche, wenn man sie zum Beispiel mit Berlin vergleicht, sagte der Mann mit der bunten Krawatte. Zu einem seiner Kollegen gewandt fragte er: „Wie viele Personen leben in Brandenburg auf einem Quadratkilometer?

    Der blätterte in der Studie und sagte dann: „Etwa 87. Das ist, bezogen auf ganz Deutschland, sehr wenig."

    „Und in Berlin?"

    „Rund 3.800."

    Er grinste zufrieden. „Das ist der Unterschied, meine Herren. Diesen Umstand können wir bei unserem Projekt natürlich nicht gänzlich vernachlässigen."

    Es folgte ein langwieriger Austausch von Argumenten über die Vor- und Nachteile des Standortes Kossenow, in dessen Verlauf die ständig verstopften Straßen Berlins, das doch keineswegs geringe Einwohnerpotenzial von Beeskow und Kossenow, zusammen immerhin über 90.000 Kunden, und die zahlreichen Touristen, die perspektivisch im Territorium zu erwarten seien, eine Rolle spielten. Die Auseinandersetzung erreichte bald jenes Stadium, das bei derartigen Verhandlungen unausweichlich ist und von außenstehenden Beobachtern, sofern vorhanden, stets mit amüsierter Spannung verfolgt wird, weil es jetzt nicht mehr um die Inhalte geht, sondern nur noch um die Technik des Schlagabtausches, um das sportliche Gefecht: Jede Seite führt Argumente an, und seien sie noch so entlegen, spitzfindig oder grotesk, die sie selbst zwar nicht unbedingt glaubt, die sie aber für geeignet hält, den Gegner zu verblüffen und kurzfristig außer Gefecht zu setzen. Beide Seiten wissen dabei: Es zählt nicht die Natur der Sache, sondern allein die Zahl der Treffer. In diesem Fall trat die Verblüffung jedoch häufig ungewollt und auf beiden Seiten zugleich ein, weil man nach unterschiedlichen Regeln kämpfte: Ost und West redeten aneinander vorbei.

    „Die Gutachten weisen aus, dass die Medien überwiegend in Ordnung sind, stellte der Lange, der neben dem Vorsitzenden saß, fest. „Hie und da haben natürlich Havarien stattgefunden, die nur notdürftig repariert werden konnten. Aber das hält sich alles in einem normalen Rahmen.

    Der Farbkrawattenträger blickte ihn verständnislos an.

    „Sie wurden natürlich notdürftig geflickt", ergänzte der Lange.

    Doch den Westdeutschen irritierte etwas anderes: Hatte sein Gegenüber gerade behauptet, dass die Lokalreporter hier öfter Schiffbruch erlitten? Und das auch noch auf dem Gelände eines Hühnermastbetriebes? Doch im weiteren Verlauf des Gespräches wurde klar, dass der Ostdeutsche ohne jede Ironie von den Versorgungsleitungen auf dem Gelände gesprochen hatte, die hier „Medien" genannt wurden, und von den Schäden, die Korrosion und Bodenverschiebungen zwangsläufig bewirkt hatten. Nach einigen scherzhaften Bemerkungen über die vermeintlich gleiche Sprache und die Probleme der ost-westlichen Verständigung wich die kurze Heiterkeit wieder der Anspannung, die insgesamt auf der Verhandlung lastete.

    „Storkow und Beeskow haben allerdings auch ihre Nachteile, räumte der Verhandlungsführer der Investoren ein. „Ungeklärte Eigentumsansprüche zum Beispiel. Und weit überzogene Preisforderungen ... Wie hoch, sagten Sie, war noch mal Ihre Vorstellung?

    „Fünfkommadrei", antwortete der Mann mit der Hornbrille.

    Der mit der Weste ergänzte: „Millionen D-Mark."

    Die Mienen der Investoren verfinsterten sich.

    „Guter Mann!, polterte ihr Verhandlungsführer los. „Sie sagen selbst, dass die Medien, wie Sie es nennen, weitgehend havariert sind! Und die Plattenwege sind so zertrümmert, dass man darauf höchstens mit Militärfahrzeugen fahren kann! Also von Erschließung im üblichen Sinn kann doch wohl keine Rede sein. Das nimmt mir kein Bauordnungsamt ab! Alles marode! Das muss alles neu gemacht werden. Ganz zu schweigen von den notwendigen Abrissen!

    Seine Worte trafen die Verkäufer wie Ohrfeigen.

    „Es handelt sich immerhin um dreißig Hektar", wandte der Mann am Ende des Tisches ein.

    „Darauf wollte ich auch gerade zu sprechen kommen. Wir brauchen für unser Einkaufszentrum, warten Sie, ich will es Ihnen genau sagen ... Er blätterte scheinbar ziellos in der Machbarkeitsstudie und begann, seine Gesprächspartner langwierig mit Kaufkraft-Parametern, Planungsrichtwerten, DIN-Normen und gesetzlichen Vorschriften zu bombardieren. Schließlich fasste er zusammen: „Der erste Bauabschnitt betrifft den eigentlichen Verbrauchermarkt. Der umfasst 8.365 Quadratmeter Gebäudegrundfläche plus 15.400 Quadratmeter Stellplätze plus Zuwegungs- und sonstige Flächen ... macht Summa summarum rund zweieinhalb Hektar. Dazu kommen noch die Flächen für den Möbelmarkt und das Heimwerker- und Baustoffzentrum. Die sind für den zweiten Bauabschnitt geplant, müssen aber jetzt schon berücksichtigt werden.

    „Und das heißt? In D-Mark?"

    Die beiden Verhandlungsführer kreuzten ihre Blicke.

    „Zweikommasechs. Alles in allem. Für das gesamte Areal. Das ist wirklich ein guter Preis, meine Herren!"

    Die nächste Gesprächspause dauerte wieder so lange, dass das Brummen der Deckenlampe und das Knacken des Herdes in das Bewusstsein der Anwesenden traten.

    „Wir müssen uns beraten, sagte der Mann mit der Hornbrille. Während er aufstand, wies er auf die Thermoskannen und sagte: „Sie bedienen sich? Wir sind gleich wieder da.

    Die fünf Männer verließen den Raum.

    Nach einer geraumen Weile, während der sowohl ein heftiger – wenn auch unverständlicher – Wortwechsel als auch mehrfach lautes Lachen in den Sitzungsraum drangen, kamen sie zurück.

    „Einverstanden", sagten sie gut gelaunt.

    2.

    Das Rathaus der Stadt Kossenow bot, obwohl es heruntergekommen war, einen eindrucksvollen Anblick: Ein schöner alter Renaissancebau mit drei Stockwerken, großen Bogenfenstern im Erdgeschoss und dem „Ratskeller" im Souterrain. Das Gebäude blickte auf den Marktplatz hinaus, der von alten kleinen Bürgerhäusern mit Geschäften, aber auch von hässlichen Zweckbauten neueren Datums umgeben war. Besser gesagt: unvollständig umgeben war, denn in der Fassadenreihe klafften jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, immer noch einige hässliche Baulücken – eine späte Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkrieges.

    Im ersten Obergeschoss, wo die Fassade des Rathauses am prächtigsten war, lagen die Diensträume des Bürgermeisters und seiner Dezernenten; ein Stockwerk höher, abseits im nördlichen Seitenflügel, hatte der „Planungsstab für Stadtentwicklung" seine Büros.

    Martin Steinland, der Leiter des Stabes, ein schlanker, jugendlich wirkender Mann in Jeans, saß am Schreibtisch und wollte eigentlich die neuesten Umläufe, die in der täglichen Post enthalten waren, durcharbeiten und auf seine Planerkollegen verteilen. Doch in Wirklichkeit war er in Gedanken versunken und starrte, zurückgelehnt und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, auf den alten General-Bebauungsplan von 1976, der mit Stecknadeln an die Wand gepinnt war. Es war eine verschwommene, mehr oder weniger rotbraune Lichtpause der Stadtkarte, auf der einige Flächen schraffiert dargestellt waren.

    Die Arbeitsstättengebiete.

    Sie waren unregelmäßig über die Außenbezirke verteilt, nur das Gebiet „Spreehafen" reichte dicht an das alte Stadtzentrum heran.

    Diese schraffierten Flächen würden ihn noch ausgiebig beschäftigen, ging es ihm durch den Kopf. Viele der dort ansässigen Betriebe waren nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft stillgelegt worden, und täglich wurden weitere „abgewickelt, wie es offiziell-verniedlichend hieß. Sein Blick fiel ein weiteres Mal auf die Tageszeitung, die auf seinem Schreibtisch lag und mit der groß aufgemachten Schlagzeile „Kein Nachschlag für KODOS prangte. Es ging um den Konkurs eines großen Herstellers von Lebensmittelkonserven. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto sah man drei aufgebrachte Arbeitnehmer – drei von insgesamt 345 zukünftigen Arbeitslosen.

    Steinland erhob sich seufzend und ging zum Plan an der Wand. Wo lag dieser Betrieb genau? Er wusste, dass er seinen Standort an der Spree hatte, in die er auch einen Teil seiner Abwässer einleitete. Mit dem Finger fuhr er von der Spreemündung am Schwielochsee durch die Kossenower Altstadt nach Westen und stoppte kurz vor dem Stadtteil Rocher. Es handelte sich um das Arbeitsstättengebiet 2.4 am Südufer des Flusses. Dem Textteil des Generalbebauungsplanes entnahm er, dass zum Komplex mehrere Produktionshallen, ein Verwaltungsgebäude, ein eigenes Heizwerk, ein Gleisanschluss, ein Schiffsanleger an der Spree sowie ein Sportplatz gehörten. Insgesamt handelte es sich um ein Areal von rund sieben Hektar, ein riesiges Gebiet, das dem Verfall preisgegeben wäre, wenn sich auch zukünftig kein Käufer finden sollte.

    Er dachte bekümmert an einen anderen Betrieb, dem es ähnlich ergangen war: die ehemalige Papierfabrik mit ihrem unter Denkmalschutz stehenden Hauptgebäude, die wegen ihrer schädlichen Abwässer gleich nach der Wende geschlossen worden war und nun mit zerschlagenen Scheiben, teilweise abgedecktem Dach und aufkommendem Bewuchs dalag – ein Schandfleck am Rande der historischen Altstadt und weit davon entfernt, zum Prunkstück der Kossenower Industriekultur zu werden, wie Martin Steinland es sich vorstellte.

    Er wandte sich vom Plan ab und begann, wie er es oft tat, grübelnd in seinem Dienstzimmer auf und ab zu laufen. Viel Arbeit lag vor ihm, dachte er, vor ihm und seinem Planungsstab. Es ging ja nicht nur um das Areal von KODOS oder der Papierfabrik, nicht einmal nur um die Arbeitsstättengebiete oder „gewerblichen Bauflächen", wie sie nach westlicher Sprachregelung jetzt hießen – nein, es ging um fast alle Bauwerke und Freiflächen der Stadt. Die meisten waren seit Jahrzehnten nicht mehr repariert oder modernisiert worden; zumindest aber entsprachen sie in vielerlei Hinsicht nicht den neuen Standards der Bautechnik. Man konnte getrost sagen, dass es sich bei der Aufgabe, die vor ihnen lag, um die Totalsanierung der Stadt handelte. Oder um die Total-Rekonstruktion, wie man in den neuen Bundesländern sagen würde. Dieses Problem betraf, im größeren Maßstab betrachtet, nicht nur die Stadt Kossenow, sondern alle Städte der ehemaligen DDR.

    Es klopfte an die Tür, die gleich darauf geöffnet wurde. Renate Balschunat, eine junge Frau mit dunkelblonden Locken, Jeans und farbigem Ringelmuster-Pullover, kam mit der täglichen Post herein. Als sie feststellte, dass der Kasten für den Posteingang ihres Chefs wieder einmal von Akten und Planrollen überwuchert war, legte sie den Stapel auf seinen Schreibtisch.

    „Denkst du an die Dienstberatung in einer halben Stunde?", fragte sie.

    Er starrte sie verdutzt an.

    „Oder soll ich sie für heute absagen?"

    Steinland, der Mühe hatte, sich wieder auf die banale Wirklichkeit einzustellen, sah auf die Uhr. Es war halb zehn. Um zehn versammelten sich an jedem Montag die Mitglieder des Planungsstabes zur Beratung des Wochenprogramms. Er schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Wir treffen uns. Pünktlich!"

    Als Renate gegangen war, kramte er den Zettel aus seiner Aktentasche, auf dem er sich am Wochenende Notizen für den heutigen Termin gemacht hatte. Er überflog kurz die Themen: Einwohnerzahlen, Flächennutzungsplanung, Stadtsanierung ... Insgesamt umfasste die Liste vierzehn Punkte, darunter einige, die durchaus problematisch werden konnten, wenn sie, wie vorgesehen, in die öffentliche Diskussion gebracht würden. Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Offensichtlich stand ihm wieder eine Mammutsitzung bevor, die gut und gerne bis in den Nachmittag dauern konnte.

    Er sah zum Fenster, als könne er dadurch für einen Moment dieser Vorstellung entfliehen. Die Bewölkung hatte zugenommen, aber noch immer lagen die Gebäude der Altstadt in freundlichem Sonnenschein. Sinnend ließ er die Gedanken abschweifen, zurück zum Ursprung seiner Übersiedlung nach Kossenow.

    Was hatte er eigentlich erwartet, fragte er sich, als er vor knapp einem halben Jahr von Hürth am Rhein nach Kossenow gegangen war? Hatte er sich etwa einen lockeren Job vorgestellt, einen, bei dem er andere arbeiten lassen und selbst eine ruhige Kugel schieben konnte? Bei dem er sich nur hinzustellen brauchte, er, der kompetente West-Experte, der die neuen Vorschriften, die mit der staatlichen Vereinigung hereingeflutet waren, wie seine Westentasche kannte – er war ja gleichsam in ihrem Fluidum aufgewachsen – der sich nur hinstellen und wohlfeile Zukunftsvisionen aus dem hohlen Bauch verkünden musste, um seinen ahnungslosen Ost-Mitarbeitern ein bewunderndes „Aaah" zu entlocken?

    Er musste grinsen angesichts des grotesken Bildes, das sich wie von selbst in seiner Fantasie ausgemalt hatte.

    Martin Steinland – der große Besserwessi?

    Wie es zum Beispiel Holzhauer, Kossenows Baudezernent und gleichfalls aus dem Westen, vormachte?

    Oder hatte er auf der anderen Seite mit einem derartigen Arbeitsanfall gerechnet, wie er ihm zum Beispiel heute bevorstand? Mit einem täglichen Pensum, das weit über dem lag, was man sich im Westen unter einer geregelten Arbeitswoche im öffentlichen Dienst vorstellte?

    Selbstverständlich nicht, weder noch. Natürlich hatte er gedacht, dass er viele neue Aufgaben, die hier auf ihn warteten, ohne großes Nachdenken aus der Erfahrung heraus lösen konnte. Und es war ihm andererseits bewusst, dass ein so gigantisches Projekt wie die Totalsanierung eines Staates anstrengend werden, ja, den ganzen Einsatz von jedem Beteiligten erfordern würde – zumindest zeitweise.

    Aber dass man sich dabei ständig wie bei einer brasilianischen Urwaldexpedition durch ein schier undurchdringliches bürokratisches Dickicht hauen musste – das war ihm damals nicht klar gewesen.

    Sicher – er hatte keine hohen Erwartungen gehabt, so naiv war er schon lange nicht mehr. Seine Illusionen von regelmäßigen und zielgerichteten, kurz: sinnvollen Arbeitsabläufen waren ihm schon während seiner fast sechsjährigen Tätigkeit in einem Kölner Planungsbüro abhanden gekommen. Er wusste, dass die Anstrengungen im kommunalen Planungsdienst zu achtzig Prozent in Kleinkram und Reibereien mit den Kollegen verpufften und nur ein kleiner Teil letztlich effektiv wirksam wurde. Dafür sorgte schon der unübersehbare Wust von Vorschriften einschließlich der unzähligen Ausnahmeregelungen. Und diejenigen Ideen, die dieses Labyrinth trotz aller Irrwege erfolgreich durchliefen, wurden schließlich regelmäßig in endlosen Sitzungen zerredet.

    Er seufzte. So war es, und er würde damit leben müssen, genau wie alle anderen.

    Draußen hatte sich der Himmel inzwischen vollständig bezogen, aber es sah noch nicht nach Regen aus. Steinland öffnete das Fenster und sog mit tiefen Atemzügen die kühle Frühlingsluft ein. Auch jetzt fiel ihm auf, dass sie noch leicht nach Braunkohle roch, obwohl die Heizperiode langsam zu Ende ging. Er erinnerte sich daran, wie er im letzten November seinen Dienst im Planungsstab angetreten hatte: Damals war eine solche Rauchschwade über der Stadt gehangen, dass ihm das Atmen schwer gefallen war. Er hatte es kaum glauben können, als ihm seine Kollegen versicherten, das sei ganz normal so, wie in jedem Winter.

    Innerhalb des Braunkohlegeruchs bemerkte Steinland noch eine andere Note. Es war der zarte Duft der Blutpflaumenbäume, die über Nacht ihre Knospen geöffnet hatten. Sie wuchsen zur Linken in der Mauerstraße und waren mit ein paar rosa blühenden Zweigen von seinem Fenster aus gerade noch zu sehen. Auch die gelben Forsythien an der Marienkirche zur Rechten standen jetzt in voller Blüte.

    Aber die Dächer, direkt vor seinen Augen! Er hatte es bislang vermieden, bewusst auf die Dächer der Altstadt zu blicken, die sich schmutzig rot vor seinem Fenster ausbreiteten. Mit Macht traten sie jetzt in sein Bewusstsein, und ihr Anblick erschütterte ihn auch heute wieder. Seit dem zweiten Weltkrieg war an diesen Dächern nichts mehr getan worden. Die Ziegel waren morsch und mit Moos bewachsen; an mehreren Stellen klafften handtuchgroße Löcher, unter denen die Holzkonstruktion durchfaulte. Und darunter die Hausfassaden! Der Rauch der Kohleheizungen und andere Luftverunreinigungen hatten sie durchweg dunkelgrau werden lassen, fast schwarz. An manchen Stellen war der Putz abgefallen und gab den Blick auf das Mauerwerk frei. In den unteren Etagen konnte man sogar noch die Einschusslöcher erkennen, die von den Straßenkämpfen der letzten Kriegstage herrührten – heute noch, nach achtundvierzig Jahren.

    Wie kann man nur in solchen Häusern wohnen, fragte er sich, und spürte, wie das Grauen, das er beim Anblick so vieler Gebäude im deutschen Osten schon empfunden hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und dennoch lebten Menschen unter diesen Dächern und hinter diesen Mauern – er sah die Vorhänge an den Fenstern, die nur selten zurückgezogen wurden, und die Geranien in den Blumenkästen.

    Ratlos schüttelte er den Kopf.

    Würde der neue Osten Deutschlands je mit dem Westen gleichziehen können? Würden hier jemals die blühenden Landschaften entstehen, von denen Kanzler Kohl gesprochen hatte?

    Eine Menge Arbeit lag vor ihnen allen. Die Altstadt war das zweite große Thema seines Stabes, gleich nach den Arbeitsstätten. Sie musste wieder hergerichtet werden, vielleicht nicht so prächtig wie einst, aber doch so schön wie es eben ging. Die Altstadt von Kossenow, das Zentrum von Kultur, Handel und Wandel am Schwielochsee. Und das musste so schnell wie möglich geschehen, denn sonst würden die Menschen resignieren und fortziehen, und das Stadtzentrum würde immer mehr veröden. Beispiele dafür kannte er aus Westdeutschland genug.

    Er stellte das Fenster auf kipp und ließ sich wieder auf seinen Bürostuhl fallen. Wenn ich schon ranklotzen muss, dachte er bei sich, dann hat meine Arbeit hier doch wenigstens einen Sinn. Im Gegensatz zum Westen, wo schon jeder Millimeter mehrfach überplant ist. Hier kann ich noch etwas bewirken! Hier kann ich etwas gestalten! Hier gilt ein guter Planer noch etwas!

    Es war eben doch eine gute Idee, nach Kossenow zu gehen.

    Wieder einmal war er vollkommen zufrieden, dass er diesen Schritt getan hatte.

    3.

    Der Besprechungsraum des Planungsstabes schloss sich zur linken an Steinlands Büro an. Wegen seiner Funktion als Unterbringungsort für alles, was nicht in die Dienstzimmer der Mitarbeiter passte, wurde er „Büdchen" genannt. Der Name war Steinlands Idee gewesen, weil er ihn an die Kioske in seiner Heimat erinnerte, die abends nach Ladenschluss noch offen waren und für jeden Bedarf etwas zu bieten hatten, Alkoholika inbegriffen, und deshalb allgemein beliebt waren. In der hinteren Ecke summte in regelmäßigen Abständen ein Kühlschrank, was allerdings immer erst dann auffiel, wenn sich sein Motor mit lautem Geschepper abstellte.

    Als Steinland, einen dicken Aktenstapel unter dem Arm, kurz nach zehn Uhr das Büdchen betrat, stieg ihm der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in die Nase. Renate Balschunat und Horst Müller, die beiden Ostdeutschen in seinem Team, saßen am Besprechungstisch und hatten ihre Tassen schon halb leergetrunken.

    „Hallo allerseits", grüßte Steinland.

    „Hallo."

    „Wo ist Wolfgang?"

    „Der wollte kommen, hat dann aber noch einen Anruf reingekriegt", erklärte Renate Balschunat. Es war immer das gleiche: Alle waren pünktlich, nur Wolfgang Harms, der zweite Westdeutsche neben Martin Steinland, telefonierte in seinem Dienstzimmer, als ginge ihn alles nichts an.

    „Schön, dass sein Telefon heute wenigstens funktioniert", versetzte Steinland missmutig. Er nahm ebenfalls Platz, goss sich Kaffee ein und wandte sich an Renate.

    „Hast du eigentlich die Fotokopien der Einwohnerentwicklung mitgebracht?"

    Sie hatte es vergessen. Schuldbewusst eilte sie in ihr Dienstzimmer, um sie zu holen, und kehrte kurz darauf mit Harms im Schlepptau zurück. Nachdem geklärt war, wer das Protokoll schreibt, es traf wie immer Renate, konnte die Dienstberatung anfangen.

    Steinland zog einen gelben Einband aus seinem Aktenstapel und eröffnete die Besprechung in seiner typischen, halb ironischen Redeweise, bei der die Zuhörer oft nicht wussten, ob er es ernst meinte oder nicht. „Wir haben den statistischen Bericht der Stadt mit den Daten vom letzten Jahr bekommen, begann er. „Interessant sind in erster Linie die Einwohnerzahlen. Renate hat die Grafiken für alle kopiert. Sehen wir uns den Verlauf einmal an. Was erkennen wir?

    Alle hatten das Diagramm vor sich auf dem Tisch liegen. Die Kurve wies an ihrem rechten Ende deutlich nach unten.

    „Negativ", stellte Renate Balschunat fest.

    „Allerdings nicht so negativ wie in den vergangenen Jahren, warf Wolfgang Harms ein. „Wir haben diesmal nur 774 Einwohner verloren! Im Jahr davor waren es fast doppelt so viele, und 1990 noch mehr, nämlich 2.619! ... Also doch höchst positiv, würde ich sagen.

    Alle lachten, wenn auch mit bitterem Unterton.

    „So wie du die Zahlen beschönigst, hättest du Börsenmakler werden können, bemerkte Müller. „Du hättest zweifellos jeden Totalverlust als sicheres Vorzeichen für künftige Profite ausgegeben.

    „Oder Rechtsverdreher", sagte Renate Balschunat trocken.

    „Politiker nicht zu vergessen", ergänzte Steinland.

    Es war die Art von Sarkasmus, die ein ständiger Begleiter ihrer Arbeit war und ohne die sie, wie sie selbst überzeugt waren, manche Aufgaben gar nicht bewältigen konnten.

    „Und wie sieht es bei der Arbeitslosenzahl aus?", fragte Müller.

    Dazu waren keine Kopien verteilt worden. Martin Steinland blätterte in seinem Bericht und zog die Stirn in Falten. „Ende des Jahres lag sie bei vierzehn Prozent, sagte er schließlich. „Das heißt: Jeder Siebente war ohne Job! Ist das nicht schlimm? Und wenn nicht so viele Leute wegziehen würden, lägen die Werte noch höher!

    „He, habt ihr schon die Zeitung von heute gelesen?, platzte Renate heraus. „Der Konkurs von KODOS haut übel rein. Sie und Müller kannten die Kossenower Dosensuppen mit dem nach westlichen Maßstäben wenig attraktiven Markennamen „KODOS" noch aus der DDR-Zeit und wussten, dass sie einst in ganz Osteuropa beliebt waren. Der Absatz war allerdings schon gegen Ende der achtziger Jahre deutlich zurückgegangen; und nach der Wende wollte niemand die Firma, die jetzt von der Treuhand weitergeführt wurde, übernehmen. Es kamen zwar einige Abgesandte großer Konzerne aus Westdeutschland und Frankreich angereist; die verhandelten jedoch so lustlos, dass Gerüchte aufkamen, man wolle mit KODOS nur einen lästigen Konkurrenten loswerden, notfalls durch Aufkauf und Stilllegung. Dazu kam es aber nicht mehr; wie die Zeitung heute meldete, lief bereits die Abwicklung, und die vertrauten Dosensuppen aus Kossenow waren Vergangenheit – ebenso wie die dazugehörigen 345 Arbeitsplätze.

    Das Deprimierende war, dass es den meisten Großbetrieben in Kossenow ähnlich ergangen war. Gleich nach der Wende war das Industriekombinat Wilhelm Piek (Produktion von Lacken, Firnis, Druckfarben und ähnlichen Erzeugnissen) wegen Verstoßes gegen die neuen Umweltgesetze geschlossen worden; das gleiche Schicksal erlitten das „HZMK (Kombinat Hühnerzucht- und -mastanlage Kossenow) und das „KDPK (Kombinat Düngemittel und Pflanzenschutz Kossenow). Weitere Betriebe folgten, und die Treuhand hatte auch in Kossenow ihren Ruf als Jobkiller weg.

    etwa 2 km

    Kossenow am Schwielochsee

    Alle schwiegen betreten, Harms stellte irgendwelche Berechnungen an, Steinland fixierte eine Tabelle in seinem Bericht. Der Kühlschrank stellte sich scheppernd aus.

    „Ich habe hier mal den Trend der Einwohnerentwicklung bis zum Jahr 2000 verlängert, warf Harms ein. „Das Ergebnis wird euch interessieren!

    „Und das wäre?", fragte Müller.

    „Wir verlieren in diesem Zeitraum fast sechzehn Prozent!", sagte Harms.

    „Wie viele bleiben dann noch?"

    „Rund 69.150."

    „Unter siebzigtausend?" Martin Steinland war regelrecht erschrocken. Siebzigtausend – das war eine politische Alarmschwelle. Der Bürgermeister hatte immer wieder großspurig verkündet, dass diese Zahl niemals unterschritten werden würde.

    Wenn es einen einzelnen Begriff gab, in dem sich alle Vorgänge und Tendenzen der Entwicklung einer Stadt widerspiegelten, dann war es die Einwohnerzahl. Wenn ihr Verlauf negativ war, wenn womöglich die Gehaltseinstufung des Bürgermeisters in Gefahr war (es kam dann regelmäßig der Vorschlag der Eingemeindung umliegender Dörfer auf), konnte es leicht passieren, dass jemand anfing, nach den Schuldigen zu suchen. Und das wären in Kossenow immer diejenigen mit dem geringsten Rückhalt in Politik und Verwaltung, also letzten Endes sie: die vier Mitglieder des Planungsstabes für Stadtentwicklung.

    Doch – was sollte so eine kleine Dienststelle gegen den allgemeinen Trend ausrichten? Die Faszination des Westens war groß, und wer gehen wollte, der ging. Besonders dann, wenn er

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