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1989 Endlich frei!
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eBook942 Seiten11 Stunden

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Über dieses E-Book

"1989 - Endlich frei!"

Mit seinem Buch "1989 - Endlich frei!" ist es Dieter Opfer in bemerkenswerter Weise gelungen, die Chronik einer Befreiungsgeschichte gleichsam protokollarisch als Zeitdokument aufgearbeitet zusammenzutragen, wie sie das Europa des 20. Jahrhunderts noch nicht erlebt hatte: Die Teilung Deutschlands konnte zur Geschichte erklärt werden und die europäische Einigung ihren Lauf nehmen.

In den mehr als 40 Fluchtgeschichten zeichnet der Autor detailgenau ein Bild der letzten Tage der DDR-Diktatur und Geschichten von Menschen nach, die ihren Weg aus einem Staat fanden, der ihnen wie ein Gefängnis vorkam und dem sie teilweise auch entfliehen mussten, weil sie ihm zu unbequem geworden waren. Doch der Autor beschränkt sich nicht auf Ausreise und Flucht allein, nebenher werden anhand zahlreicher Belege auch die politischen Entwicklungen beider deutscher Staaten - angefangen vom Mauerbau 1961 bis zu deren Fall 1989 - akribisch und mit hoher Sachkenntnis dem Leser vor Augen geführt. Dabei kommen sowohl die Beteiligten selbst als auch zahlreiche Politiker, Diplomaten und andere Sachkundige zu Wort. Schlussendlich spannt der Autor in seinem Buch einen Bogen bis in unsere Gegenwart hinein, indem seine Protagonisten erzählen, wie sie die deutsche Wiedervereinigung erlebt haben, wie sie sich seither in der "neuen Welt" zurechtfanden und wie es ihnen heute geht.

Die sorgfältig recherchierten und mit Fotos belegten Einzelschicksale sind sowohl spannende als auch authentische Reportagen über die reglementierten Zustände des ehemaligen SED-Staates. So ist dank dieser Publikation ein aufrüttelndes Beweisdokument entstanden, das uns Lesern nicht nur sehr private Einblicke in das Leben dieser Menschen gibt und uns deren Schicksale hautnah miterleben lässt, es ist darüber hinaus etwas von dauerhaftem und kostbarem Wert geschaffen worden: der Beleg, dass sich Menschen ihrer Rechte auf Dauer nicht berauben lassen und sich dort Widerstand formiert, wo die Freiheit der Bürger mit Füßen getreten wird.
Stephan Classen
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum17. Juli 2011
ISBN9783000285462
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    Buchvorschau

    1989 Endlich frei! - Dieter Opfer

    1989

    Endlich frei!

    Einzelschicksale und Fluchtgeschichten

    Deutsche Geschichte zur Wendezeit

    Dieter Opfer

    I M P R E S S U M

    Dieter Opfer

    1989 - Endlich frei!

    Einzelschicksale und Fluchtgeschichten Deutsche Geschichte zur Wendezeit

    1. Aufl. – Bergisch Gladbach 2009

    Herausgabe anlässlich des 20. Jahrestages zur Öffnung der Grenzen (Eiserner Vorhang)

    © 2009 Eigenverlag Dieter Opfer

    In der Auen 29, 51427 Bergisch Gladbach

    Telefon: 02204 / 6 04 22

    Telefax: 02204 / 2 57 29

    Mail: dieter.opfer@koeln.de

    Mitglied in der philatelistischen Forschungsgemeinschaft „Deutsche Einheit" e.V. und der Poststempelgilde e. V.

    Alle Rechte, auch die der Übersetzung, der fotomechanischen Wiedergabe, und der Verfilmung, behält sich der Verfasser vor.

    Lektorat: Stephan Classen, Köln

    Umschlaggestaltung: Ursula Opfer, Bergisch Gladbach

    Unter Verwendung von Fotos – s. Innenumschlag Bildbearbeitung

    Cover: Melanie Opfer, Köln Druck: Hohnholt, Bremen

    E-Book-Distribution: XinXii

    ISBN 978-3-00-028546-2

    Erste Auflage

    Inhalt

    Grußwort des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin von 1989 bis 1990, Franz Bertele

    Grußwort des deutschen Botschafters in Prag von 1988 bis 1992, Hermann Huber

    Vorwort

    ERSTER TEIL Einzelschicksale und Fluchtgeschichten

    DDR-Fluchtgeschichten über Ungarn (Budapest, Sopron…) in die BRD

    FLUCHTGESCHICHTE 1 Agnes Baltigh - Kassiererin auf dem Zeltplatz bei Fertörákos

    FLUCHTGESCHICHTE 2 Massenflucht aus Ungarn – Alles lief ab wie in einem Film!

    FLUCHTGESCHICHTE 3 Endstation Bergisch Gladbach – Unterwegs mit einer MZ

    FLUCHTGESCHICHTE 4 Der europäische Gedanke – von der Theorie zur Praxis!

    FLUCHTGESCHICHTE 5 Ein Picknick mit Folgen

    FLUCHTGESCHICHTE 6 Flucht über die „Grüne Grenze" Ungarns

    FLUCHTGESCHICHTE 7 Eine Sache des Vertrauens – Ein Fall für den Familienrat

    FLUCHTGESCHICHTE 8 Ausreiseantrag und Ungarnvisum

    FLUCHTGESCHICHTE 9 Eine „Weltreise" durch Ungarn

    FLUCHTGESCHICHTE 10 Briefmarkentausch – Hindernis für die Karriere

    FLUCHTGESCHICHTE 11 Post aus Budapest

    FLUCHTGESCHICHTE 12 Taxifahrt ins Paradies

    FLUCHTGESCHICHTE 13 Dresdens erste Pommesbude

    FLUCHTGESCHICHTE 14 Eine Nacht- und Nebelaktion

    FLUCHTGESCHICHTE 15 Zwei gescheiterte Fluchtversuche und ein Happy End

    FLUCHTGESCHICHTE 16 Missglückte Massenflucht mit Happy End

    DDR-Fluchtgeschichten über die CSSR (Prag…) in die BRD

    FLUCHTGESCHICHTE 17 Briefmarken in die Zugtoilette

    FLUCHTGESCHICHTE 18 Zwanzig Ausreiseanträge und ein Hungerstreik in der Prager Botschaft

    FLUCHTGESCHICHTE 19 Die Tränen meiner Großmutter

    FLUCHTGESCHICHTE 20 Drei Monate in der Prager Botschaft!

    FLUCHTGESCHICHTE 21 „Als ich Honni meine Frau klaute!"

    FLUCHTGESCHICHTE 22 Gefängnis? – Nein, danke!

    FLUCHTGESCHICHTE 23 Süßigkeiten in Hammelburg

    FLUCHTGESCHICHTE 24 Die letzten Aluchips

    FLUCHTGESCHICHTE 25 Eine Mark für Charly

    FLUCHTGESCHICHTE 26 Eine Lücke im Tor – Endlich frei!

    FLUCHTGESCHICHTE 27 Wo, bitte schön, ist mein Mann? oder Diogenes in der Tonne

    FLUCHTGESCHICHTE 28 Die letzte Hoffnung

    FLUCHTGESCHICHTE 29 In Handschellen zum Zahnarzt

    FLUCHTGESCHICHTE 30 Aktuellste Radio-Nachrichten: 500 – 1500 – 3500 – 4000

    FLUCHTGESCHICHTE 31 Auch Kinder mögen Schokolade

    FLUCHTGESCHICHTE 32 Künstlerische Freiheit oder Freifahrschein nach Sibirien?

    FLUCHTGESCHICHTE 33 Geheimer Hinterausgang der Prager Botschaft

    FLUCHTGESCHICHTE 34 Schau hin! – So enden viele Frauen im Westen!

    FLUCHTGESCHICHTE 35 Eine Woche vor dem Mauerfall

    FLUCHTGESCHICHTE 36 Ein Tag wie jeder andere

    FLUCHTGESCHICHTE 37 Bitte aussteigen! – Back in the DDR!

    FLUCHTGESCHICHTE 38 Bahnhof Dresden! – Bitte alle Pässe abgeben!

    FLUCHTGESCHICHTE 39 Aus Ruinen auferstanden und einem neuen Leben zugewandt!

    FLUCHTGESCHICHTE 40 Das Parfum – Düfte aus einer anderen Welt

    FLUCHTGESCHICHTE 41 Eine Banane zum Nachtisch

    FLUCHTGESCHICHTE 42 Eine Einladung zu einem Essen

    FLUCHTGESCHICHTE 43 Im Honecker-Express nach KMS

    FLUCHTGESCHICHTE 44 Die Stasi-Tabakscheune von Schwedt

    Fluchtversuche von DDR-Bürgern über Ost-Berlin und Warschau in die BRD

    FLUCHTGESCHICHTE 45 Vom Häftling zum Schriftsteller

    FLUCHTGESCHICHTE 46 Das letzte Jahr der Ständigen Vertretung

    FLUCHTGESCHICHTE 47 Die Situation der DDR-Flüchtlinge in Warschau

    ZWEITER TEIL Deutsche Geschichte zur Wendezeit

    Die Zeit ist reif

    Mauer, Ausreise und Republikflucht

    Das Paneuropäische Picknick

    Hilfe zur rechten Zeit

    Hinter den Kulissen

    Austausch der letzten Argumente

    Hausherr und Helfer in der Not

    Die hohe Kunst von Außenpolitik und Diplomatie

    Gründe für eine „Republikflucht"

    Der erste Tag in Freiheit und die erste Unterbringung – Koordinierung der Flüchtlingsströme

    Nachwort

    Grußwort des deutschen Botschafters in Südkorea von 2003 bis 2006, Michael Geier

    ANHANG

    Abkürzungsverzeichnis

    Anmerkungen

    Bildverzeichnis

    MEINEN FREUNDEN

    STEPHAN, VOLKER UND MICHAEL

    Grußwort des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin von 1989 bis 1990, Franz Bertele

    Der Verfasser dieses Buches – Dieter Opfer – hat mich um ein Grußwort gebeten. Ich komme der Bitte gerne nach.

    Als Deutschland und Europa noch durch Mauer und Stacheldraht getrennt waren und als an der Grenze Deutsche aus der DDR, die die DDR ohne staatliche Erlaubnis verlassen wollten, ihr Leben riskierten, entdeckten einige wenige, dass es auch einen anderen Weg aus der DDR gab, ohne die Schikanen eines Ausreiseverfahrens und ohne Schüsse, Minen und Todeszaun an der Grenze. Sie gingen zur Ständigen Vertretung in Ostberlin oder zu einer für sie erreichbaren Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, das waren in der Regel die Botschaften in Prag, Warschau oder Budapest, und erklärten dort, sie würden die Vertretung erst nach einer verbindlichen Zusage für eine Ausreise aus der DDR wieder verlassen. Eine solche Zusage konnte naturgemäß nur die DDR selbst geben. Der Ausreisewunsch musste also an die DDR herangetragen werden, und zwar in einem sozusagen halbstaatlichen Verfahren über den Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Weshalb das so war, kann in einem Grußwort aus Platzgründen nicht erläutert werden.

    Wenn diese Fälle auf die staatliche Ebene kamen, verlangte die DDR, wir sollten die „Botschaftsbesetzer notfalls mit Gewalt aus den Vertretungen weisen. „Botschaftsbesetzungen seien ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Bundesregierung hat dann erklärt, wir würden Deutsche, die in einer amtlichen Vertretung Zuflucht suchten, nicht zwingen, die Vertretung zu verlassen.

    Zwar sei der von den Zuflüchtigen gewählte Weg zur Erzwingung ihrer Ausreise aus der DDR nicht korrekt; dass es zu solchen Fällen käme, habe jedoch die DDR zu verantworten, da sie ihren Bürgern völkerrechtswidrig die Ausreise nur in Ausnahmefällen gestatte.

    Zufluchtsfälle durften nie zur Regel werden; unsere Vertretungen in der DDR und in Ost-Europa wären sonst funktionsunfähig geworden und hätten geschlossen werden müssen, was ja auch mehrfach geschah, nachdem die Zufluchtsfälle öffentlich bekannt geworden waren.

    Herr Opfer lässt in diesem Buch ehemalige Zuflüchtige zu Wort kommen. Dass sie sich in nervenzerreißenden Ausnahmesituationen befanden, wird jedem einleuchten. Ich selbst habe mit vielen Zuflüchtigen in Ostberlin, Warschau und Prag gesprochen und kenne die verzweifelte Situation dieser Personen aus eigener Erfahrung.

    Ich begrüße es sehr, dass hiermit solche Schicksale einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden, in einer Zeit, da manches an der DDR-Diktatur im milden Licht der Nostalgie verharmlost wird. Viele Menschen haben unter dem System der DDR schwer gelitten, drohten daran zu zerbrechen. Der Versuch, die Ausreise zu erzwingen, war eine Konsequenz dieser Lage.

    Und dennoch bleibt auch im Nachhinein richtig, dass der Zufluchtsweg nicht der richtige Weg zum Verlassen der DDR war. Ich möchte dabei auf einen Aspekt verweisen, der in dem Buch wahrscheinlich nicht erwähnt wird: Für alle Mitarbeiter unserer Vertretungen, die mit unseren Besuchern die Gespräche führen mussten, die mit der Zufluchtnahme endeten, war es eine Gratwanderung. Manch einer, der die Vertretung wieder freiwillig verließ, ohne auf einer Ausreisezusage zu bestehen, war in einer schwierigeren Situation als andere, die hartnäckiger waren. Und, wer auf diese Weise die Ausreise erreichte, versperrte vielleicht einem Dritten, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte, den Weg, weil damit die Höchstzahl von Ausreisen, die die DDR bereit war, zuzulassen, erreicht war. Niemand von uns wusste, wer dieser Dritte war, aber wir mussten davon ausgehen, dass es solche Fälle geben würde. Dies gehört leider auch zu diesem Thema.

    Aber die Verantwortung für diese Situation lag nicht bei den Zuflüchtigen, sondern bei der DDR, die Menschen in diese verzweifelte Situation gebracht hatte.¹

    Grußwort des deutschen Botschafters in Prag von 1988 bis 1992, Hermann Huber

    Als ich in der ersten Augustwoche des Jahres 1989 mit meiner Frau in Urlaub fuhr, kam am bayrisch-böhmischen Grenzübergang der Chef des deutschen Grenzpostens an meinen Wagen und sagte mir etwas verlegen, er habe für mich eine telefonische Nachricht unserer Botschaft in Prag erhalten, mit der er nichts anfangen könne. Man habe ihn gebeten, mir zu sagen, das Abflussrohr sei frei.

    Ich bedankte mich bei ihm und wusste nun, daß ich beruhigt weiterreisen konnte, denn die letzten, vor wenigen Tagen in der Botschaft eingetroffenen Flüchtlinge hatten die Rückfahrt in die DDR angetreten, wo sie, im Einvernehmen mit einer Absprache zwischen den Behörden der DDR und unserem Innerdeutschen Ministerium einen förmlichen Ausreiseantrag stellen konnten, der dann geprüft wurde.

    Es blieb also nur noch das Ehepaar mit drei Kindern, das am Tag, an dem der tschechoslowakische Kardinal Tomasek seinen 90. Geburtstag feierte, den Empfang nutzte, den ich für die angereisten Vertreter der hohen deutschen Geistlichkeit in der Botschaft gab, um in unser Gebäude zu gelangen.

    Lange dauerte mein Urlaub nicht, denn schon am 17. August erhielt ich einen Anruf im schweizerischen Wallis mit der Weisung des Auswärtigen Amts, sofort nach Prag zurückzukehren, da sich in wenigen Tagen insgesamt etwa 90 Flüchtlinge in die Botschaft begeben hätten. Die Tendenz sei steigend. Bei meinem Eintreffen am 19. August waren es bereits 123.

    So ist für mich dieser Tag zum Erinnerungsdatum an den Beginn des größten Flüchtlingsdramas geworden, das eine deutsche Botschaft je in der Geschichte erlebt hat.

    Vor einiger Zeit habe ich von der Absicht des Autors gehört, ein Buch zu veröffentlichen, in dem einige dieser Flüchtlinge selbst zu Wort kommen und die historisch-politischen Umstände beleuchtet werden sollen, die diese vielen tausend Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben haben. Gern habe ich die Bitte aufgegriffen, für dieses Buch ein Grußwort zu schreiben, ist es doch wohl das erste Mal, dass in dieser Form – zumindest indirekt – das Verdienst der Botschaftsflüchtlinge, sei es in Prag, Budapest, Warschau oder der Ständigen Vertretung in Ostberlin, an der Wiedervereinigung unseres Landes beleuchtet wird.

    Es hat mich stets gewundert, dass dieses Faktum kaum beachtet wurde, wenn heute die Rede auf den Fall der Mauer in Berlin kommt.

    Freilich, unsere Flüchtlinge waren keine politischen Protagonisten im landläufigen Sinn. Sie hatten kein Sprachrohr. Sie waren in ihrer Mehrheit auch keine Intellektuellen, wie wir sie unter den allbekannten Dissidenten finden. Sie machten sich keine Gedanken über die Frage, inwieweit das System in der DDR reformiert und im Übrigen beibehalten werden könnte. Nein, sie waren einfach „das Volk", das es satt hatte, gegängelt, kommandiert, kujoniert zu werden und in einer permanenten Unfreiheit, Stagnation und politisch-wirtschaftlichen Sterilität leben zu müssen.

    Ihr Durchschnittsalter in Prag betrug (ohne die Kinder mitzurechnen) 28 Jahre. Es waren also vor allem junge Leute, die nicht, wie ihre Eltern, ein von der totalitären Diktatur verpfuschtes Leben in einem Käfig fortführen wollten.

    Die Prager Botschaft war zu einer Art Wallfahrtsort für tschechoslowakische Bürger geworden, die sich dort den Mut für ihre eigene politische Wende holten. Aber sie war auch ein Ort geworden, an dem sich ratlose ausländische Diplomaten fragten, wie die deutsche Frage, die man bislang zwar stellte, aber nicht beantworten wollte, nunmehr weitergehen werde.

    Dass meine Botschafterkollegen täglich säuberlich nach Hause berichteten, was sie bei ihren Spaziergängen zu unserer Botschaft gesehen hatten, war für mich klar. Und dass das mühsam erworbene internationale Prestige, das die DDR sich endlich errungen hatte, sichtbar jämmerlich zugrunde ging, war für uns in Gesprächen mit unseren ausländischen Kollegen evident geworden.

    Es geht heute nicht mehr um die Frage, ob die Monate im Herbst 1989 politisch brisant waren und die plötzliche Aussicht auf eine deutsche Wiedervereinigung ein höchst gefährliches Politikum darstellte, wie man damals wohl befürchten durfte.

    Historiker werden diese Frage eines Tages beantworten. Aber es geht mir mit diesem Grußwort darum, mitzuhelfen, den tapferen und durchweg anständig-höflichen Botschaftsflüchtlingen einen ihnen gebührenden und verdienten Platz in unserer Geschichte einzuräumen.

    Hierzu könnte das vorliegende Buch einen gewichtigen Teil beitragen.

    Hermann Huber

    Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Prag von 1988 bis 1992²

    Vorwort

    Die friedliche Revolution in der DDR aus der Sicht des Autors

    Eingebettet in die historischen Ereignisse des Jahres 1989, lief das Schicksal vieler DDR-Flüchtlinge vor meinen Augen ab, als wäre es gestern geschehen. Aber was wusste man damals mehr über sie als die Tatsache, aus welchem Land sie kamen und wohin sie fliehen wollten? In vielen Gesprächen berichteten einige von ihnen teilweise sehr ausführlich über ihre Herkunft, ihre ersten Westkontakte, ihre Fluchtmotive, die gelungene Flucht und manchmal auch über ihr Leben danach in Freiheit.

    In einer Zeit, da in Deutschland die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in der Öffentlichkeit, vor allem auch in den Medien, zunehmend an Intensität, Offenheit und Ehrlichkeit gewinnt, kann man hier einmal etwas über einige Einzelschicksale erfahren, die damals das Rad der Geschichte mitbewegten. Durch die Flucht dieser Menschen aus der DDR über die Botschaften in Ostberlin, Budapest, Warschau und Prag in die Bundesrepublik Deutschland entstand ein Vakuum in der DDR, das die Staatsführung zu Veränderungen zwang. Dabei darf man nicht die Gesamtsituation aus den Augen verlieren, denn auch die Daheimgebliebenen, viele Oppositionelle unter dem Schutzdach der Kirche und nicht zuletzt die Teilnehmer der vielen Demonstrationen bewirkten u. a. den Sturz der SED-Herrschaft.

    Die Fluchtgeschichten wurden in gegenseitiger, einvernehmlicher Abstimmung zwischen den DDR-Flüchtlingen und dem Autor dargestellt. Dabei kamen Erinnerungen wieder ans Tageslicht, die scheinbar verloren oder verdrängt schienen, die aber in Form von Emotionen und vereinzelten Gefühlsausbrüchen die Vergangenheit hervorkramten. Die Flucht war in den meisten Fällen die Folge bestimmter Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang mit dem bisherigen Leben dieser Menschen in der DDR, manchmal allerdings auch eine spontane Entscheidung, getroffen von jungen Menschen, die nun einmal auf keine lange Erfahrung zurückblicken konnten. Die meisten Interviews kamen mit DDR-Flüchtlingen zustande, die über die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflohen waren. Andere gelangten über die Warschauer Botschaft, die Budapester Botschaft oder die grüne Grenze in Ungarn in die Freiheit. Insbesondere die bundesdeutsche Botschaft in Prag bietet sich als imposante Bühne für dieses Buch an.

    „Zu einem historischen Datum gehört auch Geschichte sich ereignet. Es gibt sicher nicht architektonische Schönheit und geografische Lage sich mit der des Palais Lobkowicz messen können, auch wenn die Flüchtlinge, die 1989 im Schlamm des Lagers versanken, das einmal der Garten des Palais war, oder in der drangvollen Enge unter ein historischer Ort, an dem viele historische Orte, deren dem Dach des Palais ausharren mussten, dies nicht so empfunden haben mögen. Eingebettet in das unvergleichliche städtebauliche Ensemble der Prager Kleinseite liegt das hochbarocke Stadtpalais am Fuße des Petrin, den die Deutschen in Prag „Laurenziberg nennen, unterhalb des Klosters Strahov mit seinen malerischen Gärten. Nach einer wechselvollen Geschichte war das Palais 1927 von der böhmischen Adelsfamilie der Fürsten Lobkowicz, deren Namen es heute noch trägt, an den tschechoslowakischen Staat verkauft worden. Nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR im Jahre 1974 wurde das Palais dann im Sommer 1975 zum Sitz der (west-) deutschen Botschaft in Prag. Auch heute befindet sich dort die nunmehr alleinige deutsche Botschaft in der Tschechischen Republik. Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten im Laufe der letzten Jahre ist das Palais inzwischen eines der schönsten Beispiele für die barocke Architektur im an großartigen Gebäuden gewiss nicht armen Prag und mit Sicherheit eine der schönsten, wenn nicht die schönste unter den mehr als 140 Botschaften, die die Bundesrepublik Deutschland weltweit unterhält.³

    Ich erinnere mich noch recht gut an meine Gedanken an jenem Morgen im Frühling. Ich wachte etwas verschlafen auf, als ich wieder einmal zu einem Vereinstreffen eingeladen war, und fragte mich, ob das alles irgendwann zur Routine werden könnte.

    Die Forschungsgemeinschaft für Philatelie und Postgeschichte „Deutsche Einheit" e. V. beanspruchte für sich im Laufe vieler Jahre auf der Basis einer guten Zusammenarbeit, philatelistische und postgeschichtliche Besonderheiten rund um die Wendezeit zu sammeln und zu erforschen. Sie stellte Sammlungen ihrer Mitglieder auf öffentlichen Ausstellungen – etwa an den Tagen der Deutschen Einheit – einem größeren Publikum vor.

    Vieles schwirrte an jenem Morgen ungereimt in meinem Kopf umher. In einem wachen Moment kam mir der Gedanke, dass ich etwas Prickelndes vergessen haben könnte, das mir früher oft einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Da gab es doch noch etwas anderes! Am liebsten hätte ich den Traum zu Ende geträumt. Was war dieses „prickelnde Etwas"?

    Es war die Erinnerung an jene Jahre von etwa 1987 bis 1993, insbesondere an das Jahr 1989, als es jeden Morgen neue Nachrichten über den Ostblock gab, als ich immer wieder neu spürte, was sich auf der Bühne Europas zusammenbraute und später, als die Politiker der Politik hinterherlaufen mussten, weil rasend schnelle Veränderungen tagtäglich zum Umdenken zwangen, als der „Eiserne Vorhang" fiel und zuletzt, als sich wildfremde Menschen aus Ost und West in die Arme fielen und die überraschende Öffnung der innerdeutschen Grenzen und etwas später die Wiedervereinigung Deutschlands feierten.

    Erinnerungen an eigene Erlebnisse kamen in mir auf und ließen diese spannende Zeit wie in einem Film an mir vorüberziehen. Ohne diese Zeit, in der jeder von uns von den jeweils eigenen, persönlichen Erlebnissen geprägt wurde, ohne diese Ereignisse gäbe es unsere Forschungsgemeinschaft nicht, es gäbe keine „Tage der Deutschen Einheit und keine Jahrestage zur „Erinnerung an die Ereignisse in Prag 1989! Wir lebten damals urplötzlich in einer Welt, die sich jeden Tag änderte, die die Chance für ein gutes Ende in sich trug, aber die auch die Gefahr eines Krieges nicht ausschließen konnte. Warum flossen Tränen, als unser Außenminister, Herr Genscher, die erlösenden Worte in der Prager Botschaft vor den DDR-Flüchtlingen verlas? Es lag der Kitzel der Freiheit in der Luft. Wörter wie Reise- und Gedankenfreiheit, Erneuerung, Runder Tisch usw. machten die Runde. Es war eine Zeit, in der wir alles ganz intensiv erlebten, in der wir hoffen durften, dass es eine gute gemeinsame Zukunft geben würde für ein geeintes Deutschland, ein gemeinsames Europa und eine friedliche Welt. Mit jedem Atemzug inhalierten wir dieses unsagbar erhebende Gefühl, das den Menschen erst zum Mensch werden lässt.

    Eine Mischung aus abgeklungener Wut, Neugier, Dankbarkeit und Glück ließen mich dieses Buch schreiben.

    Abgeklungene Wut – weil ich viele der Normalitäten im Leben meiner Freunde aus der DDR nicht verstehen konnte. Ich war damals wütend über die vielen Ungerechtigkeiten, die den Menschen „drüben" widerfuhren, sobald sie ihr Leben in Freiheit gestalten wollten. Damit konnte ich mich nie arrangieren, auch nicht in meiner eigenen Heimat, nirgendwo auf dieser Welt. Ich wollte etwas dagegen unternehmen! Aber durch die friedliche Wiedervereinigung, durch die vielen Jahre, die wir in der BRD schon in Freiheit leben konnten, durch das Älterwerden war aus der Wut über die damaligen Verhältnisse eher der Wille entsprungen, darüber zu berichten, damit die Nachwelt uns als Zeitzeugen aus Ost und West mit unseren ganz speziellen Sichtweisen und Erlebnissen in Erinnerung behält, damit unsere Kinder aus dieser Vergangenheit für ihr Leben und für das ihrer eigenen Nachkommen lernen.

    Neugier – weil ich gespannt war wie ein aus dem Ast eines Haselnuss-Strauchs geschnitzter Flitzebogen aus meiner Kindheit, wie diese Schicksale von DDRFlüchtlingen – aus deren eigener Sichtweise – über die bundesdeutschen Botschaften in Ostberlin, Warschau, Budapest und Prag die Welt veränderten – Spannung pur!

    Dankbarkeit – weil ich einerseits dem Geschichtsverlauf dankbar bin, dass es friedlich zur Wiedervereinigung gekommen ist. Dankbarkeit andererseits gegenüber den Betroffenen, also den Flüchtlingen selbst, aber auch den „Machern" der Ereignisse, angefangen mit dem verstorbenen polnischen Papst, der polnischen Arbeiterbewegung der 80er-Jahre, dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow sowie vielen deutschen bzw. ausländischen Politikern und anderen Persönlichkeiten, die in das Geschehen erfolgreich und Frieden stiftend eingegriffen haben.

    Glück – weil ich über den Ausgang dieses so ereignisreichen „Kapitels der Geschichte glücklich bin, selbst wenn es in der heutigen Zeit noch viele Probleme zu lösen gilt, die durch die Wende und die Vorgeschichte der beiden „Staaten BRD und DDR entstanden sind.

    Beginnen möchte ich mit meiner „Wut. Ein Teil derselben konzentrierte sich auf den scheinbar betonharten Zustand zweier Machtblöcke im Osten und im Westen Europas: 1984 war Europa durch den „Eisernen Vorhang in jene zwei Machtblöcke geteilt, die durch beiderseitiges Wettrüsten immer größere Atombombenarsenale anhäuften, die das Horrorszenario von sich mehrfach gegenseitig auslöschenden, vernichtenden Großmächten und ihren Verbündeten, im Grunde fast der gesamten Menschheit, immer wirklicher erscheinen ließ.

    Schon Jahre zuvor, 1979, als die Gefahr eines 3. Weltkriegs nach dem KoreaKrieg und der Kuba-Krise einmal mehr immer größer wurde, erschien im Internet dieses „Gedicht von Udo Awe mit dem Titel „Der Bomben-Song, das auch heute leider nichts von seiner Aktualität verloren hat, wenn man etwa an den Atombombentest von Nordkorea im Jahr 2006 denkt:

    „Der Bomben-Song

    Was soll`s, ich mach mir Sorgen über die Welt von morgen, die wir selbst gestalten, verwalten, verfalten, verunstalten, spalten? Na gut, es gibt viele, die wollen sie erhalten, aber was zählt, sind die wenigen, die durch Geld regieren. Wenn 10.000 demonstrieren,

    was soll`s, ein Befehl und die Armee kann aufmarschieren.

    Söhne vom Volk, gegen das Volk. Sie werden Euch wieder zurechtrücken und durch Massenmedien und Ablenkungspolitik beglücken. Da soll ich nicht pessimistisch sein, wenn keiner folgt dem mahnenden Schrei? Sind wir wieder nicht aufgewacht, Arbeitslosigkeit, Naziparteien, Hochrüstungspolitik, Völker Achtung!

    Aufgepasst, wer hätte dies damals gedacht,

    als die Völker riefen: „Nie wieder Krieg" – ich hab so meinen Verdacht. Ich werde das nie kapieren, dass Menschen als Wissenschaftler daran experimentieren,

    wie neue Atomsprengköpfe funktionieren

    und welche, die daran verdienen.

    Dann Meinungsforscher, die glauben, man kann doch noch optimistisch sein und der Menschheit vertrauen.

    Will uns hier jemand die Taschen vollhauen, nein danke! Darauf kann ich keinen Frieden aufbauen.

    Seid Euch Eurer Unschuld bewusst, es wird Euch keiner glauben. Ihr habt es nicht gewusst!

    Der Bomben-Song – ich stationiere selbst auf dem Balkon. Eine Bombe allein hat die 50-fache Sprengkraft von Hiroshima, sagt selbst, ist das nicht ein friedliches Klima? Was heißt hier Abschreckungspolitik!

    Es reicht!

    Wir haben die Spaltung der Erde erreicht. Na, ist das nicht prima?

    Schon ein Unfall allein könnte der nächste Anlass sein. Aller guten Dinge sind eben mal drei, was ist schon dabei? Also, lasst es mit der Hochrüstung sein!

    Ich mach Euch einen Vorschlag mit der Hochrüstungsknete, starten wir `ne Friedensfete,

    mit diesem Geld

    beenden wir das Elend der Dritten Welt

    und machen unsere Umwelt wieder rein,

    ja, das müsste mal so sein,

    dies ist doch ein Grund, mal optimistisch zu sein. Aber sag mal, bin ich allein?

    Was, 100.000 gehen auf die Straße und wollen dafür demonstrieren? Was, die Armee will mitmarschieren, unsere Söhne des Volkes? Was denn, das ganze Geld

    Für eine schönere Welt?

    Ihr meint auch, dass dies im Leben zählt, stolz zu sein, ein Mensch zu sein.

    Wie konnte ich bloß zweifeln und pessimistisch sein, ist das nicht schön, ich bin mit meiner Meinung nicht allein. Wir müssen es angehen, wir sind nicht mehr allein! Du bist doch auch dabei? Was soll`s, ich mach mir Sorgen! Eh Du, denkst Du nicht auch an morgen?"⁴

    Der Autor dieses Gedichts war Mitglied eines „Ostalgie-Diskussionsforums" im Internet. Als ehemaliger DDR-Bürger machte er sich schon früh seine eigenen Gedanken zu Themen aller Art, die die Menschheit bewegten. Viele seiner Werke konnten zu DDR-Zeiten nicht veröffentlicht werden.

    In den achtziger Jahren setzte sich in vielen Ländern die Einsicht durch, dass es so nicht weitergehen könne. Dies verdankte die Menschheit weniger Philosophen oder einigen weisen Politikern als dem Mangel an Geld, der ein weiteres Wettrüsten unsinnig erscheinen ließ. Mangelwirtschaft im Ostblock, aber auch Zweifel an den bislang so unerschütterlich von Generation zu Generation weitergegebenen Ideologien bewirkten ein Umdenken bei manchen Politikern, Gewerkschaften und anderen, die den Verfallszustand nicht weiter hinnehmen wollten.

    Glückliche Umstände ließen Michail Gorbatschow als mächtigsten Mann der UdSSR an die Macht kommen. Er versuchte sie für eine ideologische und faktische Erneuerung seines Landes zu nutzen. Aus heutiger Sicht hatte Michail Gorbatschow mehr außen- als innenpolitische Erfolge zu verzeichnen. In Deutschland ist er auch heute oft noch – mehr als 15 Jahre später – ein angesehener Gast mit hohem Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad.

    Mitte der 80er-Jahre stand man vor der Frage, wie es weitergehen sollte, und da bereiteten die Ideen eines Michail Gorbatschow vom gemeinsamen europäischen Haus eine grundlegende Wende vor.

    In diesen Jahren des geistigen Umbruchs in der UdSSR besuchte ich erstmals mit meiner Frau und meinen drei kleinen Kindern Freunde in der DDR. 1984 erhielt ich von einem Freund zwei Briefmarken-Tauschpartner aus der DDR, einen aus Halle/Saale, den anderen aus Zschornewitz bei Bitterfeld. Wie sehr Briefmarken ein Spiegelbild insbesondere der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse eines Landes sind, sollte ich im Laufe der Jahre immer wieder bestätigt finden. Dabei spielt auch eine Briefmarkensammlung eine kleine Nebenrolle in einer Fluchtgeschichte.

    Anfänglich hatte ich eine eher unbefangene Einstellung gegenüber dem DDRRegime. Von einer Reise zur nächsten wurde ich, aufgeputscht durch den intensiven Briefwechsel mit den Freunden, immer „wütender über die Machthaber in der DDR. Je fester die Freundschaft mit den beiden Tauschpartnern und ihren Familien wurde, desto mehr fühlte ich mich auch „persönlich angegriffen, etwa durch die Stasi, die nicht nur viele Menschen in der DDR bespitzelte, nein, die „sogar" unser nett verpacktes Weihnachtspaket mehrere Tage verzögerte, es öffnete, aus dem NussNougat-Brotaufstrichglas naschte und das Paket dann in arg lädiertem Zustand unseren Freunden durch die DDR-Post zustellen ließ.

    Ich fühlte mich auch angegriffen durch die diversen Arten der Pkw- und Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze, die man bei der Einreise in die DDR über sich ergehen lassen musste, insbesondere auch durch den Versuch, einem Angst einzujagen, vor allem durch die Angst um unsere Kinder, für die wir eine große Verantwortung verspürten. Vor Ort empfand ich es als zusätzliche Schikane, dass eine erneute persönliche Anmeldung bei einem örtlichen Volkspolizisten zu erfolgen hatte. Dieser Polizist – strohdumm, aber sich seiner Macht, besonders über unsere knappe Besuchszeit, sehr bewusst – ließ uns längere Zeit warten, obwohl außer uns und unserem Gastgeber niemand in dem kleinen Büro anwesend war. Man merkte, dass er hinter einer Glasscheibe saß und irgendeine Arbeit erledigte, die er sicher hätte verschieben können, bis er sich endlich herabließ, das kleine Fenster in der Scheibe zu öffnen und uns erneut nach den Personalien befragte. Dies geschah in einem derart herablassenden Ton, dass man geneigt war, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn durchaus hätten verärgern können und ihn gezwungen hätten, uns noch länger an diesem lieblosen Ort zu behalten. So schluckte ich alles herunter, was meiner Familie und besonders unserem Gastgeber zum Schaden hätte gereichen können.

    Andere Ärgernisse waren die relativ leeren Läden und die teilweise langen Wartezeiten in den Restaurants, das zeitweise von mir nicht verstandene, verklausulierte Gerede im Flüsterton über scheinbar geheime, von uns im Westen nur schwer nachvollziehbare Verhaltensweisen, die von den Bewohnern der DDR und teilweise von Besuchern erwartet wurden.

    Und erst recht die farblosen, oft halbzerfallenen Häuser, der allgegenwärtige Geruch der Braunkohle als meistverwendete Heizungsfeuerung, der beißendschwefelhaltig-gelbe Qualm, der die Sicht eines Tages in Zschornewitz auf etwa 50– 100 Meter reduzierte und der am Ortseingangsschild mit „Achtung, Industrienebel!" angekündigt wurde. Meine damals 6-jährige Tochter benutzte für das Bild über den Ort, den wir besucht hatten, keine Buntstifte: Menschen, Autos, Häuser – einfach alles war grau auf diesem Bild, fast wie in der Realität, wären da nicht die Menschen gewesen, ihre herzliche Gastfreundschaft, mit der meine Familie und ich früher in der DDR empfangen wurde – vergleichbar mit der selbstlosen Gastfreundschaft, die uns auf unseren Motorradfahrten in südlichen Mittelmeerländern entgegengebracht wurde.

    Ich begann schon nach meiner ersten Reise in die DDR 1987 mit dem Ausschneiden, Kopieren und Versenden von Zeitungsartikeln über die Wende im gesamten Ostblock in Briefen mit schönen Marken. Aber selbst der Briefmarkentausch musste bestimmten Ritualen folgen, die viel zu umständlich waren und nur dem Ziel dienten, einem Zoll-Devisen-Vergehen vorzubeugen. Unter vielen Sammlern gab es – beinahe zwangsläufig – schon immer den „Schwarztausch" am DDR-Zoll vorbei.

    Seit dieser Zeit konnte ich viele neue Schlüsse aus den sich nach und nach zu einem Bild formenden Puzzleteilen des Geschichtsverlaufs ziehen und die Öffnung der Grenze und die anschließende Wiedervereinigung meinen Freunden vorhersagen, bin aber bei beiden Familien mehr oder weniger auf Ungläubigkeit gestoßen. Die Wirtschaft der DDR, die zwar jahrelang im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten eine führende Rolle spielte, hatte 1988 und 1989 stark gelitten, nicht zuletzt auch durch die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte in den Westen. 1987 sahen einige Preise im Osten noch so aus: Eine Dose Ananas kostete etwa 12,– M, eine gute Tafel Schokolade 9 bis 12,– M, ein Farbfernseher, russisches Modell 3500,– M bzw. japanisches Modell 7.000,– M, während ein Durchschnittsverdienst etwa 850 bis 1.000,– M netto monatlich betrug. Während alltägliche Lebensmittel, Mieten und Löhne auf einem niedrigen Niveau pendelten, musste man in der DDR viel Geld für bestimmte Gegenstände bezahlen, wie etwa Unterhaltungselektronik, Autos usw. Vieles war darüber hinaus gar nicht käuflich zu erwerben (Mangelwirtschaft). Im gleichen Jahr, als das geteilte Berlin seine 750-Jahr-Feier zelebrierte, besuchte Erich Honecker am 7. September 1987 die Bundesrepublik und wurde von Helmut Kohl mit allen Ehren empfangen. In dieser Zeit wurden neue, gegenseitige Vereinbarungen getroffen und kurz danach viele politische Häftlinge im Zuge einer allgemeinen Amnestie in der DDR aus der Haft entlassen.

    Es handelte sich dabei um Fälle gescheiterter Fluchtversuche und um DDRBürger, die sich im Zusammenhang mit Ausreiseanträgen nach DDR-Recht strafbar gemacht hatten. 1988 und 1989 begann es in der DDR zu „brodeln".

    In meiner Jugendzeit war die DDR für mich ein „weißer Fleck auf der Landkarte, ein unbekannter Staat in Europa, über den ich mir nur selten Gedanken machte. Bis Mitte der achtziger Jahre hatte ich nie etwas mit der DDR zu tun – außer einem Besuch in West-Berlin, als ich mit einer 250ccm-MZ, einem auch im Westen beliebten und robusten Einzylinder-Zweitakt-Motorrad aus Zschopau/DDR, über die Transitstrecke knatterte. Meine wenigen Besuche 1987 bis 1990 in der DDR lehrten mich im Crashkurs mehr über dieses Thema als der in anderen Bereichen sonst sehr gute Geschichtsunterricht am Gymnasium, der dieses Thema – genau wie die „braune Vergangenheit Deutschlands – aus Zeitgründen nur „peripher tangierte. Allerdings kam das Gespräch während solcher Besuche drüben nie auf Themen wie „Ausreiseantrag, „Flüchtlinge, „Offene Kritik an der DDR. Wir beschränkten uns zwar keineswegs nur auf die private Ebene, diskutierten auch kontrovers, doch wurden einige Themen geschickt übergangen, wenn auch eher unabsichtlich.

    ERSTER TEIL

    Einzelschicksale und Fluchtgeschichten

    Bis zum Buch war es ein weiter Weg… - Gehen wir gemeinsam weiter…

    Nachdem die erste Phase der Suche nach DDR-Flüchtlingen – über Botschaften, Behörden, Radiosendern und Mundpropaganda - vorüber war, folgte eine Menge von Telefonaten und Besuchen. Die Interviews wurden immer mitgeschrieben. Dann folgte ein erster Textentwurf, der entweder per e - mail oder auf dem Postweg mehrmals hin- und hergeschickt wurde, jedes Mal ein wenig ergänzt, verändert oder verbessert. Irgendwann einmal stand der Text zur beiderseitigen Zufriedenheit und fand so seinen Weg ins Buch. So lernte man sich auch ein wenig kennen – eine Voraussetzung für so ein sensibles Unterfangen. Man las empfohlene Literatur, lernte viele nette Menschen kennen, die Mut machten, auch wenn der Weg weit und etwas holprig war. Da gab es auch wohl gemeinte Ratschläge und Unterstützung von einigen Verlagen, während andere nicht über ihren Schatten springen wollten. Auf einer Ungarn – Reise nach Sopron anlässlich der 20-Jahr-Feier der Öffnung des „Eisernen Vorhangs (mit Denkmaleinweihung und Gedenkfeier „Paneuropäisches Picknick) wurde die Vergangenheit wieder so lebendig, dass der Autor demnächst mit einem zweiten Buch beginnen wird, das als Ergänzung und Fortsetzung gedacht ist, aber auch weitere Fluchtgeschichten von damals – über Polen, Ungarn und die CSSR aufnehmen kann. Das Jahr 1989 wird in der deutschen Geschichte als das Jahr der friedlichen Revolution eingehen. Das ohne Waffeneinsatz in Frieden wiedervereinte Deutschland und der Plan für ein friedlich vereintes Europa sind vielleicht erste Ansätze für eine Welt ohne Kriegsschauplätze.

    DDR-Fluchtgeschichten über Ungarn (Budapest, Sopron…) in die BRD

    FLUCHTGESCHICHTE 1

    Agnes Baltigh - Kassiererin auf dem Zeltplatz bei Fertörákos

    1989 war ein heißer Sommer in Ungarn. Seit dem Mai 1989 war wieder die nette Ungarin Kassiererin auf dem Zeltplatz bei Fertörákos am Neusiedler See. Agnes Baltigh war damals etwas mehr als 60 Jahre alt, aber es machte ihr immer noch Spaß, als kleine Ergänzung für ihre Rente Eintrittskarten an Camper aus allen möglichen Ländern zu verkaufen. Sie beherrschte als einzige Angestellte vor Ort auch die deutsche Sprache. Auch wenn sie damals kaum Zeit hatte, die Politik zu verfolgen, so bekam sie doch mit, dass ungarische Soldaten im Juni den Stacheldrahtzaun abmontierten und die Betonsäulen aus dem Boden entfernten.

    Kurz danach wurde auch das Badeverbot für Bürger aus osteuropäischen Ländern im Neusiedler See aufgehoben. Das bedeutete allerdings nicht, dass die Grenzen jetzt schon allgemein geöffnet waren.

    In ihren Erinnerungen berichtet Agnes Baltigh über jene Zeit unter dem Titel „Es war einmal ein eiserner Vorhang (Bruchstücke eines Tagebuches)":

    „Kaum war 7 Uhr vorbei, als drei alte, kleine Trabis mit lächelnden, jungen Männern hinter dem Lenkrad, neben mir stehen blieben. „Sprechen Sie deutsch?, fragten sie. „Ja war meine Antwort. „Sind Sie aus der DDR? fragte ich. „Jawohl. Sagen Sie bitte, ist das Dorf dort drüben Mörbisch? Da wollen wir nämlich hin. Das wird Euch nicht gelingen, dachte ich. Es gibt viele Wachen hier, oft mit Hunden, und im Wasser ist es unmöglich durchzukommen! Ich redete ihnen also zu, den See, die Sonne, die schöne Umgebung zu genießen. Später kommen bestimmt auch hübsche ungarische Mädchen zum Strand. Sie sollten sich amüsieren! Nach einiger Zeit verschwanden sie in Richtung Strand. Ich machte meine Arbeit weiter ...

    Es dürfte früher Nachmittag gewesen sein, als ich sie, stehend an der Ecke unseres kleinen Hauses, entdeckte. Sie tranken Cola, plauderten gemütlich. Aber sie nutzten die Gelegenheit. Als ich für einige Minuten zu Atem kam, da standen sie gleich neben mir. Ich bekam auch etwas zu trinken, und sie begannen mich anzuflehen...

    „Wie könnten wir hinüberkommen? Wie könnte man es machen? Zurück wollen wir nicht mehr! Dort ist eine Scheißwelt! Honecker soll sich zum Teufel scheren! Wenn Sie, Tantchen, hier im Ort wohnen, müssen Sie einen Weg durch den Wald kennen! Ginge es nicht?"

    „Ich kenne den Wald nicht so gut, aber meine Freundin, die hier geboren ist, muß die Gegend besser kennen."

    Wir blieben dabei, dass sie noch einen Tag warten sollten. Am Abend gehe ich in die Nachbarschaft, und wenn ich einen guten, nutzbaren Rat bekomme, flüstere ich ihnen am folgenden Tag ins Ohr ...

    Hilda, meine Freundin, half uns. Sie erzählte ausführlich, wo man am kürzesten durch den Wald nach Mörbisch gehen kann. Sie kannte sich gut aus, denn vor dem Krieg war es üblich, Sonntag nachmittags die Nachbarschaft in Mörbisch zu besuchen.

    Ich weiß nicht, ob am folgenden Tag die deutschen Burschen oder ich aufgeregter waren. Ob es ihnen gelingen wird? Ich empfahl ihnen, ihre Trabis irgendwo auf der Hauptstraße oder in der Nähe des Steinbruchs zu lassen. Nach drei warmen Küssen „pufften" sie in Richtung Fertörákos.

    Wahrscheinlich gelang die Aktion, denn ihre Trabis standen nach zwei Tagen immer noch beim Steinbruch ..."⁵

    Im Juli trafen immer mehr DDR-Bürger auf dem Zeltplatz ein. Immer mehr von ihnen sprachen Agnes Baltigh vorsichtig an, ob sie Möglichkeiten und Wege kenne, wie man gefahrlos nach Österreich fliehen konnte. Inzwischen machte sich die nette, ältere Dame so ihre Gedanken, wie das enden könnte:

    „Ich spekulierte, meditierte viel, was ich tun sollte. Alle sind so jung, entschlossen, verzweifelt und hilflos ... Was könnte mir passieren, wenn ich helfe, und geschnappt werde? Führt man mich zur Polizeiwache? Werde ich verhört? Ich würde mich irgendwie herausreden. Was könnten sie mit einer alten Rentnerin tun? Wahrscheinlich nichts. Die haben jetzt größere Probleme! Wer fliehen will, wird mich nicht verraten. Hoffentlich versteckt sich keiner von der Stasi unter ihnen! Oder wollen die auch nach dem Westen? Also muß ich geschickt sein, um nicht aufzufallen bei meinen Mitarbeitern, die sowieso kein Wort deutsch verstehen!"⁶

    Es blieb ihr kaum Zeit, darüber nachzudenken. Jeden Tag kamen neue Flüchtlinge auf den Zeltplatz. „Aber immer neue kamen, und die Wiese am Strand war wieder voll. Jetzt (es sah so aus) hatte ich mich zu etwas endgültig verpflichtet. Einen Rückzug gab es nicht, ich musste weitermachen! Nein sagen konnte ich nicht mehr. Alle schienen so verbittert zu sein, erzählten erschütternde, traurige Geschichten. Das größte Problem der Jugendlichen war aber, sich eingesperrt zu fühlen. Damals, als wir Ungarn schon seit Jahren fast überall hinfahren durften!"⁷

    Ernste Bedenken bekam Agnes, als sie von einer Familie mit einem kleinen Kind um Hilfe gebeten wurde:

    „Der Zufall führte mich mit verschiedenen Menschen, Familien zusammen und manchmal ergaben sich interessante Situationen. Sie schlossen sich als Fremde an mich, aber nach einigen Stunden waren wir gute Freunde, als kannten wir uns schon lange ...

    Zum Beispiel die Familie W. (Bettina, Ulf und die vierjährige Katerina). Sie waren auf Urlaub in Ungarn. Als sie hörten, es sei erlaubt, ins ehemalige Grenzgebiet zu fahren, auch zum Neusiedler See, packten sie ihre Sachen zusammen und fuhren vom Plattensee mit vielen anderen Leuten aus der DDR hierher.

    Sie gehörten auch zu denjenigen, die tagsüber nicht weit von mir lauerten, mich aber einige Tage lang nicht anredeten.

    Die kleine Katerina lief aber oft zu mir und wollte unbedingt beim Kartenverkauf helfen. Sie war freundlich und plapperte, ebenso wie meine kleinste Enkelin, Piroska. Ich gab ihr also einige Karten. Wie froh sie war, die Eintrittskarten den in Autos sitzenden Gästen in die Hand geben zu können!

    Eines Abends stand aber auch die Familie W. zwischen den Wartenden. Ihr Urlaubsgeld war aus und sie stellten sich die Frage, sollen sie nach Hause fahren oder sollen sie mit dem Kind den gefährlichen Weg, die Flucht über die grüne Grenze versuchen.

    Wenn sie durchkommen, ist alles in Ordnung. Sie haben bei Frankfurt einen Onkel, der sie gerne annimmt und in allem behilflich sein wird. Da könnten sie hin.

    Doch sie wären hier die ersten, die sich mit einem kleinen Kind am frühen Morgen auf den Weg machen würden. Soll ich den Mut haben, sie dazu zu überreden? Und wenn die Kleine nicht still bleibt und sie mit der Wache aneinandergeraten?

    Schließlich trafen sie die Entscheidung, sie würden gehen!

    Meine Aufgabe war nun (was ich in der Zeit noch mehrere hundertmal getan habe), die Strecke, wo sie gehen müssen, aufzuschreiben. Ich machte sie auf die Schwierigkeiten und Gefahren aufmerksam.

    Bettina war erfinderisch. Würden sie mit den Soldaten zusammentreffen, fällt sie zusammen, täuscht Ohnmacht vor. Katerina beginnt dann bestimmt zu weinen, die Soldaten bemitleiden sie und lassen sie weiter! Dazu kam es, Gott sei Dank, nicht! Wir besprachen noch, dass sie, wenn sie mit Glück ankommen, mir eine Karte schicken, und zwar verschlüsselt, damit ich keinen Ärger bekomme. Zum Beispiel: Der Ausflug ist gelungen, oder: Die Bauchschmerzen sind vorbei, danke für Deine Arznei ...

    Sie waren die ersten, die weinend von mir Abschied nahmen. In einigen Tagen war die Ansichtskarte da. Ich bewahre sie heute noch auf, wie auch die anderen, die ich von meinen Schützlingen immer wieder bekommen habe."⁸

    Agnes erinnerte sich daran, dass es nicht nur auf die genaue Wegbeschreibung ankam. Manche eher ängstliche Menschen brauchten einen Fluchthelfer, der ihnen den Weg zeigte, ihnen helfen konnte und ihnen die nötige Sicherheit geben konnte. Insbesondere musste Agnes auf den Spitzel hinweisen, der beim Steinbruch lauschte.

    Doch dieser wartete wohl eher auf DDR-Autos und weniger auf ungarische Fahrzeuge. Der Text, den sie den Flüchtlingen Tag für Tag mit auf den Weg gab, prägte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein.

    „Wenn man mich damals in der Nacht geweckt hätte, hätte ich automatisch den folgenden Text vor mich hingemurmelt:

    „Geht zum Restaurant ‚Diana‘. Hinter dem Hügelrücken ist der Wald mit einem Waldweg. Büsche, Bäume und nach einer leichten Steigung die Weingärten.

    Dann die Wegkreuzung, wo meistens die Wache verkehrt. Drei Wachttürme stehen in dieser Linie und ich habe erfahren, dass der in der Mitte nicht bewacht ist! Da müsst ihr geschickt durchlaufen. Dann wieder Büsche, der alte Drahtzaun, verrostet und an einigen Stellen löchrig, wo man durchschlüpfen kann. Von hier aus nur noch einige hundert Meter bis nach Österreich, in die Freiheit! Unsere Freunde von drüben stellen im Wald Tafeln mit Pfeilen nach Mörbisch zeigend auf und beleuchten die am Dorfrand stehenden Häuser in der Nacht, um die Richtung besser zu sehen!"⁹

    Unerwartete Hilfe bekamen DDR-Flüchtlinge – ohne es im Geringsten ahnen zu können – vonseiten der Österreicher und manchen ungarischen Grenzsoldaten. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass jede Flucht ein Wagnis war. Ein Flüchtling wurde noch im Sommer 89 erschossen. Der ungarische Todesschütze zeigte anschließend seine Reuegefühle offen in einem Film vor laufender Kamera. Die Frau des toten Flüchtlings hatte ihm verziehen – vergessen werden es beide wohl nie!

    „Über das Verhalten der Grenzsoldaten muß ich auch schreiben. In diesen Wochen war ihr Dienst noch anstrengender als sonst. Meistens gingen sie zu viert, auch mit einem Hund, auf Streife. Man hörte, dass die meisten anständig, verständnisvoll waren. Wenn der Busch sich bewegte, versuchten sie, nicht hinzuschauen und bewegten sich in die andere Richtung ...

    Auch die Österreicher waren dafür dankbar. Sie legten unter bestimmten Bäumen und Büschen Geschenke hin: Zigaretten, Schokolade, Bananen, Orangen usw. Bestimmt freuten sich die Soldaten, denn, wenn auch die Verpflegung in der Kaserne gut war, mit Süßigkeiten wurden sie nicht verwöhnt!"¹⁰

    Bis Mitte August hatte Agnes Baltigh schon vielen DDR-Bürgern den Weg in die Freiheit gezeigt. Sie wollte nie Geld für ihre Hilfe. Eines Tages kamen wieder viele Menschen aus verschiedenen ungarischen Lagern (Csillebérc, Zánka) auf den kleinen Zeltplatz. Es war ein Samstag. Sie diskutierten über ein Picknick, über das überall gesprochen wurde. Es handelte sich um ein ungarisch-österreichisches Freundschaftstreffen mit Programm und offener Grenzschranke. Veranstalter waren damalige ungarische Oppositionsparteien, als Ort wurde ein Platz an der Grenze in der Nähe von Sopron gefunden.

    Man fragte Agnes, ob sie eine Flucht befürworten würde. Es war nicht so leicht, eine Entscheidung zu treffen, denn es ging um mehrere Hundert Menschen.

    „Wir entschieden, dass sie nach 12 Uhr einzeln mit den Autos losfahren, damit sie kein großes Aufsehen erregen. Ich beschrieb den Weg dahin: Bei Kohida rechts einbiegen und so lange fahren, bis sie eine Wiese finden, wo wahrscheinlich schon viele Autos parken.

    Versteck können sie zwischen den Bäumen und Büschen finden. Gelegenheit wird sich schon ergeben, dass sie hinüberlaufen können!

    Die Trabis, Wartburgs sausten vor mir vorbei, das Seeufer wurde langsam leer. Nur einige ungarische Gäste badeten. Es wurde vom Picknick geflüstert. Ob darüber im Abendfernsehen Bilder gesendet werden? Ich dachte an meine Deutschen, was sie jetzt wohl machen? Ob es ihnen gelingt?

    Meine Arbeitszeit war vorüber, kein einziges Auto kam zurück! Es gelang ihnen – dachte ich. Aber auf welche Weise, das habe ich erst am nächsten Tag erfahren."¹¹

    Agnes Baltigh erfuhr alle Einzelheiten von ihrer Freundin Hilda, die mitgefahren war, um sich alles anzusehen. Die Bilder im Fernsehen gaben nur wenig Auskunft über die Massenflucht.

    „Als die Schranke aufgezogen wurde, damit die österreichischen Gäste herüberkommen konnten, liefen die Deutschen mit riesigem Geschrei überall aus dem Wald heraus! Tische, Stühle wurden umgestoßen! Die Zuschauer sprangen auseinander, um die rennende Menge vorbeizulassen! Die Veranstalter, die Soldaten usw. schauten den Ereignissen wie gelähmt zu! Vielleicht wollten sie auch nichts dagegen tun?

    Jeder hörte mit angehaltenem Atem nur zu, wie die jubelnde Menge – schon auf österreichischer Seite – laut schrie: „Wir sind frei! Wir sind frei!"¹³

    Schätzungen belaufen sich auf eine Zahl zwischen 500 und über 700 DDRFlüchtlingen. Noch im August 1989 filmte ein französischer Fernsehsender auf dem Zeltplatz und interviewte die Kassiererin. Einen Monat später öffnete Ungarn seine Grenzen nach Österreich auch für DDR-Bürger. Früher als geplant öffnete sich an einer Stelle der Eiserne Vorhang. Es sollte noch ein langer und ereignisreicher Herbst 1989 werden. Hier die abschließenden Erinnerungen von Agnes Baltigh, der viele Menschen ihre Freiheit verdanken:

    „Ende September schloss die Kassa am See, es wurde still, ruhig. Wir beendeten unsere Arbeit bis zur nächsten Saison. Ich konnte zu Hause mit dem Großreinemachen beginnen. Und da kam die Überraschung!

    Ich fand in den Schubladen, zwischen den Handtüchern, in meinem Kochbuch, in meiner Zigarettenschachtel, zwischen den Büchern am Regal usw. überall Papiergeld, Forintscheine!

    Wahrscheinlich dachten meine Schützlinge, sie können das Geld nicht mehr brauchen und mir wird damit geholfen. Sie machen mir eine kleine Überraschung! Es gelang ihnen! Wer und wann das Geld versteckte, werde ich nie erfahren!

    Jetzt und an dieser Stelle bedanke ich mich bei ihnen dafür! (Ich habe die „Spende" für den Grabstein meines Mannes verbraucht).

    Es war eine kurze Episode meines Lebens, bewegungsvoll und denkwürdig. Meine eigene Familie musste ich während der Zeit vernachlässigen. Aber es kann Zeiten geben, wo man für andere, für Fremde auch etwas tun muss, wenn sie Hilfe brauchen! Sind 6 Wochen in einem Leben so viel? Mir kommt es, als nur einen Augenblick vor."¹³

    FLUCHTGESCHICHTE 2

    Massenflucht aus Ungarn – Alles lief ab wie in einem Film!

    Eine junge Frau erzählt hier von der ersten Massenflucht, bei der sie maßgeblich beteiligt war und die sogar von einem kleinen ungarischen Filmteam begleitet und gefilmt wurde.

    Janina Gleitsmann wurde am 16.09.1965 in Neubrandenburg/DDR geboren. Sie wuchs dort mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Kerstin auf. Ihr Vater war Offizier bei der NVA, ihre Mutter Lohnbuchhalterin bei VEB Hydrogeologie Neubrandenburg. Der Bruder ihrer Mutter, ihr Onkel, war bei der Stasi beschäftigt.

    1970 zog die Familie nach Strausberg um, weil ihr Vater ins Ministerium für Nationale Verteidigung berufen wurde.

    Von 1970 bis 1985 verbrachte Janina ihre Jugendzeit in Strausberg. Sie absolvierte dort die POS von 1972 bis 1982 und beendete die 10. Klasse mit sehr gutem Abschluss.

    Von 1982 bis 1984 folgte eine Ausbildung als Lebensmittelchemielaborantin mit sehr gutem Abschlusszeugnis.

    Sie war schon früh Pionierratsvorsitzende, 2 Jahre lang Agitatorin in der FDJ und lange Zeit überzeugt von dem, was man ihr in der Schule und im Elternhaus über den Marxismus/Leninismus bzw. seine Auswirkungen auf den Sozialismus in der DDR beibrachte.

    In den Schulklassen in Strausberg lernten überwiegend Kinder aus Armeefamilien.

    Lediglich Janinas Mutter ergänzte die Erziehung manchmal durch Hinweise wie „Kind, du solltest alles, was dir unklar ist, hinterfragen." Janina wurde von ihrer Mutter allseitig erzogen, erst recht, nachdem diese allein erziehend war. Die Trennung ihrer Eltern erfolgte, als sie etwa 10 Jahre alt war.

    Spätestens in der 9. Klasse, besonders im Fach Staatsbürgerkunde, kamen bei Janina erste Zweifel auf. Sie war von den vielen Ungereimtheiten, die sie bisher unwidersprochen hingenommen hatte, nicht mehr so überzeugt. Es blieben viele offene Fragen zur Grenze, zur Reisefreiheit und Berufswahl in ihrem Heimatland.

    Janina lebte mit ihrer Schwester nach der Scheidung ihrer Eltern bei ihrer Mutter. Der Kontakt zum Vater wurde damals abgebrochen.

    An ihrem 10. Lebensjahr sahen sie zu Hause erstmals Westfernsehen, denn das war zwar im Berliner Raum immer schon erreichbar, aber zuvor wegen des Berufs ihres Vaters undenkbar und verboten.

    Überhaupt durfte es keinerlei Kontakte in den Westen geben. Die einzige Verwandtschaft im Westen war ein Bruder ihrer Uroma, der einmal Anfang der siebziger Jahre aus Amerika zu seiner Schwester in die DDR zu Besuch kam. In jener Zeit war auch Janinas Familie bei der Uroma in Urlaub. Um dem angekündigten Westbesuch nicht begegnen zu müssen, da ein solcher Kontakt in dieser Zeit ihrem Vater strengstens verboten war, konnten sie sich das nicht aussuchen, und so musste die Familie ihren Urlaub vorzeitig abbrechen und nach Hause zurückkehren.

    Als ein weiteres Beispiel für die Perversität von DDR-Gesetzen, Verordnungen usw. konnte man die Unterschrift von Eltern ansehen, die sich von ihren leiblichen Kindern abkehren mussten, sobald diese für immer in den Westen ausgereist waren, entweder über einen genehmigten Ausreiseantrag oder eine geglückte Flucht.

    Janinas Mutter war als Lohnbuchhalterin von 1977 bis Ende 1984 beim VEB Bauelemente Strausberg und von 1985 bis zur Wiedervereinigung als zivile Angestellte bei der Stadtkommandantur von Berlin am Alexanderplatz tätig.

    Zu Strausberger Zeiten, als Janina ungefähr 16 Jahre alt war, gab es auch für sie ein gravierendes Schlüsselerlebnis. Ihre Mutti verwaltete damals die Gewerkschaftskasse des FDGB in der Firma. In den Sommerferien 1984 arbeitete Janina als Schülerin in der Produktion. Eines Tages kam die Polizei auf das Firmengelände und sie bekam mit, dass die Gewerkschaftskasse mit ungefähr 200,00 Mark bestohlen worden war. Ohne die geringste Ahnung wurde sie zu einem Verhör gezwungen und so massiv unter Druck gesetzt, dass sie zugeben sollte, dass ihre Mutti bzw. sie selbst das Geld gestohlen hätte. Man ging einfach von der unbewiesenen Annahme aus, dass bei Alleinerziehenden die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld immer knapp war, sicher am größten war und daher auch die Versuchung, es zu stehlen.

    Auf der anderen Seite gab es da eine Offiziersgattin, die als einzige der Kolleginnen ihrer Mutti ebenfalls Zugang zur Kasse hatte und im Übrigen ständig unter Geldproblemen litt. Doch wurde ihnen klar zu verstehen gegeben, dass Offiziersdamen einen Gelddiebstahl nicht nötig hatten, – Originalton Kripo – sodass die Schuldfrage schnell geklärt war. Natürlich war ihre Mutti unschuldig! Noch heute träumt ihre Mutti an schlechten Tagen von diesem Vorfall! Janina wurde 3 Stunden verhört.

    Dabei wurden ihre Mutti und sie und ihr damaliger Freundeskreis immer wieder frech verleumdet. Unter dem Motto „Wenn Du es nicht warst, dann hast Du Schmiere gestanden und Dein Freund hat mit seiner Clique den Diebstahl begangen. wurde Janina verbal bedrängt. Sie wussten genau, zu welchen Leuten Janina Kontakt hatte. Dass sie eine sehr gute Erziehung hatte und dass sie in jener Zeit FDJ-Agitator war und „treu zum Staat stand, zählte nicht. Dies traf sie tief im Innersten und solche oder ähnliche Erlebnisse prägten sie. Zum Schluss verspürte sie nur noch Hass auf diesen Staat DDR.

    Ihre Mutti arbeitete bis zum Erreichen des Rentenalters anschließend für die Bundeswehr als Angestellte.

    Schon bald war für Janina klar, dass sie im Falle einer Flucht keinen ihrer Verwandten oder Freunde in die Pläne einweihen durfte. Ihrer Mutter gegenüber machte sie nur Andeutungen, aber keine genaueren Angaben. Mit 18 Jahren wurde Janina dann immer klarer, dass sie nach einem sicheren Weg suchte, das Land verlassen zu können. Das hatte sie auch der Mutter gegenüber in Gesprächen erwähnt, hatte aber nie einen Ausreiseantrag gestellt, um diese vor Repressalien zu schützen, denn dann hätte sie nicht nur den Arbeitsplatz verloren, sondern auch ihre Wohnung, da diese zum Bestand der Stadtkommandantur gehörte.

    Unterdessen bestand auch keine Verbindung mehr zum Onkel, der bei der Stasi beschäftigt war.

    Für Janina wäre das Abitur als Start in eine berufliche Laufbahn als Lehrerin o. Ä. nie in Frage gekommen. Daher war ihr die Berufsausbildung wesentlich lieber.

    Kritische, systembezogene Fragen ohne Antwort erzeugten Ungereimtheiten bei ihr, und die Bereitschaft, in den Westen gehen zu wollen, wuchs von Tag zu Tag.

    Gute Leistungen während der Ausbildung berechtigten Janina im 2. Lehrjahr zu einer Reise nach Moskau. Die Eindrücke, die sie allerdings im Land des „Großen Bruders" gewann, wie die UDSSR von der DDR-Führung dem Volk zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit als Vorbild vor die Nase gehalten wurde, waren für sie deprimierend: Überall gab es Armut, die meisten Häuser und Straßen waren seit dem 2. Weltkrieg nicht instand gesetzt worden und selbst dort wurden Ostdeutsche – ganz anders als Westdeutsche – als Menschen 2. Klasse behandelt, was allerdings auch besonders mit der Kaufkraft der jeweiligen Währung zusammenhing. Dieses Phänomen erlebte man damals in allen sozialistischen Bruderländern.

    Ab Oktober 1985 hatte Janinas Mutter einen Job bei der Stadtkommandantur Berlin bekommen und wieder neu geheiratet.

    Janinas Ausbildung erfolgte in einem Mädchen-Internat in Caputh. Aufgenommen wurden nur junge Frauen, deren Notendurchschnitt besser als 1,4 war. Janina wurde also aufgenommen und pendelte immer zwischen dem Internat und der Ausbildungsstätte. Im Internat fand in den ersten drei Wochen nur GST-Unterricht (Gesellschaft für Sport und Technik) statt, was einer Grundausbildung bei der Armee schon sehr nah kam. Man war einer dreiwöchigen Ausgangssperre unterworfen, trug Uniform, übte mit Gasmaske usw. Im Futtermitteluntersuchungsdienst Waldsieversdorf bei Strausberg, der fast schon privat geführt wurde, erhielt Janina einen festen Arbeitsvertrag. Sie untersuchte z.B. die Qualität von Futtermitteln. Der Betrieb gehörte zum Kombinat Milchwirtschaft Frankfurt/Oder. Die Ausbildung schloss sie mit sehr guten Noten ab, allerdings war ein Satz im Zeugnis sinngemäß so formuliert, dass man ihre zunehmende „Selbstsicherheit negativ deutete: „Janina Gleitsmann sollte ihre Meinung überlegter äußern.

    1985 kam Janina in den Genuss einer 1-Zimmer-Wohnung im 10. Stock in BerlinMarzahn. In ihren Augen war die oft viel gepriesene Solidarität unter vielen DDRBürgern oft nur eine Notgemeinschaft, wo man sich gegenseitig half, sei es beim Bau von Häusern oder bei der Beschaffung bestimmter Gegenstände wie Baumaterialien, Lebensmittel oder Kleidung. Es war bekannt, dass in der DDR ein Mangel an fast allen Gütern herrschte.

    Sie arbeitete im Backwarenkombinat in der Josef-Orlopp-Str., welche hinter der Normannenstrasse lag, in der die Stasi-Zentrale ihren Sitz hatte. In dieser Großkonditorei arbeitete sie als Laborleiterin. Es ging dabei um Rohstoffbestimmungen und Hygienevorschriften.

    Hier in der Hauptstadt der DDR kam sie in einen neuen Freundeskreis. Alle neuen Bekanntschaften waren Ausreise-Antragsteller. Die Mutter ihres damaligen Freundes saß in Halle im Stasiknast. Sein Vater war im Stasiknast angeblich an einem Herzversagen gestorben – die genauen Todesumstände wurden nie bekannt gegeben. Einmal fragte Janina ihre Freunde, die alle intelligent und aufgeschlossen waren, warum sie nicht bleiben wollten. Sie hatten doch alles, waren versorgt und mussten keine Not leiden. Die Antworten kamen prompt. Man stieß oft beruflich an Grenzen, der Studienplatz war abhängig vom Parteibuch, Reisen in fremde Länder kaum denkbar, und viele Gesprächsthemen waren in der Öffentlichkeit tabu!

    Janinas Schwester Kerstin arbeitete in Eggendorf als Facharbeiterin für Schreibtechnik. Sie wurde im Betrieb oft gegängelt. Wie alle dort wurde sie massiv umworben, sie solle in die SED eintreten, doch sie weigerte sich. Ihre Aufgabe war es, Bücher für die Partei und Manuskripte für die Parteitage zu schreiben und zu drucken. Kerstin wurde überwacht und stand unter Druck, wenn es um die Parteitagsmanuskripte ging.

    Für Janina kam ein Studium aufgrund ihrer geänderten politischen Haltung und ihrem festen Ziel, die DDR schnellstmöglich zu verlassen, was schon lange für sie feststand, nicht mehr infrage.

    1987 reiste ihr damaliger Freund Stephan aus. Ein anderer Freund wurde in den Tagen um den 1. Mai 1988 verhaftet und verschwand drei Tage in Schutzhaft. Janina wurde nach ihrer Weigerung, in die SED einzutreten und ihrer fortwährenden Kritik an vielen Dingen, für sechs Wochen strafversetzt. Diese Demütigung verdankte sie dem damals neu berufenen Betriebsleiter, der sich aufgrund seines Parteibuches hochgedient hatte. Die beiden verband von Anfang an eine gegenseitige Antipathie, die auf seinem ekelhaften und schmierigen Verhalten speziell Frauen gegenüber beruhte. Außerdem behagte ihm ihre offene und unkomplizierte Art, Dinge beim Namen zu nennen, überhaupt nicht. Zuerst versuchte er ihr Nachlässigkeiten und Fehler im Job nachzuweisen. Da er dort keine Unstimmigkeiten feststellen konnte, wurde sie aus fadenscheinigen Gründen zum Verpacken von Stollen strafversetzt. Doch nach 6 Wochen musste er ihr wieder ihren alten Arbeitsplatz zurückgeben, denn sie war die einzige, die im Labor tätig war, und somit blieb ihre Arbeit in der Zwischenzeit liegen. Von da an musste sie sich bis Juni 1989 morgens und abends telefonisch bei Herrn S. an- und abmelden. Dieser stand dann jedes Mal provozierend an seinem Bürofenster und beobachtete sie beim Kommen und Gehen, oft auch beim Arbeiten, denn er konnte gut in ihr Labor einsehen.

    Janinas neuer Freund Peter, mit dem sie seit 1987 zusammen war, wollte unbedingt die DDR verlassen. Jetzt endlich entschied sie sich, mitzugehen. Peters Vater war Staatssekretär, sein Bruder in der Bezirksparteileitung von Potsdam, soweit Janina sich erinnerte. Da war Stillschweigen über etwaige Fluchtgedanken angesagt, wollte man nicht schon vorab inhaftiert werden.

    Im August 1988 fuhren Peter und Janina nach Ungarn zum Balaton in Urlaub auf einen Zeltplatz, wo sie ein deutsches Ehepaar, Elke und Reto, kennenlernten. Die beiden kamen aus Weissach bei Stuttgart.

    Man freundete sich schnell an und erzählte den anderen von ihren Fluchtplänen. Damals war Elke schwanger.

    Es wurde allgemein nur über Flucht gesprochen und gerade auch wegen Elkes Schwangerschaft war an aktive Fluchtgedanken nicht zu denken, denn sie hatten genug Wissen über die Gefängnisse im Osten, ob Ungarn oder DDR, – die Haftbedingungen in den Ostblockländern für Politische waren katastrophal. Als der Urlaub vorbei war, trennte man sich mit dem Versprechen, dass Reto und Elke sich melden würden und demnächst zu Peter und Janina in die DDR zu Besuch kommen würden.

    Janina glaubte eher nicht daran, denn ein Besuch in der DDR war für Fremde eine lästige und aufwendige Angelegenheit. Man konnte nicht einfach über die Grenze fahren und die anderen besuchen, sondern musste sich lange vorher anmelden, und auch vor Ort einige Schikanen über sich ergehen lassen, die teuer, zeitintensiv und unangenehm waren, die man nur für Freunde oder Verwandte – entweder gerne oder als notwendiges Übel oder beides – hinnahm.

    Doch schon im Oktober 1988 besuchten Reto und Elke erstmals die beiden in Ostberlin. Danach kamen sie alle vier bis sechs Wochen zu ihnen. Reto war Entwicklungsingenieur bei Porsche. Bei seinem zweiten Besuch kam ein Freund mit, Harry, ebenfalls bei Porsche beschäftigt. Reto hatte mit Harry über ihre Pläne gesprochen und Harry entschloss sich, ihnen auch zu helfen.

    Man entwickelte immer wieder neue Fluchtpläne, aber sie waren alle zu gefährlich. Die bundesdeutsche Botschaft in Warschau/Polen war eines der Ziele, doch hatten sie keine Bekannten, die sie dorthin hätten einladen können.

    Im Januar 1989 bewarb sich Janina in ihrem Betrieb für eine Reise nach Kuba, um dort über die Botschaft zu flüchten, aber auch dieser Plan musste verworfen werden, weil sie keine Genehmigung dazu erhielt.

    Ebenfalls im Januar erhielt Janina über ihre Mutter die Information, dass die Ungarn im Mai oder Juni die Grenze zu Österreich abbauen wollten.

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