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Was von Deutschland übrig bleibt: Eine Wanderreportage
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Was von Deutschland übrig bleibt: Eine Wanderreportage
eBook233 Seiten1 Stunde

Was von Deutschland übrig bleibt: Eine Wanderreportage

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Über dieses E-Book

Der demografische Wandel ist keine statistische Größe, er wird auf dem Weg durch die deutsche Provinz von Ost nach West erfahrbar. Deutschland wächst nicht mehr von innen heraus, es schrumpft. Dörfer, ganze Landstriche verwaisen, junge Menschen ziehen in die Ballungszentren. Doch können wir uns ein Deutschland ohne Provinz leisten?

Eine Wanderreportage, die den Verlust von Heimat, Identität, aber vor allem von unwiederbringlicher Vielfalt spürbar werden lässt - ein Plädoyer für die Provinz.

EDITION LINGEN STIFTUNG - Publikationen für politisch interessierte Bürger
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Sept. 2013
ISBN9783942453592
Was von Deutschland übrig bleibt: Eine Wanderreportage

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    Buchvorschau

    Was von Deutschland übrig bleibt - Sebastian Christ

    Impressum

    Vorwort

    Ich bin in einer kleinen Stadt in Nordhessen geboren, die weder Showmaster noch Olympiasieger hervorgebracht hat. Frankenberg. Eine kleinlaute Stadt, die fünfundvierzig Fahrminuten von der nächsten Autobahn entfernt liegt, für nichts auf der Welt bekannt ist und in der die Menschen vielen neuen Trends erst einmal skeptisch gegenüberstehen. Eine Stadt ohne Idole und Ideen. So dachte ich jedenfalls einmal. Nach dem Abitur packte ich im Jahr 2001 meine Sachen und fuhr ab Richtung Süden.

    Ich habe in München studiert, mir von Oberbayern aus einen Überblick verschafft. Über Deutschland. Ich habe einiges gelernt. Zum Beispiel, dass drei Viertel aller deutschen Kinder in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind wie ich, nämlich außerhalb der sechsundsiebzig deutschen Großstädte. Dass der deutsche Mittelstand, der über sechzig Prozent der Arbeitsplätze in diesem Land stellt, mehrheitlich in der Provinz zuhause ist. Dass all die beeindruckenden Zahlen von der deutschen Vize-Exportweltmeisterschaft niemals möglich wären, wenn es nicht die vielen Menschen im ländlichen Deutschland gäbe, die immer wieder abseitige und geniale Ideen haben, auf die niemand in Berlin, Hamburg oder Köln kommt. Das Telefon ist nicht in München erfunden worden, sondern im südhessischen Friedrichsdorf. Das Kugellager in Schweinfurt. Und der Erfinder des ersten funktionsfähigen Computers, Konrad Zuse, hat sein Technikinteresse in Hoyerswerda entwickelt – jener deutschen Stadt, die heute am stärksten vom demografischen Wandel betroffen ist.

    Während meines Studiums verbrachte ich auch einige Monate in Frankreich. Ich lernte dort viele neue Freunde kennen. Die meisten hatten ein Hauptstadtproblem. Wenn sie beruflich etwas erreichen wollten, mussten sie irgendwann dorthin ziehen. Alle redeten sie von Paris. Als ich zurückkam, hörte ich meine Kommilitonen von Reutlingen, Marburg, Greifswald oder Osnabrück sprechen. Ich begriff, dass eine entwickelte Provinz Freiheit bedeuten kann. Auch in der Lebensgestaltung.

    Seit mehr als fünf Jahren lebe ich nun in Berlin. Und doch hatte ich nie das Gefühl, im Mittelpunkt des Landes zu wohnen. Vielleicht in der größten Stadt. Aber ich war mir sicher, dass die Bundesrepublik auch dort passierte, wohin die Züge am Hauptbahnhof abfuhren: Elsterwerda, Rathenow, Wismar. Es war diese Vielfalt, die mich immer wieder neugierig werden ließ. Mit zwanzig war ich froh, endlich aus der Provinz wegziehen zu können. Heute freue ich mich für jeden, der geblieben ist.

    Der demografische Wandel lässt die Republik von innen her schrumpfen. Während die größten Städte vom Zuzug junger Menschen profitieren, leidet die Provinz gleich mehrfach: Zu wenige Kinder werden dort geboren, zu viele Talente wandern ab und die Bevölkerung altert überdurchschnittlich stark. Im Jahr 2050, sagen Wissenschaftler, wird das Durchschnittsalter der Bevölkerung außerhalb der Metropolregionen bei über fünfundfünfzig Jahren liegen. Noch sind es Prognosen. Doch vielerorts sind die Auswirkungen schon spürbar.

    Dies ist die Geschichte einer Wanderung durch die Mitte Deutschlands. Sie fand im Winter statt, wenn die deutsche Provinz weder Postkartenbilder noch Trachtentanzgruppen zu bieten hat. Es war ehrlicher so. Ich war Schritt für Schritt auf der Suche nach einem Land, in dem ich aufgewachsen bin. Und in dem ich immer noch lebe.

    Kapitel 0

    Es war im dunkelsten Winter aller Zeiten, als ich Deutschland für ein paar Augenblicke verließ. Ich hatte die Sonne seit Wochen nicht mehr gesehen, der Rollsplit auf den abgetauten Bürgersteigen knirschte wie zerbrochenes Glas. Die Luft schmeckte nach gerade geschmolzenem Schnee, und schon am frühen Nachmittag fuhren die Taxis mit eingeschalteten Scheinwerfern durch den städtischen Dämmerzustand. Auf den Straßen von Berlin waren nur wenige Menschen unterwegs. Es war die Zeit, als alle unter Glühbirnen, Energiesparlampen und Neonröhren auf das Leben nach dem Schnee warteten.

    Noch als ich meine Stiefel schnürte, mochte ich noch nicht so recht dran glauben, was ich da gerade tat. Mir stieg der Geruch von Kiefernzapfen und Kerzenwachs in die Nase, als ich die Heizung in meiner Wohnung herunterdrehte und die elektrischen Geräte ausschaltete. Was wichtig war, trug ich nun auf dem Rücken: zwei Sätze Wechselkleidung, zehn Paar Socken, ein Cape, eine Kamera, Kartenmaterial, einen alten Laptop, die jeweiligen Ladegeräte, eine kleine Reiseapotheke und ein wenig Proviant. Gegen die Kälte schützte ich mich mit dicken Pullovern, einem mehr als ein Quadratmeter großen Halstuch aus Jordanien und einer warmen Jacke, deren Stoff jedoch von Sonne, Wasser und Waschmittel über die Jahre hinweg so bleich und spröde geworden war, dass er an den Gummibünden scheibchenweise abblätterte.

    Funktionskleidung hatte ich nicht dabei. Ich wäre mir albern vorgekommen: Als ob ich einen Raumanzug bräuchte, um die Wiesen, Wälder und Äcker meines eigenen Geburtslandes zu erkunden. Und im Grunde war mir auch nicht danach, zu planen. Ich wollte einfach loslaufen.

    Am Berliner Hauptbahnhof kaufte ich mir ein Ticket nach Osten. Ich stieg in einen Waggon mit tiefen Sitzen, der von einer schuhschachtelförmigen Diesellok übers Gleisbett gezogen wurde. Am Zugfenster beobachtete ich die Landschaft dabei, wie sie bei hundertzwanzig Stundenkilometern am Fenster vorbei brach. Alles war Farbe. Nichts war Form. Und ich konnte mir nicht im Geringsten vorstellen, worüber die Menschen längs der Strecke lachten und stritten. Cottbus. Frankfurt. Der Zug war hier zu Ende, ich nahm ein Taxi. Hinter der Oder ließ ich den Fahrer am ersten Bahnhof anhalten. Ab nun hatte ich schmatzenden Sandboden unter den Füßen.

    Kapitel 1

    Das erste, was ich von Słubice sah, war ein Gleisstrang und das weite Land, das sich flach nach Osten entrollte bis es irgendwann gegen Berge prallte; das Gras, auf dem Schneeflecken lagen und der Gestank von verbranntem Diesel, der über allem lag. Ich zupfte an den Riemen meines Rucksacks, bis sie straff genug saßen für die nächsten Stunden und merkte, dass mich die Leere beinahe erschlug. Der Ortsname des winzigen Bahnhofs war mit Haltestäbchen am Schild befestigt: „SŁUBICE" starrte es stieläugig vom Blech. Auf der Wartebank am anderen Gleis saßen ein paar Jugendliche, sie sprachen über ein hübsches Mädchen in Rzepin, das sie dort finden wollten. Ihre Sprache war voll von Slangwörtern. Ich versuchte ihnen zuzuhören, gab aber schnell auf. Dann lief ich los, und die nächsten neunhundert Kilometer schaute ich fast immer nach Westen, während ich gleichzeitig in alle Himmelsrichtungen dachte.

    So fing alles in Słubice an. Ich musste lachen, weil ich mehr fühlte, als dass ich sah. Vor einhundertzehn Jahren fuhr hier ein Zug nach Westen, damals noch durch den Stadtteil „Frankfurt-Dammvorstadt". In einem der Waggons saß ein vierzehnjähriger Bauernjunge namens Stanislaus, der weder lesen noch schreiben konnte. Mein Urgroßvater. Ich hatte ihn nie kennengelernt, aber viel von ihm gehört. Meine Großtante Elfriede hatte mir sein Leben erzählt, ich sollte alles im Detail wissen. Es ist eine Geschichte, die von Wegziehen, Ankommen und Dazwischensein handelt. Sie konnte stundenlang mit leuchtenden Augen von ihrem Vater sprechen. Je länger sie redete, desto mehr polnische Wortfetzen und Satzbausteine mischten sich in ihre Monologe. Manchmal schrieb sie mir auch von ihm. Ihre Handschrift war Lateinisch, nicht Sütterlin, so wie bei meinen deutschstämmigen Verwandten aus dieser Generation. Was sie erzählte, war ergreifend zeitlos. So klar stand ihr alles noch vor Augen.

    Mein Urgroßvater wurde im Jahr 1889 in einem winzigen Dorf geboren, das zum Gouvernement Kalisz im Russischen Reich gehörte. Polen war zu diesem Zeitpunkt schon seit über hundert Jahren von der Landkarte verschwunden, aufgeteilt zwischen Preußen, Österreich und Russland. In den Industriezentren des „Weichsellandes" wuchs ein selbstbewusstes polnisches Bürgertum heran, auf dem Land dagegen herrschte bittere Armut. Stanislaus musste schon als Junge auf dem Hof seiner Eltern arbeiten. Mit seinen Geschwistern baute er eine kleine Kate, die mehrere Kilometer weiter draußen zwischen Äckern und Wirtschaftswegen stand. Hier lebte er tageweise zwischen Pferden und Pflügen, besonders, wenn es abends schon früh dunkel wurde. Den Proviant nahmen die Kinder mit aufs Feld.

    Weil der Schulunterricht im Gouvernement Kalisz ab 1885 nur noch auf Russisch abgehalten werden durfte, sollte der Dorfpfarrer den Kindern Lesen und Schreiben beibringen. Der Lehrauftrag ging irgendwo zwischen dem Alten und dem Neuen Testament verloren. In der Einsamkeit seiner kleinen Hütte entwickelte sich Stanislaus jedoch zu einem geschickten Handwerker. Er lernte, jegliches Gerät mit einfachsten Mitteln zu reparieren. Und schon früh träumte er davon, nach Deutschland zu gehen. Die Grenze war nur achtzig Kilometer entfernt, in Stanislaus’ Familie wurde auch Deutsch gesprochen – Kalisz gehörte vor dem Wiener Kongress zeitweise zu Preußen.

    Dann kam jener Tag im Jahr 1903, als sich Stanislaus entschloss, in den Westen aufzubrechen. Er war des Unterrichts beim Dorfpfarrer überdrüssig geworden, mit vierzehn Jahren würde er nicht mehr das Alphabet lernen können, dachte er. Und außerdem fühlte er sich alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Meine Großtante Elfriede beschrieb es in einem ihrer Briefe ganz nüchtern: „Dann hat Stanislaus den Pfarrer in seiner Hütte eingesperrt und ist ab nach Deutschland." Was für eine Entscheidung.

    Kapitel 2

    Ich folgte den Bahnschienen noch einige Meter. Die Straße ins Stadtzentrum war eng und dicht befahren. An mir zogen mehr deutsche als polnische Kennzeichen vorbei, und links des Weges erhob sich ein sozialistischer Kastenbau aus der Erde, dessen Wände mit gelben Kunststoffplatten verblendet waren. Hinter den Fenstern: schütteres Garn, Beamtengewebe. Vor dem Gebäude befand sich eine gigantische Tankstelle. Ebenfalls ein Zweckbau, hier füllten Fernfahrer aus Deutschland und anderen EU-Staaten glucksend Benzin in die dicken Kolbenbäuche ihrer Lastwagen.

    Ich ging weiter, über schmale Straßen, an Wiesen und Brachen vorbei. Später konnte ich die Oder sehen, die wie ein Panther an mir vorbei schlich. Das Zentrum von Słubice war voll mit Läden. Und mit Leuchtreklamen, deren Buchstaben im Dunst wie kleine Feuer brannten.

    In einem Supermarkt nahe der Grenze kaufte ich noch etwas zu trinken ein und traf fast nur Menschen, die jenseits der Oder wohnten. Die Kassiererin sprach sie alle auf Polnisch an, und wechselte dann klaglos ins Deutsche, es war ihr zur Routine geworden. In ihrem Schubfach lagen Złoty- und Euro-Scheine nebeneinander. Und wenn doch ein Pole in der Schlange stand, klang ihre Sprache wie ein kleiner Frühlingsbach, der zischend und säuselnd über Felsen und Grundsteine hinweghüpfte. Vor dem Supermarkt klackten Kofferräume über deutschen Kennzeichen. Ich sah in zufriedene Gesichter von Brandenburgern, die hier ein gutes Geschäft gemacht hatten. Ich begegnete Schulmädchen, die über den Unterricht flachsten, beobachtete junge Burschen, die sich neue Dummheiten ausdachten und auch deutsche Studenten beim Bummel durch das neue polnische Einkaufsparadies, Plastiktüten in beiden Händen. Der Weg zur Grenze war gesäumt von hell erleuchteten Schaufenstern und Shoppingmalls mit Fassaden aus Beton und Stahl, die neonweiß über die abgelebten klassizistischen Fassaden der alten Dammvorstadt triumphierten.

    Der Kreisverkehr an der Europabrücke war gesäumt von tauenden Schneematschhaufen, und der Himmel hing tief, ganz so, als wolle er beide Städte am Boden festdrücken und im Trüben vereinen. Die ersten nassen Flocken plumpsten vom Himmel herab. Eine Grenze gab es nicht mehr. Auf polnischer Seite waren die einstmaligen Grenzgebäude durch Ladenzeilen und Zigarettenstände ersetzt worden, am Westende der Brücke stand ein Bagger im Schnee, der die Zollgebäude von früher mit stahlharten Schaufelschlägen wegfraß. Von dem dunklen Tunnel, durch den man einst nach Deutschland einfahren musste, existierte nur noch ein Haufen Schutt. Kein Mensch kümmerte sich mehr um die Linie, die in der Mitte des Flusses Deutschland von Polen trennte. Sie war nur noch eine staatliche Vermutung. Zu abstrakt, als dass man sie wirklich spüren konnte. Hundert Kilometer südlich haben sich Görlitz und Zgorzelec – ebenfalls flussgetrennte Zwillingsstädte – zu einer „Europastadt zusammengeschlossen. Es gibt gemeinsame Ratssitzungen, und beide Städte bewarben sich miteinander um den Titel der „Europäischen Kulturhauptstadt. Mich amüsierte der Gedanke: Wie sähe eine Europastadt Frankfurt/Słubice wohl aus? Im Wappen trüge sie sicherlich die Einkaufstüte.

    Kapitel 3

    Als ich in Deutschland ankam, waren die Straßen leer. Mir fiel auf, dass es auch einige Polen gab, die mit voll gepackten Einkaufstaschen nach Słubice zurückliefen. In der Dämmerung folgte mir ein Radfahrer auf dem Bürgersteig. Auch er wollte sich wegen des Schneefalls an den Arkaden unterstellen, die sich längs der Zufahrt zur Brücke befanden. Wir standen einige Minuten nebeneinander. Und wir sprachen kein Wort. Am Oderturm, der auf deutscher Seite wie ein Zeigefinger in den Himmel ragte, kaufte ich mir in einem kleinen Einkaufszentrum Handschuhe. Die Verkäuferin schaute mich verstohlen an, als ich mit nassem Rucksack und schneematschbedeckter Mütze in ihrem Laden stand. Ihre Blicke blieben an mir hängen, voller Verwunderung, und auch ihre Kollegin schaute mich an, als sei ich ein seltenes Tier. Niemand sprach mit mir mehr, als nötig gewesen wäre. Es war das erste Mal, das ich mich wie ein Fremder in einem vertrauten Land fühlte. Ich kam und sah. Und als ich ging, hatte ich nichts weiter im Ohr als eine flüchtige Verabschiedungsformel.

    So lief ich weiter zu meinem Hotel, und ich konnte auf den Straßen weiterwandern, so still war es.

    Ich aß in einem Restaurant, dessen Küche im Rechteck vom Gastraum umschlossen wurde. Außer mir war nur noch ein Pärchen da. Er hatte eine Kerze anzünden lassen, seine Schultern waren breit und seine Sprache unbeholfen. Der Nachtisch kam, und er redete auf sie ein: „Meinst Du nicht, dass da etwas für uns ist? Eine Perspektive? Denk doch mal nach." Die Frau löffelte wortlos an ihrem Eis. Als sie aufstanden, hatten sie sich getrennt. Und weil ich mich zwischen all den leeren Stühlen einsam fühlte, ließ ich die Rechnung kommen.

    Kapitel 4

    Am Stadtrand von Frankfurt an der Oder warb ein Händler damit, dass es zur Eröffnung seines neuen Autohauses in Eisenhüttenstadt „Achim Mentzel, Feuerwerk und Freibier gebe, überlebensgroß war das Plakat. In Pillgram starrten mich die Menschen an, ohne mich zu grüßen. Und in Briesen wurde im Schaukasten der Gemeindeverwaltung ein Kabarettprogramm mit dem Titel „Auch Zwerge werfen lange Schatten angekündigt. Aber das meinte ich gar nicht mal, wenn ich über Brandenburg nachdachte.

    Ich dachte an all den Schnee, der an diesem Tag fiel, und wie der Wind ihn so lange über die Hügel der Mark stäubte, bis er wie eine dicke Daunendecke über den Feldern und Wegen und sogar über den Straßen lag. Und ich meine die Wälder, mit windverkrüppelten Bäumen, die wie Greise am Rand der langen, geraden Waldwege stehen. Die flüchtenden Rehe. Der Mondschein. Aber vor allem: die Distanzen. Von Frankfurt an der Oder bis ins Zentrum von Fürstenwalde sind es knapp 40 Kilometer. Folgt man als Wanderer dem Jakobsweg, der hier von Polen aus entlang der Spree bis Berlin und dann weiter nach Tangermünde führt, kommt man auf der gesamten Strecke lediglich durch vier Dörfer. Dazwischen: Weiden, Felder mit Wintergetreide. Und Stille.

    Ich war mir nicht sicher, ob es in Brandenburg so etwas wie „Nachbardörfer" gab. Jeder Ort stand hier solitär, für sich genommen, die nächste Siedlung lag jeweils eine Autofahrt entfernt. Und natürlich stiftete ich Unruhe, wenn ich in diese Gemeinschaften einbrach. Genau deshalb subtrahierte ich die starrenden Blicke der Menschen von meinen Eindrücken, um zu einem realistischen Ergebnis zu kommen. Ich mochte den Leuten nicht ihr Staunen vorwerfen, so ungelenk es auch daher kommen mochte. Dafür staunte ich selbst zu gern. Über die Weite, die ich in Deutschland nicht für möglich gehalten hatte. Über lose Dörfer und kleine Fabriken, die vor sich hinbröckelten und rosteten, Geländegewinne gegen die Natur, die auf sandnarbigen Betonsockeln standen. An der Wand

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