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In diesen albtraumhaften Tagen: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942
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In diesen albtraumhaften Tagen: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942
eBook239 Seiten3 Stunden

In diesen albtraumhaften Tagen: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942

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Über dieses E-Book

Tagebuch aus dem Getto: Eines der eindrucksvollsten Zeugnisse jiddisch schreibender Autoren aus dem Holocaust.

Das Getto von Lodz/Litzmannstadt war eines der größten im vom Deutschen Reich besetzten Polen. Mehr als 200.000 Menschen wurden ab Februar 1940 im ärmsten Viertel der Industriestadt zusammengepfercht. Wenige Monate später begannen die Vergasungen der Juden aus dem Getto im Vernichtungslager Kulmhof, denen bis Mai 1942 rund 44.000 Menschen zum Opfer fielen. Am 1. und 2. September 1942 wurden ohne Vorankündigung die Krankenhäuser des Gettos geräumt. Beteiligt waren neben dem jüdischen Ordnungsdienst deutsche Gestapo-, Kripo- und Schutzpolizeibeamte, die die Menschen brutal zusammentrieben.
Józef Zelkowicz (1897-1944) arbeitete nach der Zwangsumsiedlung in das Getto im »Archiv des Judenältesten" und gehörte seit Januar 1941 zu den Autoren der »Chronik" des Gettos. Der ehemalige Journalist und Schriftsteller schrieb seine täglichen Erlebnisse nieder. Zelkowicz wurde im August 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Erstmals in deutscher Sprache liegt mit diesem Band Józef Zelkowicz` Text zu den Räumungen und der darauf folgenden Deportation von fast 16.000 Männern, Frauen und Kindern vor. Nicht so sehr als Chronist denn als mitleidender Erzähler begegnet uns der Autor in diesem zutiefst bewegenden Textfragment.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum5. Okt. 2015
ISBN9783835327979
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    Buchvorschau

    In diesen albtraumhaften Tagen - Jósef Zelkowicz

    Jiddischen

    ANGELA GENGER

    Nur ein Textfragment?

    Vorbemerkung zur deutschen Edition von Józef Zelkowicz’

    »In yene koshmarne teg« – »In diesen albtraumhaften Tagen«

    1940 errichteten die nationalsozialistischen Besatzer in der polnischen Stadt Łódź ein Großgetto. Verwaltungsmäßig wurde die Industriestadt dem Warthegau zugeschlagen. In dem Getto wurden im Herbst 1941 auch Juden aus dem sog. Altreich: aus Berlin, Emden, Düsseldorf, Köln und aus Luxemburg, Wien und Prag »eingesiedelt«, wie es in der Gettosprache hieß. In den Jahren 2002 bis 2009 arbeitete ein Team der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf an einer Studie zur ersten Großdeportation aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf¹ in dieses Getto. Ziel der Studie war, das Schicksal der Deportierten im Getto von Łódź so weit wie möglich zu rekonstruieren. Dazu wurden fast 100 Archive und möglichst alle bis 2009 auf Deutsch oder Englisch veröffentlichte Literatur genutzt; darunter auch das von Michal Unger edierte Werk: Józef Zelkowicz, In Those Terrible Days. Writings from the Lodz Ghetto, Jerusalem 2002.

    Kaum ein Getto ist inzwischen so gut erforscht wie das Litzmannstadts, wie die Stadt ab April 1940 genannt wurde. Neben wissenschaftlichen Arbeiten wurden große Quellenbestände ediert. Ebenso liegen in verschiedenen Sprachen Tagebücher, Erzählungen und Erinnerungen vor. Eine der publizierten Quellen ist auch der erwähnte Band mit Texten von Józef Zelkowicz. Diese Texte werden in deutschen Publikationen in der Regel aus dem Englischen übersetzt zitiert. Die Sprache des Autors Zelkowicz ist Jiddisch, das dem Deutschen näher ist als jede andere Sprache. Das gab den Anstoß, eine Übersetzung aus dem Jiddischen ins Deutsche in Auftrag zu geben. Susan Hiep legte 2008 für die Düsseldorfer Studie eine Übertragung in erster Fassung vor.

    Die nah am jiddischen Klang und Idiom bleibende Übertragung erschloss den Text völlig neu, und es bot sich an, diese Übertragung zu publizieren, um ihn so einer weiteren, auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es geht also nicht um eine neue Studie, sondern um eine uns notwendig erscheinende Ergänzung bisher vorliegender Literatur. Sie handelt von einer sehr kurzen, für die Geschichte des Gettos allerdings zentralen Zeitspanne: den ersten Septembertagen des Jahres 1942.

    In den frühen Morgenstunden des 1. September 1942 umstellten jüdische Ordnungsdienstmänner die Straßen rund um die Krankenhäuser des Gettos, und deutsche Ordnungspolizei und Gestapobeamte unter Leitung von Kommissar Günther Fuchs begannen mit der Räumung. Die Kranken wurden aus den Betten gezerrt und auf Lastwagen gestoßen oder geworfen. Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden ergriffen, manche sofort erschossen, einigen gelang dennoch die Flucht. Am nächsten Tag ging die »Aktion« weiter. 1.253 Kranke wurden an diesen beiden Tagen erfasst und mit LKWs weggebracht. Keiner wusste wohin.

    Am 4. September 1942 wurde bekannt, dass alle Kinder, die jünger als 10 Jahre alt, alle Erwachsenen, die älter als 65 Jahre alt waren, und alle »Arbeitsunfähigen« »ausgesiedelt« werden sollten. Was »Aussiedlung« hieß, war zu diesem Zeitpunkt im Getto den meisten klar: Es bedeutete den Tod. Am folgenden Tag, dem 5. September 1942, wurde mit der Bekanntmachung Nr. 391 eine »Allgemeine Gehsperre« über das Getto verhängt, beginnend um 17 Uhr. Zur Dauer hieß es: »bis auf Widerruf«. Alle Fabriken und Arbeitsressorts blieben geschlossen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten sich in ihre Wohnungen zu begeben. Damit entfielen die zusätzlichen Suppen in den Werkstätten zu den kargen wöchentlichen Rationen. Auch Lebensmittel hatte man nur bis zur »Sperre« einkaufen können. Die Hausverwalter mussten die Hausbücher, die Bewohner ihre Arbeitskarten bereithalten.

    Die Bewohner jedes Hauses mussten sich, aufgefordert durch die Abgabe eines Schusses, im Hof oder vor dem Haus aufstellen. Eine Kommission aus Gestapo, Schutzpolizei, jüdischem Ordnungsdienst und anderen »Freiwilligen«, einem Arzt und einer Krankenschwester selektierte allen Berichten zufolge nach Augenschein. Die »Freigesprochenen« wurden auf die eine Seite, die anderen zu den bereitstehenden Lastwagen geschickt. In einigen Straßen durften die Bewohner wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Aber es passierte auch, dass deutsche Polizei und jüdischer Ordnungsdienst zurückkehrten und Wohnung für Wohnung noch einmal inspizierten. Bis dahin Gerettete konnten nun zu den »Auszusiedelnden« geschickt werden. Fluchtversuche oder jede Art von Widerständigkeit endeten in der Regel mit Erschießung. Wie viele Menschen in den Tagen der Sperre erschossen wurden, wie viele mangels ärztlicher Versorgung oder an Hunger starben, ist nicht geklärt. Insgesamt starben in dieser Zeit 572 Männer, Frauen und Kinder, 15.685 wurden für die »Aussiedlung« selektiert.

    Es gibt eine Reihe von Beschreibungen dieser Septembertage. Aber keine Quelle ist so ausführlich wie Zelkowicz’ Darstellung der Tage bis zur Sperre und danach. Ihre gleichzeitige literarische Qualität kommt in der hier vorliegenden Fassung voll zum Tragen. Diese Wirkung sollte nicht durch viele Anmerkungen und einordnende Hinweise gestört werden. Deswegen beschränken sich Herausgeber und Übersetzerin auf drei kleinere erläuternde Artikel und einige erklärende Endnoten im Anschluss an Zelkowicz’ Text.

    Die historische Einordnung in die Geschichte des Gettos von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung nimmt Andrea Löw vor. Sie bezieht wiederholt verschiedene Texte von Zelkowicz für die Erschließung der Atmosphäre ein, damit schon auf den Kern dieser Publikation eingehend: der überlieferten Literatur eines Mitleidenden.

    Zelkowicz war nicht der Einzige, der im und über das Getto schrieb. Er gehörte selbst zu den Mitverfassern der Chronik des Gettos und anderer schriftlicher Überlieferungen. Auf die aus dem »Archiv des Ältesten der Juden« hervorgegangenen Quellen geht Sascha Feuchert ein.

    Während der Vorbereitung dieser Publikation tauchte die Frage auf, welche Fassung der Übersetzung eigentlich zugrunde lag. Michal Unger druckte in ihrem Buch eine handschriftliche Seite aus dem »Tagebuch« genannten Manuskript aus dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau ab. So wird auch das Typoskript, das der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte in Kopie vom YIVO-Institut in New York zur Verfügung gestellt wurde, bezeichnet. Vieles spricht aber dafür, dass es sich um einen bearbeiteten Text handelt, den der Autor noch selbst in eine ihm sinnvoll erscheinende Form gebracht und abgeschrieben hat, dass er diese Arbeit aber nicht beenden konnte. Oder die Fortsetzung ging verloren. Zur Arbeit an der Abgleichung von Manuskript und Typoskript und zur Arbeit an der Übertragung gibt die Übersetzerin Susan Hiep einige Hinweise.

    Überliefert von diesem Text »In yene koshmarne teg« sind fünf Kapitel, die chronologisch die Tage vom 1. bis 6. September umfassen und mit detaillierten Zwischenüberschriften versehen wurden. So beginnt Zelkowicz Kapitel 1: »Dienstag, 1. September 1942: Die Krankenhäuser werden geräumt« und gibt die Gerüchteküche des Gettos wieder unter der Überschrift »Was man sich erzählt«.

    Bereits unter »Mittwoch, 2. September 1942« stellt der Autor unter der Überschrift »Nicht nur aus den Krankenhäusern …« fest, dass es auch die Kinder trifft, ebenso die im Zentralgefängnis Einsitzenden sowie neu »Eingesiedelte« aus den Provinzen.

    Und am »Donnerstag, 3. September 1942« stimmen die Überschriften »Schreckliche Panik«, »Man hat sich geeinigt«, »Man gewöhnt sich an alles« und »Gevalt! Was kommt als Nächstes?!« auf das, was kommt, ein. Unter »Freitag, 4. September 1942« heißt es dann: »Die Deportation der Kinder und Alten – eine Tatsache«. In der Nacht zuvor wurde, so berichtet schon die nächste Überschrift: »Die Akte des Einwohnerverzeichnisses … versiegelt«. Warum? »… damit keine Geburtsdaten gefälscht werden konnten. Das Kind soll nicht älter und der Alte nicht jünger gemacht werden.« Aber es gibt Ausnahmen: »Schutz für die Familien der Feuerwehrleute, Polizei und Arbeits-Ressort-Leitung«. Im Abschnitt »Wir werden Genaueres erfahren« werden die Reden von Dawid Warszawski und Stanisław Jakobson zusammengefasst, und die des Judenältesten Mordechai Rumkowski überschreibt der Autor mit: »Der Präsident weint.« »Was wird mit den Kindern geschehen?« Keiner der Redner hat dazu etwas gesagt. Hoffnung gibt die Tatsache, dass zwanzigtausend Juden aus umliegenden Orten ins Getto kommen sollen – vielleicht werden die »Ausgesiedelten« in deren Heimatorte gebracht?

    In Kapitel 2 steht eine Art Miniatur, eine kleine Biografie am Anfang: »Der Fall Rosa Steiner«. Dann beginnt der Samstag, 5. September 1942 mit der dramatischen Feststellung: »Im Getto gibt es nichts mehr zu essen.« Die verzweifelte Suche nach Essbarem wird weiter ausgeführt in dem Abschnitt »Die Kartoffeljagd«.

    Noch vor Beginn der »Sperre« heißt es dann: »Es hat begonnen.« Die ersten Altersheime werden »geleert«, in der Rybna laden sie schon Kinder, Kranke und Alte in die Wagen. Das geschieht nicht ohne Gegenwehr. Aber: »Sie greifen zu.« In dem Text von Zelkowicz abgedruckt wird die erwähnte Bekanntmachung Nr. 391 zur »Ausgangssperre«. Dass die Arbeit in dieser Zeit ruht, gibt im Getto Anlass zur Frage: Bedeutet das nicht, dass die Juden nicht gebraucht werden?

    Kapitel 4 gibt gleichermaßen Informationen zum »Sonderpass« und »Man wird auch hängen« wie die Schilderung von Einzelschicksalen in vier Häusern.

    Kapitel 5 beginnt am Sonntag, 6. September 1942 mit der »schrecklichen, langen Nacht« und dem Vorgehen der deutschen Kommission, begleitet von jüdischen Polizisten, Feuerwehrmännern, einigen aus der »Weißen Garde«, einem Arzt und einer Krankenschwester. Es ist das längste Kapitel, das sowohl Hinweise auf den Aufenthalt der »Freigestellten« gibt als auch erschütternde Einzelgeschichten erzählt von Müttern, die ihre Kinder nicht herausgeben wollen oder die »verrückt werden«, als ihnen ihre Kinder genommen werden. Mitten in der Beschreibung von Rivka K., »einer blonden, warmherzigen Frau«, bricht der überlieferte Text ab. So, wie er geschrieben und aufgebaut wurde, liegt die Vermutung nahe, dass das restliche Manuskript oder Typoskript verloren ging. Was erhalten blieb, ist eine ausführliche und bewegende Schilderung jener »albtraumhaften Tage« im September 1942 im Getto Litzmannstadt, die hier erstmals vollständig aus dem Jiddischen ins Deutsche übertragen publiziert wird.

    JÓZEF ZELKOWICZ

    In diesen albtraumhaften Tagen

    Kapitel 1

    Dienstag, 1. September 1942

    Die Krankenhäuser werden geräumt

    Am Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, wurde das Getto wie von einem Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Schon in der Früh, um sieben Uhr, fuhren Lastwagen vor die Krankenhäuser auf der Lagiewnicka-, Wesola- und Drewnowskastraße, und man begann damit, die sich dort befindenden Kranken aufzuladen.

    Anfangs waren die Menschen nicht sonderlich interessiert. Schon vor längerer Zeit sprach man davon, dass die Krankengebäude evakuiert werden sollten. Das Getto könne sich einen solchen Luxus nicht erlauben, Kranke in Gebäuden auszuhalten, in denen Arbeitsressorts¹ verteilt werden könnten. Man sprach sogar davon, dass die Baracken, die auf der Krawietzkastraße aufgestellt werden, eben jene Gebäude ersetzen sollten und die Kranken dorthin umgesiedelt werden müssten. Während die Wagen vorfuhren und man damit begann, die Kranken aufzuladen, sahen die Leute darin jene vorhergesagte Evakuierung und nahmen sich diese Angelegenheit nicht sonderlich zu Herzen.

    Wie es so oft der Fall war, versammelten sich trotzdem Schaulustige vor den Krankenhäusern, die einfach nur dem Treiben zusehen wollten, das sich an diesem schönen und klaren Morgen vor ihren Augen abspielte. Als jedoch die Zahl der Schaulustigen zunahm und die jüdische Polizei² damit begann, sie auseinanderzutreiben, wurden die gaffenden Augen von Sekunde zu Sekunde größer, die Blicke starrender, und wie aus hungrigen Mäulern ergossen sich Fragen:

    Obwohl niemand auf diese Fragen eine direkte Antwort gab, gefror allen das Blut in den Adern. Die Antwort ergab sich wie von selbst, und sie traf jeden wie einen Schlag auf den Kopf:

    Während des Krieges wurden bereits zwei jüdische Krankenhäuser »evakuiert« und geräumt: Einmal die Nervenheilanstalt des Poznanski-Hospitals³ im März 1940, welches damals noch in der Stadt lag, und das zweite Mal am 17. Juli 1941, als die Klinik für Geisteskranke auf der Wesolastraße geräumt wurde.⁴ Und weil bis zum heutigen Tage niemand der Gettobewohner irgendeine Nachricht von den Evakuierten aus den genannten Hospitälern erhalten hat, ist es nicht verwunderlich, dass jedem das Grauen der Situation unerbittlich bewusst wurde:

    »Man führt schon wieder eine Säuberung durch!« – Im Getto ist kein Platz für Kranke und Schmarotzer. Im Getto dürfen nur Menschen leben, die arbeiten können. Diejenigen, die nicht arbeiten können, gehen zum »shmelts«⁵.

    Der Morgen des Tages, an dem sich der Kriegsbeginn zum dritten Mal jährte, war von Tränen erfüllt, die aber nicht mehr vermochten, als den Staub und Schmutz von den Straßen des Gettos zu spülen.

    Man weiß nicht, wie und durch wen sich die Nachricht »Sie holen die Kranken aus den Krankenhäusern« so schnell wie ein Lauffeuer im Getto verbreiten konnte, aber es begann ein beängstigender und schrecklicher Teufelstanz. Wer von den Gettobewohnern hat nicht irgendjemanden im Krankenhaus: eine Frau, ein Kind, Vater, Mutter, einen Verwandten oder Gönner?

    Man geht nicht über die Straßen – man läuft! Aber wer hat schon Kraft und Zeit zu laufen? Niemand! Man wird getragen. Man weiß nicht warum, aber man fliegt. Die Flügel sind gestutzt, aber man bewegt sich trotzdem fort. Geschwollen sind die Füße, aber sie bewegen sich – unerklärlich kurz wird der Weg. Häuser und Straßen verschwinden. Alles, das gesamte Getto – jung und alt –, kennt jetzt nur noch eine Richtung und –

    Es ist nicht die Richtung zur Lebensmittel-Kooperative,⁶ nicht die zum Metzger, nicht zum Wurstkeller, auch nicht die zum Kartoffelplatz. Heute ist das Getto gefährlich, und man ist krank vor Angst. Das Getto kennt heute nur die eine Richtung: zum Krankenhaus.

    Warum rennt man? Man will dabei sein. Man will den nahestehenden Kranken noch ein letztes Mal sehen. Vielleicht wird es ihm danach, vielleicht wird es uns danach leichter sein zu sterben. Vielleicht ist es sogar möglich, jemanden zu retten.

    Die Straßen um die Krankenhäuser, ihre Durch- und Zugänge sind gesperrt. Hunderte jüdische Polizisten bewachen sie. Die Henker können in Ruhe ihre Arbeit ausführen. Niemand wird sie stören. Das Klagen aus der Ferne wird wohl kaum an sie heranreichen. Wehgeschrei kann nur menschliche Herzen berühren. Tiere werden sogar durch Gejammer und Geschrei noch gereizter, noch wilder. Die Flügel derjenigen, die jetzt herbeigelaufen kommen, sind nun wahrlich gestutzt. Die Beine – aus Holz. Sie rühren sich nicht mehr von der Stelle. Nur noch die Hände sind beweglich. Sie ringen ihre Hände, und ihre Münder geben merkwürdige und primitive Laute von sich, gar unmenschliche Klänge. Und die Augen, so als hätte sie jemand dazu angestiftet, vergossen endlose Tränen. Es war unbegreiflich, woher diese hungrigen, schwachen und ausgelaugten Menschen die Kraft nahmen, so viele Tränen zu vergießen.

    Unter den bettlägerigen Kranken, die sich gar nicht mehr bewegen können, weil sie entweder ein Bein oder einen Arm in Gips haben oder völlig geschwächt sind, und unter jenen, die im Fieber liegen, verbreitet sich schreckliche Panik. Sie werden wahllos, so wie sie dort gehen und stehen – wie Kälber auf dem Weg zum Schlachthof –, auf den Wagen geworfen. Unter jenen Kranken, die sich noch bewegen können, herrscht eine fieberhafte Unruhe. Man versucht sich zu retten. Man springt aus den Stockwerken, man springt über Zäune oder versteckt sich im Keller. Man mischt sich unter das Krankenhauspersonal und versucht sich so zu retten und …

    Viele von ihnen, die ihre Nerven und ihre Ruhe bewahren konnten, haben sich auf diese eine oder andere Weise retten können.

    Was man sich erzählt

    Wie über andere Vorkommnisse im Getto gab es auch über diese Krankenhaus-Evakuierung viele Gerüchte und Versionen.

    Eine Version besagt, dass der Präses⁷ von dieser Verfügung gewusst haben soll, welche über das jüdische Blut besiegelt wurde, und er soll dies sogar zuvor angekündigt haben. In den letzten Tagen soll er während seiner Besuche in den etlichen Arbeitsressorts deutlich gesagt haben: »Schwarze Wolken brauen sich über den jüdischen Köpfen zusammen …«

    Eine weitere Version lautet, er solle nicht nur von der Verfügung gewusst haben, sondern solle auch der Initiator gewesen sein. Er müsse dieses Opfer bringen, weil man von ihm die Deportation der Alten und Kinder verlangte. Um Letztere zu retten, müsse er Erstere opfern.

    Eine dritte Version besagt, dass die Deportation der Kranken für den Präses ebenfalls eine Überraschung gewesen sei, wie für all die anderen Gettobewohner. Er wurde nicht zu Rate gezogen, seine Vorschläge fanden kein Gehör, und man hatte seine Entscheidungen nicht befolgt. Es gibt Juden, die viel zu lange »ruhend« im Getto herumsaßen und heute, am dritten Jahrestag des Kriegsbeginns, musste man doch etwas unternehmen, man musste doch beweisen, dass der Verstand noch nicht getrübt war und die Hände noch nicht kraftlos geworden.

    Es gibt einen alten Spruch: »Wenn man die Schafe schert, zittern die Lämmer.« Dieser begleitete das widerwärtige Geschehen am heutigen Morgen. Ängstliche Rufe verbreiteten sich im Getto. Laut dieser Gerüchte sind die heutigen Geschehnisse nur das Vorspiel zu einer schlimmeren Tragödie, die sich bald schon abspielen wird. Laut dieser Stimmen ist die Deportation der Kranken nur das Vorspiel für die Deportation der Alten und Kinder, die schon sehr bald, schon heute oder morgen, stattfinden wird. Alte Menschen ab fünfundsechzig Jahren und Kinder bis zu zehn Jahren. So, wie man sich heimlich erzählt, soll der Präses bereits eine Konferenz mit der jüdischen Deportationskommission abgehalten haben, welche das besagte Menschenmaterial bereitstellen muss, das laut Befehl rausgeschickt werden soll.

    Eine Bestätigung dieser Gerüchte über weitere Deportationen will das ängstliche und unruhige Volk darin erkennen, dass der Arbeitseinsatz⁸ den Befehl erhalten habe, keine neuen Arbeitskräfte mehr in die Ressorts zu schicken. Deshalb geht das Volk davon aus, dass die Deportationskommission diesen Vorwand nutzen will, um die

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