Unsicherer Grund: Erzählungen
Von Andreas Neeser
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Über dieses E-Book
Mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität gestalten die Erzählungen Andreas Neesers eine vielschichtige Topografie der alltäglichen Gefährdung und der Sehnsucht nach dem eigenen Ich - und versammeln sich zu einem wunderbar hellen Buch.
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Buchvorschau
Unsicherer Grund - Andreas Neeser
Erinnerung.
So viel Leben
Honegger faltete den Stadtplan zusammen, steckte ihn in den kleinen Rucksack und bog in die enge, mit Kopfsteinen gepflasterte Altstadtgasse ein. Seine Schritte wurden kürzer, als er sich dem Antiquariat näherte, der flache, Kraft sparende Gang luftiger. Honegger wippte, federte, als gälte es, ein unmittelbar bevorstehendes Glück ein paar Augenblicke hinauszuzögern.
Seit dem Tod seiner Mutter hatte er keine Reise gemacht, ohne mindestens einen Tag für einsame Besuche in Antiquariaten zu investieren. Und immer hatte er das handliche Buch seiner Mutter im Gepäck, eine aufwändig illustrierte, in Leder gebundene Bibel aus dem Jahr 1736, die beim Räumen des Hauses gefunden worden war.
Seine Frau hatte über die Jahre, mehr aus stillem Protest denn aus Neigung, eine Lust am selbständigen Erkunden unbekannter Orte entwickelt, das ungewollte Geschenk der Freiheit nach und nach zu einem uneingeschränkten Vergnügen gemacht. Selbst die Vorstellung, diese Art von Glück der verstorbenen Schwiegermutter zu verdanken, hatte mit der Zeit an Befremdlichkeit verloren.
Jahrelang hatte Ida seine Mutter gepflegt, das Gästezimmer zu einem komplett eingerichteten Krankenzimmer unfunktioniert. Der Krebs ließ sich nicht drängen. Manchmal kam es Ida vor, auch die Schwiegermutter lasse sich Zeit, genieße die Aufmerksamkeit der Betreuerin auf anmaßende und eigentlich unanständige Weise. Ihr war, als koste die alte Honegger die vereinnahmende Gegenwart im Leben ihres Sohnes aus als stillen Triumph über dessen zaghafte Versuche, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Hat sie ihn also wieder, dachte Ida manchmal und glaubte bei der Bettlägerigen eine leichte Verbesserung des Allgemeinzustands festzustellen. Das Bewusstsein, dass die todkranke Frau, die die Fänge nie von ihrem Sohn gelassen hatte, auch über sie selbst bestimmte, schmerzte sie am meisten und machte ihr eine einigermaßen liebevolle Pflege an manchen Tagen fast unmöglich.
Der Tod der Schwiegermutter kam Ida vor wie die machtvolle Einlösung eines immer wieder aufgeschobenen und schließlich vergessenen Versprechens, eine trotzige Kapitulation, deren Perfidie in ihrer unangekündigten, lautlosen Heimlichkeit lag. Das Ende, auf das Ida nicht immer geduldig, immer aber respektvoll gewartet hatte, wollte sie zum Anfang machen. Mit eigenem Leben wollte sie die Leerstelle füllen, für sich und für ihren Mann. Doch seine plötzliche Leidenschaft für alte Bücher erstickte jede ihrer Bemühungen im Keim, ließ keine andere Freiheit zu als die touristische Selbsterkundung von Urlaubsorten. Wie eindringlich sie auch nachfragte – was er denn suche oder zu finden hoffe, was er überhaupt verloren habe –, sie erfuhr nichts, was ihr geholfen hätte zu verstehen. Die wachsende Überzeugung, dass er sich selbst nicht verstand, hatte sie beruhigt und das Scheitern wenigstens erträglich gemacht.
Schon aus der Distanz war es Honegger seltsam vorgekommen, dass da, wo der Reiseführer das Antiquariat verortete, keine Auslage auf ein Geschäft hindeutete. Jetzt, da er vor dem Schaufenster und dem dunklen, schäbigen Eingang stand, war es offensichtlich: Hutmacher – Antiquariat war geschlossen. Die aufgeklebten schwarzen Lettern in altertümlicher Bruchschrift zogen sich bogenförmig über das Schaufensterglas. Honegger legte eine Hand ans Fenster, ging mit dem Kopf so nah heran, dass sein Spiegelbild verschwand und der Innenraum sichtbar wurde. Das Antiquariat schien ausschließlich aus Holzregalen zu bestehen, angeordnet in Reihen, die einzig durch einen kleinen Kassentisch in der Raummitte unterbrochen wurden. Die Regale waren bis auf die Taschenbücher leergeräumt, in einer Kiste unter dem Tisch lagerten großformatige, aufgrund von Beschädigungen offenbar aussortierte Lederbände.
Honegger las keines der unzähligen Bücher, die er sich in Antiquariaten besorgte, und er suchte sie auch nicht nach inhaltlichen Kriterien aus. Vielmehr ließ er sich die ältesten Bücher zeigen und sah sie durch, jedes einzelne. Immer wieder schlug er neue Seiten auf, scheinbar wahllos, fixierte sie einige Augenblicke lang, bewegte das Gesicht dicht über dem Papier hin und her. Im Falz schienen die Gerüche besonders charakteristisch, an den Rändern hingegen zeigten sich die vielfältigen Arten von Verfärbungen. Fragte ihn seine Frau nach dem Grund für den Erwerb eines Buches, sagte er: Der Geruch, Ida. Die Farben, die Färbungen, was weiß ich. Das ist Chemie, so viel Leben.
Anfangs hatte sich Ida bemüht, ihre innere Abwehr zu überwinden und Interesse an seiner Fixierung zu zeigen. Sie versuchte, unterschiedliche Gerbungen des Leders auseinanderzuhalten, aufgrund der Graustichnote oder der Patina das Alter des Papiers einzuschätzen. Der Ehe zuliebe, ihrem Mann zuliebe, der ihr immer ein guter Mann gewesen war, als Schwimmmeister im städtischen Hallenbad ehrliches Geld verdiente, regelmäßig mit ihr Rad fuhr, auch längere Strecken. Kinder hatten sie beide nicht gewollt.
Honegger spürte ihre Versuche der Annäherung, doch er ging nicht darauf ein. Was keine Annäherung ertrug, musste vor Übergriffen geschützt werden. – Bei aller Liebe, Ida, hatte er einmal gesagt.
Er trat zwei Schritte zurück auf