Krippler: Roman
Von Günther Loewit
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Über dieses E-Book
Doch im letzten Moment stört eine Frau diesen entschlossenen Lebensplan: Johanna Hofinger zeigt Krippler, wie ein anderes Leben aussehen könnte, ein Leben, das sich alle Normalität, alle Lust, alle Freiheit zugesteht.
Als Krippler sich im Zwiespalt, für welche Liebe er sich entscheiden soll, auf die scheinbar sichere Seite der Kirche schlägt und eine Stelle als Landpfarrer annimmt, ahnt er noch nicht, wie weit ihn diese gescheiterte Beziehung noch verfolgen, wie lange ihn Zweifel und Enttäuschung noch begleiten sollten.
Nachdenklich und einfühlsam erzählt Günther Loewit in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes, der in stetigem Kampf mit seiner inneren Zerrissenheit steht, und zugleich die Geschichte einer unmöglichen und dennoch unvermeidbaren Liebe.
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Buchvorschau
Krippler - Günther Loewit
Verlag
I
Seit dem frühen Morgen hatte sich die Angst in Kripplers Bauch festgefressen und ihn von da an nicht mehr verlassen: Die Angst, etwas Unvorhergesehenes, eine unbekannte Art des Ertrinkens könnte ihn heute treffen und zu Fall bringen.
Unsicher schritt er durch das Kirchenschiff, dem Ausgang entgegen. Kämpfte gegen das Würgen in seinem Hals. Licht fiel durch den geöffneten Flügel des Hauptportals auf den Mittelgang. Die Sonne stand tief. Anfang Februar.
Innerhalb der dicken Mauern war er noch sicher.
Licht und Schatten verschränkten sich am schwarz-weiß karierten Steinboden, folgten in gezackter Linie den von Jahrhunderten gebrochenen Kanten der Marmorplatten. Das hatte sich als standhaft gegen die Zeit erwiesen: dass man die Ruhe des Gotteshauses nicht in Frage stellte.
Am Schattenmuster, das die späte Wintersonne auf den Boden warf, hätte Krippler das Datum auf vierzehn Tage genau schätzen können. Wenn nur einer der Flügel offen stand, war es noch leichter. Die Kante der verschlossenen Türhälfte zog eine scharfe Linie wie der Zeiger einer Sonnenuhr.
Seit Jahrzehnten verfolgte Krippler täglich den Stand der Sonne. Am Weg nach draußen nach der Hauptmesse am Vormittag. Nach den Beerdigungen und Hochzeiten am Nachmittag. Im Hochsommer auch noch nach den Abendgottesdiensten.
Josef Krippler verließ das Gotteshaus so gut wie nie durch die Sakristei, wählte stattdessen den längeren Weg durch das Hauptschiff.
Des Lichtes wegen.
Ein einziges Mal war die Ruhe entweiht worden. Unvorhersehbar, während einer Totenmesse.
Von der Auferstehung hatte Krippler geredet.
Vom Leben nach dem Tod.
Von einem Wiedersehen mit dem Toten. Wenn sie alle einmal zu Staub geworden wären, nach dem Fegefeuer.
Als die schwarz verhüllte Witwe unvermittelt aufsprang und schrie:
„Nie, nie möchte ich ihn wiedersehen. Nie, nie!"
Dann Stille.
Betretenes Schweigen, gesenkte Köpfe. Niemand wagte einen Blick.
Nur die Witwe stand fest auf ihrem Platz und richtete ihren verstörten Blick auf Krippler.
Die Gemeinde wartete. Erstarrt. Auf eine Reaktion des Pfarrers.
Bis sich die Frau in Bewegung setzte, die Kirchenbank verließ und auf den Ausgang zueilte. Bei der Hälfte des Weges hielt sie nochmals inne, drehte sich um, bekreuzigte sich während einer hastigen Kniebeuge und schrie noch einmal:
„Nie, nie möchte ich das Schwein wiedersehen, nie wieder!"
Dann verschwand sie im Licht des Draußen.
Und das Schwein hallte lange nach, in der Stille des geheiligten, dunklen Raumes. Ebbte erst zögerlich ab und machte einem allgemeinen Aufatmen Platz. Dann Geräusche der Erleichterung:
Kleider raschelten, das Holz der Bänke ächzte leise unter vorsichtigen Bewegungen. Die Blicke der Trauernden kehrten aus der Mitte der Kirche zurück und richteten sich wieder auf den Pfarrer. Manche flüsterten sich Silben des Entsetzens zu. Zischende Laute, leise Seufzer drangen nach vorne.
Krippler stand am Altar, suchte nach Worten und fand keine.
Der Tote war ein widerlicher Mensch gewesen, gezeichnet vom Alkohol, voll von Bosheit. Auf den ersten Blick.
Dass aber jeder Mensch einen zweiten Blick verdient hätte. Das wollte Krippler gerade noch sagen, als ihn die Witwe so abrupt unterbrochen hatte.
Jetzt erinnerte er sich wieder an die schreiende Frau. An seine Ohnmacht. Seine Verzweiflung. An die Schweißperlen, die ihm auf die Stirn getreten waren. An die Sekunden, die sich gestreckt und gedehnt hatten, die versucht hatten, ihn in Zeit zu ertränken.
Dem Schreien in der Kirche hatte er noch nie etwas entgegenzusetzen gewusst, zu keiner Zeit.
Denn schon einmal hatte er Schreie in einer Kirche ertragen müssen. Das war allerdings vor seiner Zeit als Pfarrer gewesen.
Mit der Witwe war von diesem Ereignis an kein vernünftiges Gespräch mehr möglich gewesen. Sie wurde zum Arzt gebracht, der sich mit ihr auch nicht zu helfen wusste und sie schließlich in einer Klinik unterbrachte.
Dort erst konnte man ihr klar machen, dass sie ihren verstorbenen Mann unter keinen Umständen noch einmal wiedersehen müsste.
So blieb sie in der Klinik, für den Rest eines Lebens. Auch wenn ihm so etwas heute nicht passieren würde, die Angst hielt eisern an ihm fest.
Krippler schritt auf die Kirchentür zu, blickte zur Empore hinauf und versteckte sich dabei so gut es ging zwischen den vier Ministranten, die, je zwei auf jeder Seite, neben ihm hergingen. Die Krämpfe im Bauch waren mittlerweile unerträglich. Kein Blick kreuzte den seinen, der nach oben auf den Prospekt der Orgel gerichtet war.
Er lauschte der Fuge, die die Organistin zum Abschluss spielte. Nicht besser als sonst. Er sah sie nicht, die Organistin, und hatte doch ihr gequältes Gesicht vor Augen.
Er verbarg das seine und hoffte.
Auf Ruhe.
Dass kein Blick geworfen, kein Wort fallen gelassen würde. Dass sein endgültiges Ertrinken verschoben würde.
Am Freitagnachmittag waren Totenmessen und Begräbnisse schwach besucht. Das war immer schon so, auch wenn sich sonst in seinen dreißig Jahren eine Menge geändert hatte, innerhalb der Kirche und außerhalb.
Ein geöffneter Flügel des Portals genügte. Eine Schleuse, hatte Krippler oft gedacht. Eine Schleuse zwischen der Kirche und dem Draußen. Den Strom der Menschen verlangsamen.
Vor Jahren hatte er dem Mesner die Anweisung gegeben, stets nur einen Flügel zu öffnen. Warten sollten sie lernen. Warten, ohne zu drängen. Rücksicht nehmen.
Das hatte sich geändert, in der Welt draußen.
Das Tempo. Das Wollen. Die Unerbittlichkeit.
Eine Übung wollte Krippler mit dem Kirchgang verbinden, eine Übung gegen die Zeit. Gegen die Hast. Gegen die Gottlosigkeit.
Gegen eine Gottlosigkeit, die er selbst der Kirche zum Vorwurf machte, heute, nach drei Jahrzehnten in ihrem Dienst. Diese gottlose Machtbesessenheit. Das Schüren von Angst und Zweifel. Die er ihr vorhielt, als ihn die Einsamkeit der Strenge zu vernichten drohte. Als er genug hatte vom Geschmack der Macht.
Von der Anmaßung, Menschen belehren zu wollen. Von der Rücksichtslosigkeit gegen den Geist der Zeit.
Gegen das Wollen der Menschen.
Vom Anspruch auf das letzte Wort. Ewig.
Er fragte sich, warum auch er nicht anders konnte. Wie ein Vater, der mild sein wollte und doch die Strenge lebte. Sich hinter ihr verbarg. Er dachte Gedanken nicht zu Ende. Worte verloren sich beim Denken.
Heute.
Er hielt sich mit den Augen an den Orgelpfeifen fest und schritt blind durch das Schiff. Wusste um die Fallen, die der Lauf der Jahrhunderte in den Boden gearbeitet hatte, die vorstehenden Kanten und Mulden, wich ihnen geschickt aus. Lauschte mit erhobenem Kopf der zerschlissenen Fuge und wusste dabei genau, wie Licht und Schatten den karierten Stein teilten. Er hätte das Muster blind aufzeichnen können. Quer durch die Fugen, die rissig waren wie das h-Moll der Organistin.
Anfang Februar.
Er hätte das Datum auf vierzehn Tage genau schätzen können. Aber heute machte es keine Freude, dieses Beherrschen des Sonnenstandes.
Krippler genoss das Geleit seiner Soldaten. Sie beschützten ihn. In ihren weißen Gewändern, die Kerzen wie Schwerter tragend.
Die Kinder verhinderten jede Zudringlichkeit der Erwachsenen. Sie würden ihn vor hingestreckten Händen und freundlichen Gesichtern bewahren.
Kinder, dachte Krippler, ausgerechnet Kinder sind das einzige, was Erwachsenen noch Respekt abnötigt.
Früher einmal, so dachte er, zu Beginn seiner Zeit, da hatten die Kinder noch Respekt vor den Erwachsenen. Wie in seiner eigenen Kindheit, als die Alten noch geehrt wurden, als die ersten Bänke in der Kirche für sie bestimmt waren. Weil die Alten gebrechlich und schutzbedürftig waren, dachte er, weil sie ihr Leben für die Jungen gelebt hatten, weil sie den Hof weitergaben. Oder nur, weil sie wenige waren.
Wenige, wie in der jetzigen Zeit die Kinder, dachte er noch, als ihn die warmen Sonnenstrahlen berührten, während er durch das Tor durchschritt. Die Kinder zwängten sich an ihm vorbei durch die künstliche Engstelle. Durch seine Schleuse. Hinaus.
Frische Luft.
Krippler genoss den Duft in seiner Kirche.
Er selbst kreierte hier die Geruchsnoten, er selbst bestimmte das Verhältnis von Weihrauch zu Blumen und legte bei Bedarf sogar die Sorten fest, je nach passendem Bouquet. Er mischte das Aroma gelöschter Kerzen mit dem Geruch der Schmierseife, mit der der Mesner den Marmorboden reinigte.
Er, Josef Krippler, bestimmte hier nicht nur das Bild von Gott. Er kämpfte gegen den Geruch, den die Kirchgänger von draußen mitbrachten:
Parfüm, Rasierwasser, Schweiß und Mundgeruch. Er besiegte diese Reste der Welt.
Diese Äußerlichkeiten der Körper.
Er übertünchte jede Verstellung des Fleisches. Ließ das Holz der Bänke ölen, den Boden waschen, verwendete Weihrauch und ließ mehr oder weniger Kerzen anzünden, wenn eine Korrektur der Komposition notwendig war.
Krippler genoss die Weite seines Kirchenschiffes, die Kubatur dieses Raumes. Geheiligt oder nicht, er war der Herr dieser Welt, in der sich die Ausdünstungen des Einzelnen verloren.
Früher, zu Beginn seiner Ära, als die Menschen die Messe noch nüchtern besuchen mussten, gewann die schale Ausdünstung aus ihren Mündern dann und wann die Oberhand. Während sie lauthals „Großer Gott, wir loben dich" sangen, während sie ihren Alltag vergessen wollten, trug das mächtige Schiff den üblen Geruch bis zu ihm vor. Bis hinauf zum Altar, der damals noch so stand, dass Krippler dem Volk den Rücken zuwandte. Erhöht, wie eine Festung, in der er noch die Nase rümpfen konnte, ohne beobachtet zu werden.
Vor dem Siegeszug des Volksaltars.
Als er seinen Herrn noch für sich alleine hatte. Vor jenem Konzil, das die Kirchen öffnete, die Geheimnisse der Eucharistie preisgab.
Jetzt aber die frische, würzige Luft des späten Februars. Wie wohl sie ihm jetzt tat.
Und ohnehin kam niemand mehr nüchtern zum Gottesdienst. Ein paar unverbesserliche Alte vielleicht, denen selbst die Langsamkeit der Kirche noch zu schnell war. Er hätte sie an den Fingern einer Hand abzählen können.
Die Verweigerer. Die Anbiederer. Er wollte auch sie nicht.
Josef Krippler fragte sich, als ihn die kalte Luft umfing, ob heute der schwerste Tag seines Lebens wäre. Ob die ihm auferlegten Prüfungen heute einen Höhepunkt erreichten. Peinigte sich mit Fragen, die er nicht gestellt bekommen wollte.
Heute.
Ertappte sich dabei, nach dem Wo und Ob von Gott zu fragen. Erschrak dabei und stellte doch sein ganzes Wirken in Frage. An einem einzigen Tag.
Krippler hatte Angst.
Je länger seine Zeit im Ort wurde, umso mehr berührten ihn Beerdigungen. Nicht nur, weil die eigene immer näher rückte.
Von Jahr zu Jahr war seine Nähe zu den Verstorbenen gewachsen, geleitete er immer mehr ein Stück Vertrautheit zur letzten Ruhe. Verlor er Mensch für Mensch die Schauspieler seines eigenen Theaters. Beerdigte er ein Stück seines eigenen Lebens.
Aber das heutige Begräbnis war das schwerste.
Sie hatten jetzt den Vorplatz erreicht. Kripplers Blick glitt über den leicht abschüssigen, mit Kies bedeckten Platz. Der Ort, wo sie auf ihn und seine Worte warteten. Nach jedem Gottesdienst, seit dreißig Jahren. Der Ort, an dem schon manche warme Einladung ausgesprochen worden ist. Von ihm oder an ihn.
Krippler war beliebt im Ort, vor allem zu Beginn seiner dreißig Jahre. Es war auch nicht gerade schwer gewesen, sich einen guten Ruf zu erwerben, nach den Eskapaden, die sein Vorgänger sich geleistet hatte.
Diese Zustimmung zu seiner Person hatte im Grunde auch nicht nachgelassen. Nur war er eben nicht mehr neu.
Die Jahre hatten ihn abgerundet. Ihn geformt.
Er hatte sich eingefügt in ein Bild, das er zum Teil mitgestaltet hatte, ein Teil dessen er selber geworden war. Aber der Jubel um den neuen Pfarrer hatte mit den Jahren nachgelassen.
Die, für die er immer noch der Neue war, wurden von Jahr zu Jahr weniger. Und für die Jüngeren im Ort war er schon immer da. Da war es ihm auch nicht mehr so wichtig, was man über ihn dachte, über ihn redete. Krippler war zu einem festen Bezugspunkt geworden.
Wie das Gräberfeld, das unmittelbar an den Vorplatz anschloss und bis zur Umfriedung der Kirche reichte. Knapp war der Platz für die ewige Ruhe im Ort bemessen.
Die Gemeinde hatte schon öfters überlegt, einen neuen Friedhof außerhalb der ummauerten Kirchenanlage anzulegen, besonders in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs, als die Ortschaft zahlreiche Gefallene zu beklagen hatte.
Doch der damalige Pfarrer hatte sich gewehrt, mit aller Kraft und Deutlichkeit. Die Getauften hätten außerhalb des Schutzes der heiligen Kirche nichts verloren. Auch nicht nach ihrem Tod. Auch nicht, wenn sie einmal so zahlreich in den Schoß Gottes zurückkehrten.
Näher zusammenrücken müsste man dann eben.
Auch nach einem verlorenen Krieg. Auch nach dem irdischen Leben. Und seine Aussage vom näher Zusammenrücken ist bis zu Kripplers Zeit ein geflügeltes Wort geblieben.
Krippler beneidete