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Meine Winsstraße: Berliner Orte
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eBook172 Seiten2 Stunden

Meine Winsstraße: Berliner Orte

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Über dieses E-Book

Knut Elstermann wuchs in den 1960er Jahren in der Winsstraße auf. In diesem Buch begibt er sich auf eine Zeitreise und besucht den Ort seiner Kindheit. Dort spricht er mit der Witwe von Hans Rosenthal und begegnet der bekannten Fotografin Helga Paris. Bei Uschi im La Bohème trifft er den Regisseur Peter Kahane und im enten und katzen erfährt er die Lebensgeschichte von "Trödel-Christian", der in den 1990ern eine Kiezgröße war. Wie nebenbei entsteht so das eindrucksvolle Bild einer Berliner Straße, die mit ihren sozialen und baulichen Veränderungen typisch für Prenzlauer Berg ist.

Berlin fasziniert und inspiriert: In der Reihe "Berliner Orte" nähern sich Autoren mit ihrem ganz eigenen Stil einem Ort, der für sie eine wichtige Rolle spielt. Mal sehr persönlich, mal historisch, aber immer ganz individuell zeigt die Reihe Berlin in einer Vielfältigkeit und Kreativität, die der Stadt in nichts nachsteht.

Weitere Titel dieser Reihe als ebook erhältlich:
Brauseboys - "Geschichten aus der Müllerstraße"
Kurt Tucholsky - "Westend bis Köpenick"
SpracheDeutsch
HerausgeberBeBra Verlag
Erscheinungsdatum9. Sept. 2013
ISBN9783839301111
Meine Winsstraße: Berliner Orte

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    Buchvorschau

    Meine Winsstraße - Knut Elstermann

    Autor

    1

    Die Straße erstreckt sich schnurgerade und fast lückenlos über genau 883 Meter und nicht über tausend, wie ich früher glaubte. Als innerer Maßstab für die Länge eines Kilometers hat sie ausgedient, seit ich es besser weiß. Ein Haus reiht sich an das nächste, beginnend im Südwesten mit der Nummer 1, endend mit der Nummer 72 auf der anderen Straßenseite. Da sich die Mietshäuser in Höhe und Grundstruktur ähneln, da sie genau die vorgegebene Flucht einhalten, ergibt sich ein Bild von harmonischer Geschlossenheit.

    Das ist mein Berliner Ort: die Winsstraße in Prenzlauer Berg. Die erste Straße in meinem Leben, deren Namen ich wusste, mein früher, begrenzter und doch unendlich reicher Weltausschnitt. Ich habe sie immer vom südlichen Ende vor Augen, sehe sie von dort aus, wo unsere Familie seit 1962 wohnte, nahe am Friedhof mit seinen hohen, ausladenden Bäumen. Die Wins, in der ich aufgewachsen bin, bietet auf den ersten Blick nichts Besonderes.

    Als Parallelstraße zwischen der Greifswalder Straße und der Prenzlauer Allee gelegen, die wichtige und lange Ausfallstraßen sind, wird sie von der Heinrich-Roller-Straße am alten Friedhof auf der einen und von der Danziger Straße auf der anderen Seite begrenzt. Abseits der großen Magistralen führt die Wins eine stille, unauffällige Existenz. Sie ist keine Straße für den Durchgangsverkehr, hier fahren keine Linienbusse oder Straßenbahnen, hier ist kein Platz für Wochenmärkte oder Demonstrationen.

    Keines ihrer Häuser hat es auf die Liste schützenswerter Denkmäler gebracht. Doch der gestalterische Reichtum bot meinen kindlich staunenden Blicken viele Baustile, wenn auch nur in der Kopierlust des bürgerlichen Zeitalters: antike Säulen und Pilaster, gotische Spitzbögen und Renaissanceportale, barocke Verzierungen, Engelsköpfe und von mir bewunderte Standbilder, aber ebenso die Nüchternheit der Rauhputzfassaden. Diese zu Unrecht oft geschmähten Berliner Mietshäuser erwiesen sich mit ihrer Vielfalt und Individualität als ideale Behausungen für Leute, die sich Eigensinn und Eigenart bewahren wollten.

    Auch nach dem großen Wandel, nach der umfassenden Sanierung nehme ich noch das Vergangene wahr. Ich spüre die Anwesenheit all der Menschen, die hier lebten und starben, Kinder aufzogen, in zwei Kriege zogen, Fahnen in den Farben der wechselnden Systeme an die Fenster hängten, in den Kneipen saßen, in den kleinen Läden ihre Einkäufe machten und auf dem Heimweg ins Schwatzen gerieten über undichte Dächer und bröckelnde Fassaden, später über steigende Mieten und neue Nachbarn mit fremden Dialekten.

    Die Straße meiner Kindheit ist eine Durchgangsstation der Generationen, die alle etwas hinterlassen, bevor sie abtreten. Ich habe mich auf den Weg gemacht, mit Alteingesessenen und Neuankömmlingen gesprochen, mit Berühmten und Unbekannten, habe meine Erinnerungen belebt und in staubigen Akten geblättert. Ein Jahr lang kam ich immer wieder hierher und bin auf der Suche nach den vergessenen Geschichten dieser Berliner Straße am Ende auf ein Geheimnis in der eigenen Familie gestoßen.

    Ein heißer Tag. Die Sonne verflüssigte den Teer, der zwischen den Gehwegplatten eingelassen war. Die Erinnerung daran setzt ganz plötzlich ein, wie im Traum. Ein kleines Mädchen hockte auf der Straße, pulte Teerstückchen heraus, drehte aus der schwarzen Masse winzige Kügelchen und forderte mich auf, es ihr gleich zu tun. Unsere Hände schwärzten sich dabei ein, später schrubbte meine Mutter im Badezimmer lange und schmerzhaft an meinen Fingern und ließ die frühe Erkenntnis reifen, dass Dinge, die Spaß machen, auch böse Folgen haben können. Vielleicht sind das die ersten Kindheitsbilder meines Lebens. Ines hieß das Mädchen, wir waren drei oder vier Jahre alt und haben noch oft zusammen auf der friedlichen, verschlafenen Straße gespielt, über der die Sonne stand und Schatten auf die Gehwegplatten warf. Kein Ende der sorglosen Spielzeit war in Sicht.

    Als ich viel später las, wie wunderbar Walter Benjamin in »Berliner Kindheit um 1900« über die langen Berliner Sonntage schrieb, wusste ich sofort, was er meinte.

    Die endlosen Murmelspiele auf dem Gehweg, die kühlen Granitstufen vor den Hauseingängen, mein Bruder, der sein Moped wusch. Aus dem kleinen Kofferradio, das er in sicherer Entfernung abgestellt hatte, um die hart ersparte Kostbarkeit vor Schaumspritzern zu bewahren, ertönte schwungvoller Gitarrenrock. Frauen, die in Schürzen und Hausschuhen zum Bäcker gingen.

    Manchmal folgte ich meiner Mutter aus unserer Wohnung im dritten Stock auf den Dachboden, wo sie zwischen den dunklen Balken eine Wäscheleine gespannt hatte. Mutter schleppte die Kochwäsche hinauf, die zuvor in der Küche lange in einem riesigen Topf mit blubberndem Wasser auf dem kohlebeheizten, eisernen Herd gestanden hatte. Ich fand es immer komisch, dass Mutter etwas kochte, was man nicht essen konnte, und die Wäschebrühe sogar mit einem großen hölzernen Löffel umrührte. Während sie die tropfenden Bettbezüge, die Laken und Handtücher auf die Leine hängte, blickte ich durch die Dachluke hinaus auf unsere Straße, auf die beiden Häuserreihen, die scheinbar immer enger werdend auf das Gaswerk am anderen Ende zuliefen. Der Dachboden hatte etwas Märchenhaftes, er war nicht so unheimlich wie der Keller, aber genauso geheimnisvoll.

    Ich sah auf die schmutzig-roten Dächer und die rauchenden Schornsteine. Vereinzelt standen hier und dort metallene Antennen, sie bildeten noch längst nicht den Wald späterer Jahre. Ich genoss diesen Blick von oben, diese Fremdheit des Vertrauten, das seltsam Entrückte dieser Perspektive, aus der ich die Gegend, in der ich jeden Stein kannte, wie zum ersten Mal sah.

    2

    Die Lehrerinnen in unserer Schule schmähten die Mietskasernen des Kiezes als unmenschliche Relikte des glücklicherweise besiegten Kapitalismus, und stellten deren baldigen, vollständigen Abriss in Aussicht. Dazu ist es nie gekommen, erwogen worden war die geplante Zerstörung aber tatsächlich.

    Die Winsstraße verdankt ihre Existenz einem Bauboom, der die Bauern und ihre Felder verdrängte. Ich fand es als Kind immer eigentümlich, dass dort, wo ich nur Pflastersteine und dichte Bebauung kannte, früher Getreide auf den Halmen gestanden und Windmühlen-Flügel sich gedreht hatten. Die Straße gehört zu den jüngeren Berliner Altbaugebieten, die im Zuge der stürmischen industriellen Stadterweiterung entstanden. Auf Wunsch des preußischen Königs Wilhelm I., des späteren Kaisers, wurde ein Netz aus Ringstraßen und Zentralachsen um den historischen Stadtkern gelegt. Grundlage war der Bebauungsplan von James Hobrecht für die Umgebung Berlins, der am 2. August 1862 nach nur drei Jahren Vorarbeit in Kraft trat, ein kurzer Zeitraum, wenn man bedenkt, dass er ein völlig neues Stadtbild schuf.

    Hobrecht, der 1825 in Memel geborene Sohn eines Gutsbesitzers, wurde 1885 Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau. Hunderttausende Berliner leben heute in einer von ihm entworfenen Welt, die er sich als eine schöne, neue, gerechte vorgestellt hatte. Vorn Gaststätten, Läden und die Wohnungen der Bessergestellten, hinten die Arbeiterfamilien und Fabriken, in denen sie in Lohn und Brot stehen sollten. Doch die fortschrittlichen Visionen des 1902 verstorbenen Stadtplaners lösten sich im Taumel der Gründerzeit bald auf. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1850 und 1871 auf 800 000. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug sie schon zwei Millionen. Der riesige Wohnungsbedarf schürte schwindelerregende Spekulationen, die Grundstückspreise stiegen ins Unermessliche. Von den Grünanlagen und Alleen, den Freiflächen zum Erholen und Spielen, die Hobrecht geplant hatte, blieb nicht viel übrig.

    Zwar ging es nicht hoch hinaus, die vorgeschriebene Traufhöhe von 22 Metern durfte nie überschritten werden, damit bei Bränden einstürzende Fassaden nicht die gegenüberliegenden Häuser träfen. Aber die erlaubte Expansion in die Tiefe brachte eine ungesunde Häufung von sonnenarmen Hinterhöfen mit sich. In der Winsstraße haben die Häuser höchstens zwei Höfe. Verlangt wurde beim Bau der Innenhöfe lediglich eine Mindestbreite von 5,34 Metern, was schon Hobrecht sehr beklagte, doch nur so viel war für das Wenden der Wagen mit den Feuerwehrspritzen notwendig.

    In Berlin setzte die dichte Mietskasernenbebauung vor allem im Norden ein, wo sich ein proletarisch-mittelständiges Milieu entwickelte. Fast alle Häuser in der Winsstraße, wurden zwischen 1870 und 1910 gebaut, mit meist recht repräsentativen Vorderhäusern und kleineren Wohnungen im Hof. Eine Ansichtskarte, aufgenommen auf der Höhe der Heinrich-Roller-Straße, die bis 1925 Heinersdorfer Straße hieß, zeigt die Winsstraße in den 1920er Jahren. Ich staune über die schwer erklärbare Tatsache, dass irgendjemand von einer so unbedeutenden Straße eine Ansichtskarte angefertigt hat, bezwinge aber als Autor eines ganzen Buches über die Wins meine Verwunderung. Die Straße sieht auf diesem schwarz-weißen Foto fast majestätisch aus, auch unser Haus, das zweite vorn rechts, wirkt mit seiner geschwungenen Fassade geradezu prächtig. Es ist noch nicht des Stucks beraubt.

    Ihren Namen erhielt die Straße im Jahre 1891. Er hat nichts mit Weinbergen und Winzern zu tun, wie ich als Kind annahm, sondern erinnert an den Berliner Bürgermeister Thomas Wins. Er regierte von 1426 bis 1447, eine beachtlich lange Amtszeit, allerdings mit einigen Unterbrechungen. Wins entstammte einer reichen Patrizierfamilie aus der Mark Brandenburg und brachte es zu hohem Ansehen und Wohlstand, ihm gehörten unter anderem die Orte Blankenburg, Falkenberg und Biesdorf. Seine Güter und das Amt verlor er nach der Beteiligung am Aufruhr gegen Friedrich II. Eisenzahn. Doch die finanzkräftige Familie konnte die Besitztümer später wieder erwerben. Auch ihr Ruf schien nicht dauerhaft beschädigt zu sein, denn Wins war der erste von fünf Männern seines Clans, die das hohe Amt in Berlin bekleideten. Insofern könnte sich die Namensnennung auch auf die gesamte, einflussreiche Familie beziehen und nicht nur auf ihr bekanntestes Mitglied Thomas.

    Beinahe kehre ich nach Jahrzehnten wieder in diese Straße meiner Kindheit zurück. Auf der zunehmend verzweifelten Suche nach einer neuen Wohnung stoße ich im Internet auf ein Angebot in der Winsstraße, in einem Haus, das ich schon immer bewundert und geliebt hatte – das »Ritterhaus«, wie ich es früher nannte.

    Die Winsstraße in den 1920er Jahren

    Eine freie Wohnung mit Balkon im ersten Stock, der Mietpreis erfreulich unter den üblichen, in abenteuerliche Höhen geschossenen Berliner Kosten. So etwas muss Gründe haben, und meist sind es keine guten. Die zeigen sich in diesem Fall schon bei der Fernbesichtigung auf google earth. Die Wohnung befindet sich über einer Kiezkneipe, dem »Tomsky«, in dem noch geraucht werden darf, zudem lädt dort ein Billardtisch zur sportlichen Betätigung ein.

    Die Küche der Restauration liegt vermutlich unmittelbar unter unserem künftigen Schlafzimmer. Dennoch ziehe ich den Umzug ernsthaft in Erwägung, denn ich stecke bereits tief in der Arbeit an diesem Buch. Was für eine Lebensrundung wäre das gewesen! Rückkehr in meine alte Heimat nach vierzig Jahren! Beim Auspacken der Kisten würden Schatten aufsteigen. Vergangenheit und Gegenwart wären dramaturgisch wirkungsvoll zusammengeflossen und hätten einen wunderbaren Ausgangspunkt für die Beschreibung meines Berliner Ortes geliefert. »Es würde so perfekt passen. Wenigstens ein paar Monate, bis der Text fertig ist, dann sehen wir uns nach etwas anderem um«, bettele ich. Meine Frau verweigert sich diesen rein literarischen Umzugsargumenten ohne jede weitere Diskussion.

    So bleibe ich ein Besucher, beneide ein wenig die heutigen Bewohner und weiß doch, dass ich eine eigene Vorstellung in mir trage, die nicht ganz deckungsgleich mit der Realität ist, eine Straße, die mir weiter, größer und so unwirklich wie eine Traumarchitektur erscheint. Seltsamerweise ist dieses innere Bild der Straße, die sich wie ein von hohen Mauern umgebener, gewaltiger Kanal nach Norden zieht, so stark, dass es

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