Renate Welshs Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I
Von Andrea Urbanek
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Über dieses E-Book
Alle diese Aussagen zum Werk von Renate Welsh sind zugleich schon didaktische Begründungen für den Einsatz ihrer Kinder- und Jugendbücher im Deutschunterricht. Acht ihrer Bücher wurden ausgewählt und unter den Themen - Problemfeld Schule, - Krankheit und Behinderung, - Identität - Die Suche nach sich selbst und - Geschichte: Kindheit gestern und heute zusammengestellt. Die differenzierten Buch-Analysen und vielfältigen unterrichtspraktischen Vorschläge bilden eine sichere Grundlage für einen innovativen und produktionsorientierten Literaturunterricht.
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Buchvorschau
Renate Welshs Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I - Andrea Urbanek
(ebd.).
1 Die Autorin Renate Welsh
1.1 Biografie
Ihre als unglücklich empfundene Kindheit ist für Renate Welsh der Motor ihrer schriftstellerischen Tätigkeit: „Vielleicht wurde mir, weil ich selbst kein glückliches Kind war, besonders wichtig, für Kinder und Jugendliche zu schreiben" (Welsh, zit. in: Schwaner 1992, S. 11).
Renate Welsh wurde am 22.12.1937 in Wien als Tochter eines Arztes geboren, der sich eigentlich sehnlichst einen Sohn gewünscht hatte. Im Tagebuch ihrer Mutter konnte sie später lesen, dass ihr Vater aus Enttäuschung über ihr Geschlecht die ersten beiden Tage nach ihrer Geburt nicht ins Krankenhaus gekommen war (vgl. Welsh 1995, S. 65). Als Vierjährige verlor sie ihre Mutter, die an einem Hirntumor starb. Dieser frühe Tod weckte in ihr diffuse Schuldgefühle. Eine Zeitlang lebte sie dann mit der um zwei Jahre jüngeren Schwester bei den Großeltern auf dem Land. Während die kleine Schwester Großmutters Liebling war, hielt sich Renate an den Großvater, der ihr viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete. „Von ihm lernte ich zuhören und darauf vertrauen, dass mir jemand zuhören kann. […] mit ihm konnte ich nicht nur so sein, wie ich war, sondern so, wie ich sein wollte. Diese Erlösung von mir und zu mir habe ich später immer wieder gesucht" (ebd., S. 44f.). Vier Jahre nach dem Tod der Mutter starb auch der Großvater – ein bitterer Verlust für die damals Achtjährige.
Eingeschult wurde Renate Welsh auf ihren eigenen Wunsch hin bereits im Alter von fünf Jahren in Aussee, dem Dorf, in dem ihre Großeltern lebten. Die Unsicherheit im Umgang mit anderen Kindern machte es ihr sehr schwer, sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Sie war schüchtern, zugleich aber außerordentlich wissbegierig, dazu klein, rothaarig und sommersprossig – die Außenseiterrolle war vorprogrammiert (vgl. Welsh 1985/86). Unverhoffte Hilfe erfuhr sie vom Stärksten in der Klasse. Dieser bot ihr Geleitschutz an, wenn sie als Gegenleistung für ihn die Hausaufgaben erledigen und – was noch viel wichtiger war – Geschichten erfinden würde. So begann sie, die sich heute selbst für die Schwachen einsetzt, als Kind zu schreiben, weil sie in der Rolle der Unterlegenen war: „Ich will zeigen, wie es einem Außenseiter geht, will Verständnis erwirken, weil ich inzwischen meine, daß man sich ohne Fäuste besser wehren kann" (Welsh, zit. in: Podgorski 1980, S. 16).
Nachdem ihr Vater erneut geheiratet hatte, besuchte sie in Wien die Mittelschule. Die Ehe zwischen Vater und Stiefmutter war nicht besonders glücklich – auch das sah sie als ihr Verschulden an. Dazu hatte sie das Gefühl, die Stiefmutter bevorzuge die eigene, leibliche Tochter (vgl. Welsh 1995, S. 65). Ihren Vater, den sie selbst als Patriarchen bezeichnet, sah sie nur selten. Am ehesten erfuhr sie seine Nähe, wenn sie mit ihm auf Krankenbesuch ging. In dieser Zeit lernte sie – neben strengen Sitten und Moral im Ärztehaushalt – Entscheidendes: Immer wieder wurde sie von ihrem Vater dazu angehalten, als Lauf ‘bursch’(!) Medikamente aus der Apotheke zu besorgen und zu den Kranken zu bringen, die dazu selbst nicht in der Lage waren. Bei diesen Botengängen gewann sie einen Einblick in die Lebensverhältnisse von unterprivilegierten Menschen, der anderen Gleichaltrigen ihrer Schicht versagt blieb. Sie lernte unterschiedlichste Formen von Armut kennen, lernte zuzuhören. Ein starkes soziales Engagement, das heute in ihren Büchern für den Leser spürbar wird, resultierte hieraus (vgl. Urbanek 1998, S. 34).
Mit fünfzehn Jahren erhielt sie ein Stipendium und ging für ein Jahr als Austauschstudentin nach Portland, Oregon. Sowohl in den USA als auch ein Jahr später in Wien unterzog sie sich der Matura und bestand die Prüfung. 1955 begann sie, an der Universität Wien Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften zu studieren, brach das Studium allerdings nach ihrer Heirat im Jahre 1956 ab, um am British Council in Wien zu arbeiten. Dort war sie zunächst nebenberuflich, ab 1962 freiberuflich als Übersetzerin tätig.
Es folgte die Geburt ihrer zwei Söhne Georg (1958) und Martin (1959); nach einer erneuten Heirat mit einem schottischen Musiker kam ihr dritter Sohn Christopher zur Welt (1962).
Ihre schriftstellerische Tätigkeit begann nach einem längeren Krankenhausaufenthalt im Jahre 1968. Bei einem Sturz von einem Aprikosenbaum, ihrem „Marillensturz, wie sie es selbst nennt, brach sie sich den dritten Halswirbel; es war fraglich, ob sie je wieder würde gehen können. Vor allem aber war ihr Sprachzentrum für einige Zeit nachhaltig gestört. „Damals erlebte ich eine Bedrohung meiner Identität, die mir heute noch den Hals eng macht, und die mich ahnen läßt, was Behinderung bedeutet
(Welsh 1995, S. 42). Diese lange Phase des Liegens und des Nachdenkens war der Auslöser für ihr erstes Buch, Der Enkel des Löwenjägers, das auf Anhieb in die ‘Ehrenliste zum Österreichischen Staatspreis 1970’ aufgenommen wurde.
Seit 1975 arbeitet Renate Welsh als freiberufliche Schriftstellerin. Sie sucht die Nähe zu ihrem Lesepublikum, unternimmt Lesereisen und hält Gastvorträge innerhalb und außerhalb Österreichs. Sie ist Mitglied in der Grazer Autorenversammlung und bei IG-Autoren.
Heute lebt sie mit Shiraz Rabady, ihrem Partner, in Wien und in Hilzmannsdorf, Niederösterreich.
Das Erzählen und zu Papier-Bringen von Geschichten ist noch immer ein Teil ihrer selbst. Sie ist davon überzeugt, dass Bücher die Grenzen des Verstehens und der Einsicht weiten können.
1.2 Das Gesamtwerk – eine Übersicht
Renate Welsh findet ihre Geschichten und erfindet sie zugleich: Sie ist eine Autorin, die nur über das schreibt, was sie aus eigenem Erleben oder auf Grund genauer Recherchen kennt. So gibt sie authentischen Geschichten eine literarische Form (vgl. Schwaner 1992, S. 11). Beobachtungssinn, Bereitschaft zum Zuhören und Mitleidensfähigkeit sind die Grundlage ihres Schreibens. Ihre Arbeitsweise ist akribisch: Sie arbeitet langsam, gründlich und von Hand; einen Großteil ihrer Zeit widmet sie dem täglichen Schreiben und korrigierenden Abschreiben ihrer Texte. Einen Computer findet man in ihrem Arbeitszimmer nicht, denn der steht in ihren Augen für „schnelles Arbeiten, wenn nicht für
Oberflächlichkeit (Wenke 1995, S. 7). Dagegen hält sie sich an Rodin, der gesagt haben soll, es sei sehr leicht eine Statue zu schaffen, man müsse nur den überflüssigen Stein weghauen. „Das Weggestrichene, denke ich, verleiht dem, was stehen bleibt, Farbtöne, die es sonst nicht hätte
(Welsh 1995, S. 67). Sie bemüht sich, dem Leser Freiraum für eigene Gedanken und Gefühle zu lassen. Ihr Ziel ist es, mit ihren Büchern die Schwachen und Unterprivilegierten unserer Gesellschaft, Außenseiter und Behinderte, Kranke, Ausländer und Kinder zu Wort kommen zu lassen.
1.2.1 Kinderbücher
Die Bandbreite dessen, was Renate Welsh für und über Kinder schreibt, reicht von anspruchsvolleren Bilderbüchern (Philipp und sein Fluß, 1982; Karolin und Knuddel, 1985) über kurze Erzählungen (Schnirkel, das Schneckenkind und andere Tiergeschichten, 1986; Nina sieht alles ganz anders, 1989) bis hin zu etwas umfangreicheren Geschichten (Du bist doch schon groß, 1991; Tanja und die Gespenster, 1992) und Kinderromanen (Julie auf dem Fußballplatz, 1984; Mäusespuk, 1995). Inhalt und Aufmachung ihrer Bücher sprechen Kinder im Vorschulalter an und auch solche, die bereits die Schule besuchen; sie eignen sich zum Vorlesen ebenso wie für erste eigene Leseversuche.
Besonders in den Texten für jüngere Kinder spielen humorvolle, fantastische Momente in der Problemdarstellung eine tragende Rolle. Dabei bedient sich die Autorin diverser Variationsmöglichkeiten.
Beispielsweise werden Kinder, um sich in der Welt der Erwachsenen behaupten zu können, mit übernatürlichen, an Zauberei grenzenden Kräften ausgestattet. So entdeckt Melanie in Melanie Miraculi (1990) an sich selbst ganz zufällig die wunderbare Fähigkeit, Erwachsene auf Miniaturgröße schrumpfen zu lassen. Der Briefträger, die Lehrerin, der Polizist und ein Reporter ziehen schließlich nach und nach in Melanies Puppenhaus ein, nachdem diese sie, mehr ungewollt als absichtlich, ‘kleingekriegt’ hat. Dadurch wandeln sich die Perspektiven, Groß und Klein bekommen die aufschlussreiche Gelegenheit, in die jeweils andere Rolle zu schlüpfen. Es verwundert kaum, dass letztlich alle sehr erleichtert sind, als es Oma Mathilde, einer erwachsenen(!) Person, gelingt, alles wieder ins rechte Lot zu bringen und so ein Happy End herbeizuführen.
Anders liegt der Fall im Vamperl (1979) sowie den Fortsetzungsgeschichten Vamperl soll nicht alleine bleiben (1992) und Wiedersehen mit Vamperl (1998): Ein fantastisches Wesen in Gestalt eines kleinen Vampirs bricht durch einen Zufall in die realistische Welt ein. Das Vamperl wird von Frau Lizzy liebevoll aufgenommen und zunächst nur mit Milch verköstigt. Zusätzlich beginnt es bald, verärgerten oder bösen Menschen das Gift aus der Galle zu saugen und sie dadurch friedfertiger zu machen. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass das Vamperl alleine auf keinen Fall mit all der bitteren Galle dieser Welt fertig werden kann. So begibt sich Frau Lizzi auf die Suche nach einer Frau für das Vamperl. Ihr Weg führt sie direkt „zu der, die uns erfunden hat. Soll sie sich einmal den Kopf zerbrechen" (Das Vamperl, S. 54). Frau Lizzy besucht Renate Welsh, trinkt mit dieser Kaffee und lässt sich von den Kinderbriefen, die sie auf dem Schreibtisch der Autorin findet, inspirieren. Schließlich findet das Vamperl tatsächlich seine Vamperlina und gründet mit ihr eine Familie. So ist sichergestellt, dass die Menschen auch in Zukunft daran gehindert werden können, sich gegenseitig ‘anzugiften’. Ganz nebenbei werden die kleinen Leserinnen und Leser aus der ‘Vamperl-Perspektive’ mit bedenkenswerten Einsichten in das Zusammenleben der Menschen konfrontiert.
Einen weiteren, allerdings missglückten Versuch, Schwierigkeiten unter Menschen zu regeln, beschreibt die Autorin in Alle Kinder nach Kinderstadt (1974). Der Stadtrat hat die ‘epochale Idee’, alle Leute gemäß ihren Interessen in jeweils abgeschlossenen Städten unterzubringen. Es dauert nicht sehr lange, bis die Menschen anfangen, unterirdische Gänge zu graben, um zueinander zu kommen. Die fantastische Geschichte soll mit ihrer sozialkritischen Thematik Kindern bewusst machen, dass die Gemeinschaft aller ein Gut ist, auf das nicht verzichtet werden kann.
Im Kleinen Moorgespenst (1985) schließlich sind es nicht mehr die Kinder, die im Mittelpunkt stehen. Sie sind allerdings direkt betroffen von den Problemen eines kleinen Gespensterkindes, das sich auf der Suche nach seiner Mutter befindet, denn ihnen wird es zumeist angelastet, wenn das kleine Moorgespenst wieder einmal Unheil und Verwirrung anrichtet. Auch einen Namen will das Gespenst finden; wer keinen Namen hat, der fürchtet sich. Das sympathische Moorgespenst hat Glück – die Geschichte endet gut.
Renate Welsh will in ihren fantastischen Kinderbüchern Missstände in der Realität karikieren mit dem Ziel, die Belange und Rechte der Kinder in unserer Gesellschaft mehr ins Blickfeld zu rücken. Dabei bleibt sie nicht bei der Kritik an den Erwachsenen stehen, sondern sie versucht überdies, den Kindern Mut zu eigenständigem Denken und Handeln zu machen. Gleichzeitig gelingt es der Autorin mittels der fantastischen Elemente, über die reine Problemdarstellung hinaus die spielerische und unterhaltsame Seite des Lesens spürbar werden zu lassen.
Ebenfalls mit viel Sinn für Humor beschreibt die Autorin in Vor Taschendieben wird gewarnt (2002) die Probleme von Percy, einem etwa zehnjährigen englischen Jungen, der einer Dynastie von Taschendieben entstammt, allerdings selbst für Gaunereien keinerlei Talent besitzt. Wie er und seine Familie dem kriminellen Durcheinander schließlich entwachsen und Percy sogar noch einen Vater bekommt, wird witzig, einfallsreich und skurril beschrieben. Indem die Geschichte eine in vielen Bereichen auf den Kopf gestellte Welt in einer Mischung aus Nonsens und Realität abbildet, schlägt sie eine Brücke zu den zahlreichen realistischen Kinderbüchern, die die Autorin veröffentlicht hat.
Bekannte Titel in diesem Bereich sind beispielsweise Ich schenk’ dir einen Kindertag (1987), Seifenblasen bis Australien (1988), Spinat auf Rädern (1991), Mit Hannibal wär alles anders (1993) oder Das Haus in den Bäumen (1993).
Renate Welsh thematisiert und problematisiert die Welt der Kinder mit ihren tagtäglichen Konflikten. Sie verdeutlicht, dass Kindheit kein Schonraum ist, sondern im Gegenteil eine Zeit voller Unsicherheit und Zweifel. Sie beschreibt die Ängste, Hoffnungen und Träume der kindlichen Protagonisten, indem sie sich in