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Über dieses E-Book

Schlepperbanden schleusen übers Mittelmeer Zehntausende von Flüchtlingen nach Italien ein. Wer die Torturen der Seefahrt überlebt, kann es mit reaktionären Bürgern zu tun bekommen. Jane und ihre Freundin, die Anwältin Gioia, werden in Rom Zeugen der Ermordung eines Flüchtlings. Sie retten zusammen mit Nonnen eines Karmeliterklosters eine Gruppe von Schiffbrüchigen, die im Süden an Land gebracht wurden. Eine spannungsreiche Geschichte und ein politisch aktueller Roman zu einem Drama, das sich an den Grenzen Europas tagtäglich wiederholt.
SpracheDeutsch
HerausgeberElster Verlag
Erscheinungsdatum8. Dez. 2013
ISBN9783906065694
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    Buchvorschau

    Blutfunde - Jutta Motz

    Jutta Motz

    Blutfunde

    Roman

    Elster Verlag • Zürich

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

    Elster Verlagsbuchhandlung AG

    Hofackerstrasse 13, CH 8032 Zürich

    Telefon 0041 (0)44 385 55 10, Fax 0041 (0)44 305 55 19

    info@elsterverlag.ch

    www.elsterverlag.ch

    ISBN 978-3-906065-69-4

    Umschlag: dreh gmbh. Marc Droz | Regula Ehrliholzer, Zürich

    E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    No one shall be subjected to torture

    or cruel, inhuman or degrading treatment or punishment.

    «Niemand darf der Folter

    oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.»

    Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, 10. Dezember 1948

    Inhalt

    Prolog

    Mittwoch

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Dienstag – Zwei Tage später

    Mittwoch

    Freitag

    Samstag

    Montag – Zwei Tage später

    Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Epilog

    Nachwort

    Literatur

    Prolog

    Ein Aprilsturm fegte über das Meer, kalt und schneidend. Er peitschte die Wellen. Die Windstärke betrug sieben Beaufort. Die Menschen kletterten langsam die Strickleiter hinunter und hangelten mit einem Fuß nach festem Halt auf dem kleinen Boot, das neben dem Frachtschiff festgemacht hatte. Zögernd ließen sie das Fallreep los, denn gerade war einer von ihnen beim Herabklettern zwischen die Boote gefallen und im Auf und Ab der schaukelnden Schiffe zwischen den Schiffswänden zerquetscht worden. Immer wieder trieben die Wellen das Fischerboot ab, mussten die Leinen nachgelassen und angezogen werden, mit denen das Boot an das Frachtschiff getäut war.

    Zwei Männer jener Gruppe, die als erste von Bord gegangen waren, schienen Seeleute zu sein. Sie versuchten, den Motor des Fischerbootes zu starten. Mit Entsetzen beobachtete der Kapitän des Frachtschiffs, dass der ältere von ihnen die Abdichtung über dem Motor fachmännisch öffnete und mit einer Taschenlampe und einem Schraubenzieher begann, einen Fehler im Motorraum zu suchen.

    Über eine Stunde dauerte das Umsteigen schon. Der Kapitän wurde nervös. Immer wieder hörte er auf den Wetterbericht, der knatternd aus dem alten Lautsprecher quäkte. Das Ende des Sturmes lag unmittelbar bevor. Die See drohte, ruhiger zu werden.

    «Macht schneller! Schneller, es sind noch über fünfzig, die wir von Bord kriegen müssen», rief der Kapitän seinen Leuten auf arabisch zu. Die verängstigten Menschen ließen sich nur mit Mühe dazu überreden, bei derart schwerem Wetter das größere Schiff zu verlassen. Mit Unmut sah der Kapitän von oben, wie einer der Männer auf dem Fischerboot – er schien so eine Art Führer zu sein –, einigen Frauen und Kindern Schwimmwesten anlegte. «Allah möge dir große Sorgen bereiten», murmelte er wütend vor sich hin.

    Der Zweite Offizier versicherte einem jungen Inder, der sich weigerte, von Bord zu gehen: «Ihr seid in Küstennähe. Jetzt ist kein Zollboot unterwegs, bei dem Wetter kommt ihr an Land, ohne aufgegriffen zu werden.»

    Als der Kapitän sah, dass der Passagier immer noch zögerte umzusteigen, grummelte er ungehalten in seinen Bart: «Die Eier mögen euch allen abfrieren …»

    Endlich kletterte der Zögernde über die Reling, sein Fuß suchte nach dem Brett der Strickleiter, und er stieg in das Fischerboot um. Ihm folgten die Letzten widerstandslos. In weniger als zwanzig Minuten war das Ausbooten der Passagiere beendet. Das Frachtschiff fuhr die Motoren höher, die Leinen wurden gelöst, langsam drehte sich sein plumper Schiffskörper von dem sehr viel kleineren Fischerboot weg, nahm Fahrt auf und entfernte sich. Plötzlich stoppten die schweren Dieselmotoren, das Schiff fuhr rückwärts, scherte bei der Drehung mit dem Heck nach Backbord aus und versetzte dem Fischerboot einen schweren Schlag vor den Bug.

    Mehrere Menschen, die dicht gedrängt an Deck des überladenen Bootes standen, stürzten schreiend über die niedrige Reling, verschwanden in den aufgewühlten, kalten Fluten. Das laute Gejammer und Gekreische, das jetzt anhob, störte den Kapitän nicht. Er befahl: «Volle Fahrt voraus!»

    Mit einem Fernglas beobachtete er die Vorgänge an Bord des kleinen Kahns. Das überladene Boot lief mit Wasser voll, bekam Schlagseite. Erleichtert atmete er auf, als er sah, dass seine Arbeit zur Zufriedenheit seines Auftraggebers erledigt war. Diese Menschen hatten keine Überlebenschance, denn er wusste, dass sie mehr als hundert Seemeilen von irgendeinem Zipfel Land entfernt waren.

    Irgendwo zwischen Nordafrika und Süditalien versank ein alter Fischerkahn mit über 200 Menschen an Bord in wenigen Minuten.

    Wer nicht frei ist, wird niemals einen anderen achten –

    weder den Sklaven, denn dessen Unglück erinnert ihn an seine eigene Erniedrigung, noch den freien Menschen, denn dessen Glück ist für ihn eine Beleidigung.

    Boualem Sansal, Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt, Paulskirche 2011

    Mittwoch

    Die erste gemeinsame Reise war minuziös geplant gewesen. Statt mit ihrem Jonathan Rom zu genießen, saß Jane jetzt allein in einem Zug, der gerade in Mailand abfuhr. Mit über zwei Stunden Verspätung. «Ortsüblich», erklärte ein Mitreisender lächelnd. Sie lehnte sich in ihrem Erste-Klasse-Abteil im Fenstersitz zurück und schloss die Augen.

    Sie grübelte. Was mochte Jonathan jetzt gerade tun? Ich glaube, ich bin wohl eine der dümmsten Frauen, die auf Gottes Erdboden herumlaufen, resümierte sie, die einzige, die eine Verlobungsreise allein antritt. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre zerzausten Haare. Nein, Lady Montague hatte sich sogar auf ihre Hochzeitsreise allein begeben. Ihr Mann war bereits an der Hohen Pforte in Konstantinopel akkreditiert. Sie schmunzelte wegen des unpassenden Vergleichs.

    Der Hochgeschwindigkeitszug erreichte nach einigen Stunden den Stadtrand von Rom und verlangsamte seine Fahrt. Missmutig packte sie Ingeborg Bachmanns Romanfragment «Der Fall Franza» in ihre große Handtasche.

    Neben der Sprache, die sie als Germanistin begeisterte, fesselte sie die Thematik. Franza, im Faschismus groß geworden, musste alleine die Verantwortung für den jüngeren Bruder übernehmen. Sie war vollkommen auf sich selbst gestellt in einer kriegerischen, von Erwachsenen zerstörten Welt. Verlassen von einem in El Alamein gefallenen Vater und einer kranken Mutter. Der herbeigesehnte Frieden enttäuschte. Sie zerbrach an den Verheerungen der Zeit. Franza wurde erst zum geliebten, dann beiseitegeschobenen Studienobjekt ihres Mannes, eines bekannten Psychiaters.

    Beeindruckt von der Sprachgewalt der Autorin, mitgenommen von dem wechselvollen und zum Scheitern verurteilten Leben der Heldin, versuchte Jane sich im Heute zurechtzufinden. Noch ein wenig benommen räumte sie ihren Sitzplatz am Fenster auf, legte die Zeitungen zusammen, schmiss die leere Wasserflasche und das Schokoladepapier in den Abfalleimer, zog ihren Blazer an und drängelte mit ihrem Gepäck Richtung Tür. Die Handtasche hängte sie um. Der Zug kam quietschend zum Stehen; fauchend entwich die Druckluft den Türen, die sich automatisch öffneten. Roma Termini, einer der schönsten Bahnhöfe, erwartete sie. Sie hievte ihr Gepäck auf den Bahnsteig. Ganz in der Ferne kam Gioia gelaufen, laut rufend, mit beiden Armen winkend.

    Sie fielen sich um den Hals. Gioia sah sich suchend um, überlegte, welcher der vielen Männer auf dem Bahnhof wohl Janes Neuer sein könne. Der Dicke, der gerade schwitzend Koffer aus dem Zug schleppt? Der Jüngling da, der dümmlich lächelnd auf dem Bahnsteig steht? Oder der soignierte Vierzigjährige im Anzug mit Aktentasche? Jane deutete den suchenden Blick der Freundin richtig. «Jonathan konnte leider nicht mitkommen.»

    «Auf eure erste gemeinsame Kennenlernreise?»

    «Manche Dinge sind eben wichtiger!»

    «Ich glaube, du spinnst. Ihr habt euch zerstritten?»

    «Mit Jonathan kann ich mich nicht streiten. Der perfekte Mann, ruhig, überlegt, sachlich. Außerdem ist er lieb, ja sogar zärtlich und immer verständnisvoll.»

    «Ich glaube, ich will den perfekten Mann nicht, wenn ich dann alleine verreisen muss.» Gioia griff sich den Koffer. «Wieso kommst du mit dem Zug aus Mailand?»

    «Die Flüge nach Rom waren ausgebucht. Ostern ist nach wie vor eine sehr beliebte Zeit, um nach Rom zu reisen. Dazu kommen die Pilger …» Jane trottete hinter der Freundin her.

    Die Sonne schien, es war frühlingshaft warm, sie hoffte auf schöne Tage mit viel Sonnenschein und viele Besuche in Straßencafés und Trattorien. Wenn sie, die Engländerin, etwas an Italien begeisterte, dann war es das Leben auf der Straße, an jeder Ecke, in jedem Quartier. Jane hatte mit Gioia telefoniert und sich vergewissert, dass sie wenigstens den ersten Abend ihrer Reise nicht alleine in der Ewigen Stadt verbringen musste.

    Mit viel Geschrei und übertriebener Gestik ergatterte Gioia ein Taxi vor dem Bahnhof. Kaum waren sie im dritten Stock in Gioias Eigentumswohnung in der Nähe des Corsos eingetroffen und die alte, schwere Wohnungstür ins Schloss gefallen, fiel die Freundin über Jane her. «Gib zu, du hast dir wieder den falschen Mann gegriffen? Du bist da in etwas hineingeraten, und nun hast du dich zu mir geflüchtet, weil du nicht weiterweißt.» Die beiden jungen Frauen standen sich in dem hohen Flur des alten Hauses gegenüber und musterten sich prüfend. «Nun erzähl schon! Sag, was los ist.»

    «Bist du noch immer so zuverlässig, so verschwiegen, oder bist du zum römischen Klatschweib mutiert?»

    «Verschwiegen, wie in Berlin, ich schwöre!» Gioia hob theatralisch die drei Schwurfinger, nachdem sie die Fingerspitzen abgeleckt und auf die Stelle ihres Pullovers gelegt hatte, wo sie das Herz vermutete.

    «Dann mach mir einen Espresso und ich erzähle.» Sie ließen den Koffer im Flur stehen und gingen in die große, alte Küche, wo eine moderne Espressomaschine in kürzester Zeit fauchend und zischend die gewünschten Getränke herstellte. Sie saßen sich an dem alten Tisch gegenüber, an dem in grauer Vorzeit das Dienstpersonal die Mahlzeiten der Herrschaften vorbereitet hatte.

    «Also … Ich höre.»

    «Jonathan arbeitet im British Museum. Er ist Archäologe, wie mein Vater. Heute Morgen, also am Tag unserer Abreise, wurde er ins Museum gerufen. Er rief mich von dort aus an, sagte, ich solle alleine nach Mailand abfliegen und von dort nach Rom mit dem Zug fahren, er käme nach. Da hab ich mich aufgemacht und bin ins Museum, weil ich wissen wollte, was los ist.»

    «Und …?»

    «Ein irakischer Kollege hat sich mit zwei Koffern der feinsten griechischen und römischen Kleinkunst ins Museum geflüchtet. Er hat sie auf dem Seeweg nach Großbritannien geschafft. Sachen, die alle dem Nationalmuseum in Bagdad gehören.»

    «Er hat sie geklaut?»

    «Nein, im Gegenteil. Nachdem das Nationalmuseum nach der Besetzung des Iraks durch Amerikaner und Briten gestürmt worden war, nachdem alles, was halbwegs beweglich war, gestohlen und verschleppt wurde, hat er auf den Märkten, bei den Händlern, nach griechisch-römischen Exponaten gesucht und sie zusammengekauft.»

    «Offenbar nicht gerade arm, der Flüchtling.»

    «Die Not vieler Familien ist so groß, dass sie gezwungen sind, entbehrliche Dinge wie Antikes schnell wieder zu verhökern. Dieser Iraker ist Kustos des Museums für die Abteilung der griechisch-römischen Altertümer. Er kennt jedes Stück. Er hat mehr als die Hälfte der Kleinkunst, die verschwunden war, zurückgekauft, teilweise sogar spottbillig.»

    «Und wieso ist er nach London gekommen? Kennt er da jemanden?»

    «Nein, er wollte mit seinen Koffern zu meinem Vater. Die beiden korrespondieren schon lange miteinander über E-Mail. Er hat mal bei uns in Oxford gewohnt, als er zu einem Vortrag eingeladen war. Doch der arme Kerl fühlte sich verfolgt und hatte Angst. Er war in einer Pension gegenüber dem British Museum untergetaucht, von da rief er meinen Vater an. Der nannte ihm Jonathans Namen und riet ihm, Zuflucht im Museum zu suchen. Sozusagen der kürzeste Weg.»

    «Der kürzeste Weg? Mir wäre da das Museum in Bagdad eingefallen.» Gioias Pragmatismus wurde nur von ihrer Unkenntnis der irakischen Verhältnisse übertroffen.

    «Das Land hat keine so gut funktionierende Regierung, die ihre Bürger schützen kann, geschweige denn das kulturelle Erbe. Anschläge nehmen zu, da kümmert der Museumsbesitz nicht viele. Dazu eine Unzahl an Raubgrabungen im ganzen Land, deren Funde auf Märkten oder über dunkle Kanäle verhökert werden.»

    «Aber das Museum in Bagdad wurde mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut.»

    «Bis 2004 wurden über 15 000 Kunstgegenstände als gestohlen aufgeführt, dann wurde der Keller des Museums aus Sicherheitsgründen zugemauert. Ein großer Teil wurde von den Irakern selber zurückgebracht. Die Imame verurteilten den Diebstahl. Vieles konnte in Europa, in den USA und in Asien im Kunsthandel sichergestellt werden.»

    «Kann man die Antiquitäten im Kunsthandel erwerben, auf Auktionen?»

    «Heute wird der Markt kontrolliert, aber die dunklen Kanäle sind nicht unterbunden.»

    «Und was passiert nun mit dem Zeug in London?»

    «Jonathan hatte die Idee, alles als Leihgabe des Museums von Bagdad zu deklarieren und ins Magazin zu nehmen. Demnächst will er eine Sonderausstellung vorbereiten. So sind die Fundstücke sicher. Gesichert ist damit auch, dass die Gegenstände zurückgegeben werden müssen, wenn dort normale Zustände herrschen.»

    «Und deshalb konnte dein wundervoller Jonathan nicht mit dir reisen?» Gioia machte zwei neue Espressi und holte ein paar Plätzchen aus einer Blechbüchse, die sie auf einen Teller legte und vor Jane hinstellte.

    «Das Museum darf nur Exponate annehmen, die versichert sind. Versicherungen kosten Geld. Ein Sponsor muss gefunden werden. Verträge müssen gemacht werden. Die Gegenstände müssen für die Versicherung einzeln beschrieben und bewertet werden, ein Versicherungsvertrag muss abgeschlossen werden. Hast du eine Ahnung, wie umständlich ein Museum arbeitet?»

    Jane nahm einen Schluck Kaffee und verbrannte sich den Mund. Erschrocken atmete sie kühle Luft ein. Schnell nahm sie einen Schluck aus einem Glas mit kaltem Wasser, das Gioia vor sie hinstellte.

    Die schüttelte abwehrend den Kopf. «Nur gut, dass der irakische Wissenschaftler nicht mit seiner wertvollen Fracht nach Italien gekommen ist. Bevor nicht drei bis vier Rechtsanwälte genug daran verdient haben, wäre keine Zeile eines Leihvertrages zu Papier gebracht worden.» Gioia musste es wissen, hatte sie doch Jura in Rom und an der Humboldt-Universität in Berlin studiert und machte jetzt ihr Praktikum in der renommierten Kanzlei ihres Vaters.

    «Du bleibst bei mir, bis dein Typ nachkommt. Du willst doch nicht alleine in einem Doppelbett liegen und dich nachts zu Tode grämen?»

    Die falsche Dramatik in Gioias Stimme reizte Jane zum Lachen. Andererseits, die Aussicht, nicht allein im Viersternehotel zu wohnen, alleine frühstücken und dinieren zu müssen, war verlockend. «Dann gehen wir aber heute Abend nach Trastevere, in unsere alte Trattoria», verlangte sie.

    Die Freundin stimmte zu. Gemeinsam schleppten sie das Gepäck ins Gästezimmer, bezogen das Bett, räumten den Koffer aus und erzählten, erzählten und erzählten von vergangenen Studienzeiten und gemeinsamen Freunden aus Berlin.

    ***

    Der Fischer brachte die Menschen mit seinem Kutter bis zur Landspitze, half den sechs Frauen beim Aussteigen und trug die drei kleineren Kinder an Land. Hakim Mahmud sprang von Bord. Er stand bis zu den Knien im Wasser und hielt die Leine des Bootes, das von den Wellen abzutreiben drohte.

    Die Frauen liefen mit den Kindern Deckung suchend zu den Bäumen und Büschen. Dort kauerten sie sich hin. Ein am Arm verletzter Junge schüttelte die helfende Hand des Alten ab. Kopfschüttelnd sah der Fischer dem am Strand entlangtaumelnden Jungen nach.

    «Wo haben Sie so gut italienisch gelernt?» Der Fischer wandte sich Hakim zu.

    «Ich habe in Rom studiert.»

    Der alte Mann lächelte, nickte dem jüngeren zu. «Nun wollen Sie zurück, zu ihrer Freundin?» Die Frage hatte amüsiert geklungen und war von ununterbrochenem aufmunterndem Nicken begleitet. Als Antwort stimmte er augenzwinkernd seinem Retter zu, der davon ausging, dass eine hübsche Frau alle Strapazen der Welt wert seien.

    «Man darf im Frühjahr, bei den Stürmen, nicht mit einem zu kleinen Boot im Ionischen Meer herumfahren. Sie hatten Glück, dass Sie schon dem Golf von Tarent nahe waren, als Sie ihr Schiff verlassen mussten. Sonst hätte Sie niemand gefunden …» Diese Warnung des Fischers kam in jedem Fall zu spät. Sie enthielt aber zwei wichtige Hinweise für Hakim. Der geografische: Sie waren im Ionischen Meer, sogar bereits im Golf von Tarent, dem Stand der untergehenden Sonne nach zu urteilen, auf der westlichen Seite des Stiefelabsatzes. Und: Es mochte klüger sein, sich nicht als Flüchtling auszugeben. Sollten sie sich als Schiffbrüchige deklarieren? War das glaubwürdig?

    Er ahnte, warum der Fischer sie in der kleine sandigen, unbewohnten Bucht, die von karstiger Hügellandschaft eingefasst war, abgesetzt hatte. Er wollte keinen Ärger wegen irgendwelcher Flüchtlinge haben, nicht mit ihnen im Hafen seines Dorfes einlaufen. Rettete er sie, lief er Gefahr, sein Boot zu verlieren, das hatte Hakim in der englischen Ausgabe der Zeitung seines Jachtclubs in Alexandria unlängst gelesen.

    Welch eine Perversion des Seerechtes, überlegte er. Jeder Bootsführer müsste Schiffbrüchige aufnehmen, aber heute kann ein Skipper sein Boot verlieren, wenn er Ertrinkende rettet. Der gute Mann hatte ihnen geholfen, obwohl die anderen Boote abdrehten und taten, als hätten sie die Schiffbrüchigen in ihren orangefarbigen Schwimmwesten nicht bemerkt. Der Fischer stieg in sein Boot, ging in die Kajüte und kam mit einem Arm voll alter Decken zurück.

    «Für die Kinder.» Er reichte sie Hakim, der sie auf den trockenen Sand trug. «Im April sind die Nächte kalt.» Er verschwand wieder in seiner Kajüte, kam mit einem schweren Bündel an Deck, reichte es dem Fremden, der bis zu den Knien im Wasser stand. «Das brauch ich nicht, ich bin in zwei Stunden zu Hause.» Er schmiss den Motor an und fuhr rückwärts auf die unruhige See hinaus.

    Hakim sah dem alten Mann nach, der mit seinem kleinen Fang, der kaum die Familie ernähren dürfte, nach Hause tuckerte. Er, die sechs Frauen und die Kinder hatten die illegale Überfahrt von Kleinasien und Nordafrika nach Italien überlebt. Vermutlich als Einzige. Sie waren vom mehrstündigen Aufenthalt im kalten Wasser entkräftet und erkältet. Während der Bootsfahrt hatten sie sich auf Deck in der Mittagssonne aufwärmen können. Trotzdem, die Kinder fieberten stark. Hakim knotete das schwere Bündel auf. Der Fischer hatte ihnen einen Plastikkanister Wasser in die Decke gepackt, ein fast volles Röllchen Aspirin, und – in Blechbüchsen verschlossen – Brot und Kekse. In einem kleinen Behälter lagen Streichhölzer, geschützt vor der Feuchtigkeit. Hat dieser Mann uns seinen gesamten Vorrat an Lebensmitteln überlassen?

    Schnell raffte Hakim alles zusammen, schleppte es über den Sand in die sichere Deckung, die Bäume und Büsche am Rande der Bucht boten. Er brach einen niedrig hängenden Ast ab, und mit wischenden Bewegungen tilgte er ihre Fußspuren im Sand. Kein zufällig vorbeifahrendes Boot sollte sehen, dass in dieser Bucht Menschen an Land gegangen waren. Kein Boot der Guardia Costiera durfte ihre Spuren entdecken. Noch wusste er nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst galt es, die kalte Nacht zu überleben. Er musste Hilfe holen, denn eine Frau und die Kinder waren krank.

    ***

    Der Bummel in der Frühlingssonne in Trastevere war erholsam. Jane und Gioia durchstreiften die engen Vicoli und mieden die Straßen, in denen die Touristenströme sich bewegten. Bei einer Freundin von Gioia, einer Musikerin, klingelten sie. Renata non è qui, rief eine alte Frau von oben. Gioia bedankte sich. Lachend zogen sie weiter.

    Vor ihnen ging ein Afrikaner, der einen blauen Plastiksack schleppte. Als sie auf eine breitere Straße kamen, blieb er stehen, sah sich sichernd um, dann holte er eine bunte Decke aus dem Sack, die er auf der Straße ausbreitete. Er kniete sich darauf, räumte sauber aufgerollte Gürtel aus geflochtenem oder glattem Leder mit polierten und matten Schließen aus, sortierte sie nach Farbe und Größe und ordnete seinen Schatz schön übersichtlich vor den Augen der Passanten auf der Straße.

    «Sieh mal, Gioia, ein Gürtel mit dem ‹G› von Gucci. Ob der hier teuer ist?!» Jane war begeistert.

    «Der Gürtel vielleicht nicht, aber die Strafe, die du zahlst, falls du beim Kauf erwischt wirst, dürfte die Kosten deines Rom-Aufenthalts übertreffen. Die Ware hier ist gefälscht.»

    «Woher weißt du das?»

    Gioia schob die Freundin weg. «Ich habe ein paar solch junge Kerle vor Gericht vertreten, wenn die Polizei sie geschnappt hat. Aber in den meisten Fällen sehen die Carabinieri großzügig weg. Sie wollen sich die Mühe mit Berichte schreiben ersparen und die der Gerichtsverhandlung mit all dem Drum und Dran. Die jungen Männer sind Flüchtlinge, sie dürfen nicht arbeiten, müssen aber von irgendetwas leben. Viele haben keine Papiere, können sich nicht ausweisen, sagen nicht, aus welchem Land sie kommen, weil sie Angst haben, abgeschoben zu werden.»

    Sie waren wieder in eine der ruhigeren Nebenstraßen eingebogen. «Wer gibt ihnen diese Gürtel und Taschen, die hier überall angeboten werden? Es sind preiswerte und interessante Artikel dabei, bei manchen könnte ich schwach werden.» Ist es nicht an der Zeit, meine alte Umhängetasche aus der Studienzeit durch etwas Eleganteres zu ersetzen? sinnierte sie. «Warum ziehst du mich dauernd hinter dir her? Warum darf ich nicht stehen bleiben?» Jane wandte sich wütend um. «Der Straßenhändler ist sicher viel preiswerter und seine Ware – egal, ob echt oder falsch …»

    Gioia zog sie weiter. Sie waren vor ihrer kleinen Trattoria angekommen, in der Renata an manchen Abenden Gitarre spielte. «Lass uns was essen.» Gioia sprach mit dem Padrone, der ihr bestätigte, dass Renata und ihre Freunde heute erwartet werden, allerdings erst sehr viel später.

    «Ich will aber noch gucken …» Jane drehte sich um, wollte zu dem Straßenhändler zurückgehen.

    «Du machst ihm falsche Hoffnung. Die armen Kerle sind die Verlierer im Spiel. Sie zahlen, um nach Italien gebracht zu werden, oftmals mehr, als ihre ganze Familie aufbringen kann. Die wenigen, die je italienischen Boden unter die Füße kriegen, werden in Lager für die Rückschaffung oder, wenn sie fliehen können, heimlich in Großstädte verfrachtet. Dort müssen sie sich prostituieren oder diesen nachgemachten Kram teuer einkaufen und ihn verbotenerweise an Touristen verscherbeln. Jeden noch so kleinen Gewinn steckt der Verkäufer der Ware ein, lässt dem Straßenhändler kaum etwas und zwingt ihn, neue Ware von ihm abzunehmen. Wenn sie erwischt werden, gehen die jungen Leute in den Knast, aber wie ihr Lieferant heißt, wissen sie nicht einmal. Nach Verbüßung ihrer Strafe werden sie ausgewiesen. Da sie keine Auskunft geben, woher sie kommen, wurden sie bisher irgendwo in Nordafrika an Land gebracht.»

    «Grauenhaft, was für eine unmenschliche Praxis.»

    «Italien hatte unter Berlusconi mit Libyens Ghaddafi Verträge darüber gemacht. Die libyschen Partner haben die Flüchtlinge entweder in Gefängnisse gesperrt und misshandelt oder hilflos ausgesetzt. Médécins sans Frontières hat es herausgefunden, als über einhundert Menschen mit Bussen in die Wüste gebracht und ausgesetzt wurden. Weit entfernt von irgendwelchen Siedlungen, tausende von Kilometern von ihren Heimatländern entfernt, ohne Wasser, ohne Nahrung. Verdammt zum Verhungern und Verdursten.»

    «Woher weißt du das nun schon wieder?»

    «Ein paar aufgeweckte Typen packten mehrere Batterien ins Gepäck, haben sich daraus einen Transformator gebaut und mit einem Mobiltelefon über Satellit Hilfe angefordert. So ist diese Schweinerei aufgeflogen. Bestätigt hat es mir Fabio, mein Bruder, er ist Arzt. Freunde von ihm arbeiten in Nordafrika bei Médécins sans Frontières. Ich möchte nicht wissen, was die einzelnen Länder an diese Rückschaffungsorganisationen, die die abgewiesenen Flüchtlinge aufnehmen, zur Wiedereingliederung zahlen – alles nur, damit sie unwillkommene Menschen loswerden.» Gioia redete sich immer mehr in Rage. «Medizinische Versorgung und komfortable Rückreise garantiert. Von wegen.» Ihre Stimme wurde lauter und wütender. «Jetzt ist diese Abschiebepraxis vom Europäischen Gerichtshof verboten. Endlich.»

    Jane schwieg. Sie musste über das, was sie gerade gehört hatte, nachdenken. Gioia zerrte sie ins Innere des Lokals, schob ihr einen Stuhl unter und setzte sich ihr gegenüber. Ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, bestellte sie für beide das Menü des Hauses. Ein großer Krug Vino rosso della casa wurde unaufgefordert gebracht. Brot und Wasser standen bereits auf dem Tisch.

    Bald kam ihr Essen. Jetzt erst merkte Jane, wie hungrig sie nach der langen Reise war. Erst gab es Pasta, dann Fleisch und Gemüse, ein Dolce rundete das Menü ab. Jane hatte sich für Tiramisu entschieden, Gioia nahm nur eine Macedonia di Frutta.

    Später am Abend kamen Renata und ihre beiden Freunde, die wie sie Gitarre spielten. Sie ließen sich in der Mitte des Lokals auf den Stufen zur Küche nieder, sangen und lachten mit den Gästen. Gegen elf Uhr war das kleine Lokal voll, und der Padrone und seine mithelfenden Familienmitglieder hatten alle Hände voll zu tun.

    Lange nach Mitternacht, mehrere Krüge Rotwein später, – der Wirt wollte schließen –, zogen sie zu Renata weiter, die ihnen ein neues, von ihr komponiertes Musikstück vorstellen wollte. Bisher hatte sie es noch niemandem vorgespielt.

    ***

    Die Mutter Oberin hatte das Dankesgebet gesprochen und für das Abendessen ein Silentium verfügt. Sie brauchte Ruhe, kein Getuschel. Schwester Annunziata, die ihr heute ausnahmsweise gegenübersaß, hielt den Kopf gesenkt. Sie löffelte ihre Suppe, ohne ein Wort, ohne den Blick vom Teller zu nehmen, Tränen rannen über ihr Gesicht, tropften in die ohnehin dünne Speise. Was ist, wenn das, was Annunziata beobachtet haben will, wahr ist? Was ist, wenn der Bürgermeister mitgemacht hat? An wen wende ich mich? Was muss ich als gläubige Christin, Oberin eines Frauenklosters, in solch einem ungeheuerlichen Fall unternehmen? Wo zeige ich einen mehrfachen Mord an, den die Obrigkeit nicht nur billigt, sondern der in ihrem Auftrag erfolgte?

    Apulien wurde straff in postfaschistischer Manier regiert. Auch nachdem Mister B. zum Rücktritt gezwungen worden war. Dafür waren die erhöhten Abgaben, die neuen Steuern schon bis in den Süden des Landes vorgedrungen, aber von einer neuen Liberalität, die sich die Oberin vom Machtwechsel erhofft hatte, war bisher nichts zu spüren.

    Annunziata ist ein pragmatischer Mensch, überlegte sie, und sie ist gut bei der Arbeit im Klostergarten. Sie hat den grünen Daumen für unsere Kräuter, aber keine Imagination. Sie kriegt keine Visionen und wird nicht von irgendwelchen Engeln nachts heimgesucht, sondern allenfalls vom Sohn des Gärtners am Tage geküsst. Sie kann sich das nicht ausgedacht haben!

    Nach dem Essen sprach die Mutter Oberin einige Gebete. Eines galt den Menschen, die heute gestorben waren, Bekannten wie Unbekannten, Geliebten wie Ungeliebten. Es war ein sehr persönlich gehaltenes Gebet, ein emotionales, und es verfehlte seine Wirkung nicht. Schwester Barbara, die Freundin von Schwester Annunziata, die mit ihr in der Landwirtschaft zusammenarbeitete, schluchzte laut auf. Ich werde mit ihr ebenfalls reden müssen. Annunziata hat das arme Mädchen sicher mit ihren Schilderungen verunsichert.

    Die Oberin ließ dem Gebet die Ermahnung folgen, alles, was sich innerhalb der Klostermauern zutrage, worüber hier geredet werde, dürfe von niemandem nach außen getragen werden. Betretenes Schweigen oder verständnisvolles Nicken waren die Antwort. Sie bat die Schwestern darum, den Abend in der Kirche oder im Kreuzgang zu verbringen, um zu beten; Trost könnten sie nur im Gebet finden. Vorsichtshalber verlangte sie, das Silentium auf den ganzen Abend auszudehnen. Die Schwestern sollten zur Ruhe kommen. Am folgenden

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