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Mondfinsternis: Ausgewählte Werke
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eBook278 Seiten3 Stunden

Mondfinsternis: Ausgewählte Werke

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Über dieses E-Book

Lilly Sauter (1913-1972) war eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Vielseitigkeit. Als Kulturjournalistin, Übersetzerin und Schriftstellerin, als Ausstellungskuratorin für das Französische Kulturinstitut in Innsbruck sowie als Kustodin auf Schloss Ambras hat sie dem Tiroler Kulturleben der 1950er und 1960er Jahre entscheidende Impulse gegeben.
Mit diesem Band wird eine Auswahl ihrer vergriffenen schriftstellerischen Arbeiten wieder zugänglich: Neben der Novelle Mondfinsternis, einem ihrer schönsten Prosawerke, finden sich darin viele ihrer Gedichte u. a. zur klassischen französischen Moderne, in denen sie Bildende Kunst in Sprache übersetzt hat. Weitere Gedichte und Erzählungen sowie Aufsätze zur Kunst und Literatur ihrer Zeit sind hier zum Teil erstmals veröffentlicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum6. Juni 2013
ISBN9783709976470
Mondfinsternis: Ausgewählte Werke

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    Buchvorschau

    Mondfinsternis - Lilly Sauter

    Titel

    Lilly Sauter

    Mondfinsternis

    Ausgewählte Werke

    Herausgegeben von Karl Zieger und Walter Methlagl

    unter Mitarbeit von Verena Zankl und Christine Riccabona

    Mit einem Beitrag von Sir Ernst Gombrich

    Mondfinsternis

    Novelle

    Immer noch vermag ein Wort Beschwörung zu werden, immer noch vermag es, mitten zwischen Telefongesprächen, Zeitungsartikeln und dem Geräusch redender Menschen einen Kreis des Schweigens um sich zu ziehen, den nichts anderes erfüllt als sein eigener Klang. Namen besitzen diese beschwörende Kraft leichter noch als andere Worte, und bei fremden Namen verbindet der Klang sich mit Bildern der Fremde, die aus wirklich Gesehenem und ahnend Geträumtem merkwürdig gemischt sind. Ich weiß nicht, was Fabrizius vor sich sah, als er dreimal hintereinander „Castell’alto murmelte. Für mich selbst hat das Wort eine so vielfältige Bedeutung bekommen, daß ich nicht mehr imstande bin zu sagen, wohin es meine Gedanken führte, als ich ihm zum erstenmal begegnete. Ich weiß nur, daß ich mich in den magischen Kreis hineingezogen fühlte und daß auch Fabrizius ungeduldig und ärgerlich die Stirn runzelte, als ich ihm den Hörer hinüberreichte und sagte: „Stuttgart ruft. Dabei kam mit diesem Anruf ein Geschäft zum Abschluß, auf das er viel Mühe verwendet hatte – aber Fabrizius konnte Geschäfte vergessen, darin lag, so seltsam das klingen mag, seine Stärke. Die Objekte, mit denen er handelte, die Kunstwerke, die seine Galerie füllten, konnten seine Aufmerksamkeit so völlig in Anspruch nehmen, daß es zeitweise unmöglich war, mit ihm über anderes zu sprechen als über die Werte von Farben und Formen. Daß manche kleineren geschäftlichen Vorteile ihm dabei vielleicht entgingen, wurde reichlich wettgemacht durch die Anziehungskraft, die sein Verhalten auf Künstler ausübte. Sie sahen ihn wirklich unter dem Bann ihrer Werke stehen, und zwar von dem Augenblick an, wo er meinte, echte Qualität zu spüren, und sie übergaben ihm ihre Bilder leichter und rascher als den meisten anderen Kunsthändlern.

    Auch ich genoß die Freude ungetrübt, Fabrizius auf den Anruf eines Werkes, ja eines einzelnen Wortes reagieren zu sehen. Denn vergaß er dabei absichtslos manche geschäftlichen Angelegenheiten, so gab er mir mit voller Absicht die Möglichkeit, sie zu vergessen, indem er sie nicht näher mit mir besprach. Wir planten dafür die Ausstellung gemeinsam bis in die letzte Einzelheit, und noch während seines Gesprächs mit Stuttgart schob er mir den Brief herüber, der das Wort „Castell’alto" an diesem Morgen zu uns gebracht hatte. Es war Georg Pracks Handschrift, und der Fetzen schlechten Papiers, irgendwo herausgerissen, wurde durch die Form der Buchstaben, die Stellung der Worte, das Gesicht der Zeilen verwandelt in einen notwendigen, schönen und geordneten Hintergrund.

    „Merk Dir’s", stand auf dem Zettel, „es geht nicht ohne Natur. Nicht die Postkartennatur, die man uns jetzt vor die Nase hält im 3×4-Meter-Format, die richtige, bei der man immer wieder anfangen muß. Nicht bei den (noch dazu schlecht gemalten!) Punkten und Dreiecken, die Du mir gezeigt hast. Aus lauter Protest gegen das andere. Nur Protest ist kein Grund, zu malen. Nicht einmal jetzt. Ich habe keine Farben da, aber ein paar Stifte, und ich zeichne ununterbrochen, sobald ich eine freie Minute habe. Nach der Natur, wie ein braver Schüler. Aber was ist das für eine Natur hier in Castell’alto, was ist das für ein Modell! Ich werde die Blätter hierlassen müssen und sie später einmal holen. Brauchen werde ich sie kaum. Was mir durch die Finger gegangen ist, bleibt mir ohnehin im Kopf hängen. Bis ich zurückkomme, sind wir dann um die Wette „abstrakt (Du wirst sehen, das gilt dann als das einzig Wahre), aber paß auf, ob es sich nicht doch lohnen wird, daß ich weiß, wie ein Ast ansetzt oder die Beuge eines Armes.

    Ich will nicht das Verbrechen begehen, auch noch ein Datum hinzuzusetzen, nachdem ich schon das schöne Wort „Castell’alto" ausgeschrieben habe (es weiß ja doch niemand, wo dieses Märchenschloß mit seinen Prinzessinnen liegt), aber man verspricht mir, daß hier selbst die Disteln bald stahlblaue Blüten bekommen werden. Mach’s gut.

    Georg"

    „Man könnte ihn eventuell mit in den Katalog nehmen."

    „Wen – was?"

    „Den Brief. Haben Sie geschlafen, Helene?"

    „Nein, ich habe versucht, mich zu erinnern, wo es stahlblaue Disteln gibt. Woher haben Sie ihn übrigens?"

    „Den Brief? Aus Mainz. Von der Witwe eines Malers, der mit Prack befreundet war. Sie hat zufällig gelesen, daß mir Nachrichten über ihn unter Umständen einiges wert sind. – „Und?

    Fabrizius’ Augen wanderten in die Ferne. „Ja – Abdruck im Katalog vielleicht. Es kommt darauf an, ob wir nicht doch gleich nachher die Abstrakten bringen. Und dann müssen Sie in Castell’alto nachsehen, ob die Blätter nicht noch dort sind."

    „Sie wissen, wo es ist?"

    „Nein, aber Sie werden es schon finden."

    Man konnte nie im voraus sagen, wie schwer es sein würde, Dinge zu finden, die mit Georg Prack in Zusammenhang standen. Als er vor drei Jahren plötzlich starb, hinterließ er ein Chaos. Die Kollektivausstellung, um die sich Fabrizius seit seinem Tod bemühte, war noch nicht zustande gekommen. Prack hatte seine Bilder verkauft, verschenkt, zum Pfand gegeben, im Haus seiner Schwester eingestellt, die sie ängstlich auf dem Dachboden versteckt hielt, er hatte an den verschiedensten Orten gemalt, die verschiedensten Freunde gehabt, und aus dem, was sie von ihm erzählten, hätte man drei verschiedene Leben machen können. Nachrichten über ihn und auch über Bilder, die da und dort zu finden waren, kamen von so unerwarteter Seite, daß Fabrizius schließlich in einigen großen Zeitungen sein Interesse für solche Nachrichten ankündigen ließ. Der Brief, den er eben als Antwort darauf erhalten hatte, konnte möglicherweise eine Lücke schließen, die bisher immer noch offengeblieben war. Georg Prack schrieb nur, wenn er dazu Lust hatte, nie, wenn er sich dazu hätte verpflichtet fühlen sollen, und auch Leute, die ihn jahrelang gekannt und die glühendste Anteilnahme an ihm genommen hatten, mußten sich genau wie alle anderen damit bescheiden, daß er selbst oder ein Brief von ihm plötzlich einmal auftauchen und eine Zeitlang ungeheuer gegenwärtig sein würde. Es war aber bisher niemand zu finden gewesen, der diese Gegenwart vor und nach Kriegsende hätte bezeugen können. Man wußte nur, daß man Prack, unvorstellbar als Soldat und von seinen Freunden immer wieder vor der Einberufung beschützt, zuletzt doch in Uniform gesehen hatte. Aber zu erfahren, bei welcher Einheit er gedient, ob er in Kämpfe verwickelt, ob er gefangen gewesen war, gelang niemand, weder solange er lebte noch später, und es schien, als sei das nur ein äußeres Zeichen für die innere Unmöglichkeit, Prack mit solchen Begriffen überhaupt zusammenzubringen.

    Der Zettel, der vor mir lag, absichtlich nicht datiert, mit der Anspielung auf die „Postkartennatur" sah jedoch aus, als müsse er in irgendeiner Form mit der Zeit des Krieges und ihren Vorschriften zu tun haben, und Fabrizius begeisterte der Gedanke, es könnten noch Arbeiten von Prack aus diesem Abschnitt zum Vorschein kommen. Nach allem, was wir aus der Zeit vorher und nachher kannten, war er für seine Entwicklung überraschend wichtig gewesen, jeder greifbare Beleg dafür aber fehlte uns vollkommen.

    Ich weiß nicht, wie oft ich in den nun folgenden Tagen den Namen Castell’alto ausgesprochen habe. Eine Rückfrage bei der Witwe des Malers ergab, daß sie nicht mehr wußte, als in dem Brief selbst stand, ein Umschlag war nicht zu finden, es ließ sich auch gar nicht sagen, ob Prack sich einer so widerwärtigen Form der Übermittlung persönlicher Botschaften wie der Feldpost überhaupt bedient hatte. Ich versuchte weiter, mit meinem Verstand und einem System, an alle Möglichkeiten heranzukommen, die aus Castell’alto mehr machen würde als nur ein Wort im Mittelpunkt eines magischen Kreises. Der Erfolg war so gering, wie er es auch bei jedem anderen Glücksspiel gewesen wäre, und ich hatte während meiner ganzen sachlichen und systematischen Bemühungen das Gefühl, das Falsche zu tun.

    Tage später erst tat ich das Richtige, als ein Besucher mir gegenübersaß und die Blumen auf meinem Schreibtisch eine Weile still und bewundernd ansah. Ich war so still wie er und fragte ihn aus diesem Schweigen heraus: „Wissen Sie, wo es stahlblaue Disteln gibt?"

    „Ja, sagte er, „im Etschtal.

    „Bei Castell’alto?"

    „Ja, sagte er, „sie müßten auch bei dem Landsitz der Breitenbachs wachsen.

    Fabrizius begleitete mich am übernächsten Morgen selbst zum Bahnhof. Der Juli war fast vorüber, es lag ihm sehr viel daran, im Herbst mit der Prack-Ausstellung zu eröffnen, er wollte jetzt keine Zeit mehr verlieren und was man noch an Material erhalten konnte, so rasch als möglich sammeln. Trotzdem waren alle seine Ratschläge Variationen des gleichen Themas: „Übereilen Sie nichts – bleiben Sie, solange es Ihnen nötig scheint –, gehen Sie vorsichtig vor, geben Sie acht, geben Sie auch auf sich acht, nein, ich hatte mich nicht verhört, er wiederholte es sogar noch einmal, langsamer, „geben Sie auch auf sich acht und fuhr erst nach einer kleinen Pause fort: „Sagen Sie vielleicht nicht gleich, woher Sie kommen, Sie könnten ja eine Arbeit über Prack begonnen haben und sich deshalb für die Blätter interessieren."

    „Wenn sie noch da sind …"

    „Sie sind noch da, daran ist gar nicht zu zweifeln." Und als ich mich kurz vor der Abfahrt aus dem Fenster beugte, reichte er mir diese Überzeugung gleichsam mit beiden Händen noch einmal hinauf und wiederholte: „Sie sind da!"

    In diesem Augenblick forderte der Lautsprecher die Begleitpersonen auf, vom Zug zurückzutreten, er verkündete die Abfahrtszeit und befahl, die Türen zu schließen – in diesem Augenblick vollzog sich, noch ohne daß irgend etwas sich bewegt hätte, die Trennung. Wir waren alle angesprochen, mit Namen bezeichnet und geschieden. Für die gelangweilte Maschinenstimme gab es nur Reisende, „die in Kürze den Bahnsteig vier verlassen werden, und Leute, die „vom Zug zurückzutreten hatten, und selbst Fabrizius wurde mit dem kleinen Schritt, den er nach rückwärts tat, unwiderruflich zur „Begleitperson" und reihte sich in eine der beiden allein gültigen Kategorien jeder letzten Bahnhofsminute ein. Von diesem Augenblick an kommen die Worte der Menschen gegen die des Lautsprechers nicht mehr auf, und die sie voneinander entfernende Reise beginnt nicht erst mit den Umdrehungen der Räder.

    Noch ehe ich Fabrizius’ Gestalt ganz aus den Augen verloren hatte, war sogar sie zum Bestandteil einer Vergangenheit geworden, die sich auf meinen Fahrten von mir absondert. Kaum jemals fühlt man im Alltag die Gegenwart. Er ist da, um etwas fertigzumachen, um etwas vorzubereiten, er ist bezogen auf Vergangenes und Zukünftiges, und zwischen den straff angespannten Fäden des Notwendigen führte meine eigene Bewegung die Augenblicke des Tages hin und her. Erfüllt von meinem Leben, meinen Gedanken, meinem Tun, gingen sie unablässig hin und her, rascher und weniger rasch, bunter und weniger bunt, ohne daß ich je zurücktreten und mir ansehen konnte, ob ein Muster entstand oder nur ein sinnloses Gewirr kreuz und quer über der straffen Kette des Notwendigen. Dazu war keine Zeit. Und wenn ich Zeit hatte und mir selbst in einer so ausschließlichen Weise überlassen war, wie es nur während einer Reise geschieht, dann wandte ich mich nicht diesem Webstuhl zu, sondern der Reise. Dann glitt ich aus jeder Spannung heraus, als würden die rollenden Räder mir abnehmen, was sonst von mir selbst an unablässiger Bewegung gefordert wurde, ihr Rhythmus erfüllte mich nicht, sondern höhlte mich aus, wie auf der drehenden Töpferscheibe eine Tonmasse ausgehöhlt wird, und in die Leere hinein fielen die Eindrücke der Gegenwart und die Gedanken ohne Zeit. Zuerst wollten sie noch aus dem eben Vergangenen kommen: der Anruf beim Zollamt wäre noch zu erledigen gewesen, die Überweisung für die Rahmen war fällig, und wie immer gab ich zuerst der Versuchung nach und zog einen Block aus der Tasche, um Vergessenes aufzuschreiben. Aber alles, woran ich dachte, hatte schon die Unwirklichkeit der Dinge, die wir durch ein umgekehrtes Fernglas betrachten und damit weit von uns fortschieben, und ich begann, drei Bäume zwischen die Notizen zu zeichnen und die Form einer hellen Wolke. Im Fenster eines kleinen Hauses lag ein grellrotes Kissen in der Sonne, es war sicher ganz heiß, wenn man die Hand darauf legte. Es lebte als Ding für sich, weit entfernt von der Frau, die des Nachts darauf schlafen würde, es war etwas Eigenes, hinter dem das Eigentliche der Dinge erst anfing. Ein paarmal blendete mich Wasser, und in einer seichten Bucht gab es schon Kinder, die planschten. Über den Bergen wurden die Wolken mächtiger, Burgen, Pferde, Köpfe von Riesen – wie sehen Wolken aus, die wir nicht anschauen? Wieviel Form erhalten die Dinge von unsern Augen, hinter denen das Wissen wohnt und der Wunsch?

    An Castell’alto dachte ich am Brenner, als ich die ersten italienischen Worte hörte, und dann vergaß ich es wieder, bis ich das Ziel der Fahrt fast erreicht hatte. Was vor mir liegt, versinkt mir auf einer Reise genauso wie alles, was ich hinter mir lasse, und immer muß ich zuerst begreifen lernen, daß ich angekommen bin, bevor ich mich umsehe, wo nun meine eigene Bewegung wieder zu beginnen hat. Nur blieb hier so wenig Zeit dazu wie in jeder anderen südlichen Stadt, die sich auf alle Sinne stürzt, uns heißen und weißen Staub vom Bahnhofsplatz ins Gesicht schleudert, mit Farben, Geschrei, aufgeschnittenen Melonen, riesigen Pfirsichen, Zypressen, Mauleseln, Lambrettas, Chiantiflaschen an uns herandrängt und uns in hundert bunten Varianten die Worte Gelato und Olio anbietet. Bei jedem anderen Ankommen hätte ich mich in den Wirbel einsaugen und in einer Cafeteria an einer Ecke anschwemmen lassen, um dort zunächst viele Stunden zu sitzen und die Luft und den Lärm und die Wärme zu spüren. Diesmal aber hatte das Wort mich wieder eingefangen, sobald ich aus dem Bann der Reise über die Schwelle der Ankunft auf den Platz vor den Bahnhof getreten war. Es war das erste Wort, das ich im Süden aussprach, eine Frage an den Nächstbesten, der mir in den Weg kam: „Castell’alto?"

    „Oh – dort! Er wies auf das große Kastell über der Stadt, das mir längst aufgefallen war – aber das konnte es doch nicht sein. Vom „Landsitz der Breitenbachs hatte der Mann in der Galerie gesprochen. „Castell’alto?" fragte ich also noch einmal zweifelnd. Und da im Süden ein Gespräch nie eine private Angelegenheit ist, noch dazu wenn eine Fremde es mit einem Einheimischen führt, mischte sich ein anderer hinein, der vorbeikam, überschüttete den ersten mit einer Flut von Vorwürfen, wie er der Signora etwas so Dummes habe sagen können, und Castell’alto sei natürlich das, dort oben, weit über dem großen Kastell. Mir war nicht klar, was er meinte, der Landsitz einer Südtiroler Familie, der einen solchen Namen trug, war wohl eine der vielen kleinen Burgen, die sich überall an den Hängen fanden, aber ich sah nirgends Mauern und Türme. Da gab der Fremde vorsichtig meinem Kopf die richtige Stellung, hielt ihn zwischen seinen Händen fest und sagte: „Quello qui! Und jetzt sah ich es: in Stufen führten Weinberge hinauf, wichen zur Seite, um einem Park mit dunklen Bäumen Platz zu machen, dann kam, man konnte es nicht so genau erkennen, eine Terrasse vermutlich und dann ein gelber, länglicher Bau, nicht viel größer als die anderen gelben und grauen und rosa Häuser auf dem Hügel. Eine Villa, keine Burg. Wozu also der hochtrabende Name? „Es ist wunderschön, Castell’alto, sagte der Mann und ließ meinen Kopf los, „soll ich ein Taxi rufen? Ich dankte, das war ganz unmöglich. Zu einer Burg hätte man noch hinfahren und den Wunsch vorbringen können, sie zu besichtigen, aber bei einer gewöhnlichen, größeren Villa, auch wenn sie nach Ansicht des Italieners „wunderschön war? Er solle, bat ich ihn, mir lieber eine kleine Pension empfehlen, wenn möglich – ich zögerte einen Augenblick. Ich wollte bei Südtirolern wohnen, weil es leichter sein würde, von ihnen etwas über die Breitenbachs zu erfahren, aber ich wußte nicht, ob man dem Italiener diesen Wunsch einfach sagen konnte. War diese Stadt nicht überhaupt viel zu groß, als daß einer vom anderen etwas gewußt hätte? War es nicht reiner Zufall, daß der Mann Castell’alto kannte? Vielleicht hatte ich mir die Burg, die gar keine Burg war, und ihre Bewohner viel zu bedeutend vorgestellt, vielleicht mußte man lange suchen, ehe man in der Stadt jemand fand, der eine Verbindung zu ihnen besaß.

    Der Italiener deutete mein Zögern falsch, er besprach sich lebhaft mit dem ersten, den er so verächtlich zurechtgewiesen hatte, und beide einigten sich dann, das Billigste, wo eine Signora noch wohnen könne, sei die Pension Bella Vista, etwas außerhalb der Stadt gelegen, auf halbem Weg nach Castell’alto übrigens, und deshalb nicht so teuer wie Commodore oder Atlanta oder Gardesana, wobei sie die Litanei der Namen, die mit diesen dreien längst nicht erschöpft war, teils zweistimmig, teils in rascher Aufeinanderfolge vortrugen, eine Art touristisches Begrüßungslied. Gemeinsam brachten sie mir Koffer und Tasche zum nächsten Taxi, nahmen als Dank Zigaretten und ein Lächeln und sahen, solange ich noch in Sichtweite war, aus, als wäre ihnen das Lächeln wichtiger.

    Der Platz, an dem die Pension Bella Vista stand, schien einzig dazu da zu sein, die Sehnsucht nach einem schöneren Blick wachzurufen. Man sah gerade nicht bis zum Fluß, man sah gerade nicht die Mitte der Stadt, sondern nur die ungeordneten Häuserfronten an ihrem Rand, man war noch nicht in den Weinbergen, sondern an der staubigen Straße, die zu ihnen hinaufführte. Fünfzig oder hundert Meter höher mußte es herrlich sein. Fünfzig oder hundert Meter höher lag Castell’alto. Ich folgte der staubigen Straße bis zu dem Stück, das an dem dunklen Park entlanglief, an dem Gitter, dem Tor und dem steingepflasterten Weg zur Terrasse. Oben lag das Haus, und die Abendsonne holte aus seinem Gelb eine rosige Wärme, die sich der ganzen Luft mitteilte. Es war keine Villa, es war ein sehr kleines Schloß in reinstem Empirestil mit jener Vollkommenheit der Proportionen, die keinen Gedanken an das Ausmaß aufkommen lassen. Es war, wie der Italiener gesagt hatte, „bellissimo", und mir fiel nichts Besseres ein, als dieses Wort immer wieder vor mich hin zu sagen, während ich am Gitter lehnte und hinaufstarrte. Die Wärme dieser Schönheit leuchtete noch eine Weile weiter, als die Sonne schon längst verschwunden war, ich hatte Prack und meinen Auftrag vergessen, ich sehnte mich nach Castell’alto hinein, um mehr von ihm selbst zu sehen.

    Die Besitzerin der Bella Vista empfing mich ungehalten, weil ich so spät zum Abendessen kam, und legte mir neben den Suppenteller den Meldezettel hin. Sie hieß Moroder, war also Südtirolerin, wie ich es mir gewünscht hatte, und ich hätte gern gleich mit meinen Fragen begonnen. Aber ihre Stimmung war nicht günstig, ich erinnerte mich auch an Fabrizius’ wiederholtes: „Übereilen Sie nichts – und so füllte ich schweigend den Zettel aus, während sie hinter mir stand und mitlas, was ihr aus den Buchstaben für ein neuer Gast erstand. Als ich „ledig, „verheiratet und „verwitwet ausstrich und „geschieden übrigblieb, fragte sie streng: „Schuldlos? Ich war so verblüfft, daß ich stotterte: „Nein, einverständlich, worauf sie kurz sagte: „Noch schlimmer – und mich mit meiner kalten Suppe allein ließ.

    Ich hätte mich nach dem Essen noch eine „Weile in die Laube setzen können, zwischen ein paar Kübel mit müdem Oleander, auch die Stadt war nicht weit, mit der alles übertönenden Lautheit des südlichen Abends, aber ich ging gleich ins Bett. Der Tag war lang gewesen, und es fiel schwer, sich vorzustellen, daß es noch der gleiche Tag war, an dem ich mich von Fabrizius verabschiedet hatte. Auf der dunklen Wand des Zimmers aber sah ich ihn jetzt deutlicher vor mir als auf dem Bahnsteig, und seine Stimme begleitete mich in den Schlaf hinein.

    Am nächsten Morgen fragte ich Frau Moroder, weil niemand sonst

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