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Tatort Wien: Kriminalgeschichten
Tatort Wien: Kriminalgeschichten
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eBook315 Seiten4 Stunden

Tatort Wien: Kriminalgeschichten

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Über dieses E-Book

16 Krimis aus der Feder der österreichischen Sisters in Crime! 16 Autorinnen folgten dem Aufruf der renommierten Schriftstellerin Edith Kneifl, Kurzkrimis für eine Wiener Krimianthologie zu verfassen. Das Ergebnis ist ein Feuerwerk an bösen, morbiden, skurrilen, unterhaltsamen und durchwegs spannenden Kriminalgeschichten. Grausame Rächerinnen, kluge und schöne Mörderinnen, verzweifelte Frauen, die aus Angst und in Notwehr töten, missbrauchte, geschlagene Frauen, die nicht mehr gewillt sind, ihr Elend länger zu ertragen, sadistische oder berechnende Killer, psychopathische Mörder und Frauenhasser oder der nette Mafioso von nebenan: Von der harten, realistisch erzählten Crime-Story bis zur poetischen Vignette - in diesem Band sind sie alle vereint. Mit subtiler Leichtigkeit sprengen die österreichischen Sisters in Crime Grenzen des Genres. Neben nervenaufreibenden Psychothrillern und spannungsgeladenen Polizeikrimis finden sich in dieser Anthologie auch experimentelle Texte. Ein wahrhaft lustvoller Querschnitt durch die mörderische Literaturlandschaft Wiens.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum2. Dez. 2014
ISBN9783902950338
Tatort Wien: Kriminalgeschichten

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    Buchvorschau

    Tatort Wien - Milena Verlag

    2004

    KABELFLEISCH

    Amaryllis Sommerer

    Sie kommt aus dem Waffengeschäft und fühlt sich so richtig gut. Plötzlich scheint alles perfekt. Der laue Frühlingswind, der durch die Stadt streicht, fegt jetzt sogar vor ihr die Straßen sauber. Nur für sie! Keine ätzende Hundepisse, kein Taubendreck, keine angekotzten Gehsteige mehr, nein: Der Weg ist sauber, eben und ganz leicht zu begehen. Selbst der Strom der Passanten scheint sich vor ihr zu teilen, wie einst das biblische Meer vor einem schwächelnden Moses.

    Natascha atmet auf. Plötzlich ist ihr alles zuzutrauen. Nicht nur, dass sie dieses Gleichnis in leuchtenden Farben vor sich sehen kann, sie kann sogar in das Bild hineingehen und sich darin gut fühlen. Als Kind hatte sie es stundenlang angemalt. Eine Schwarzweiß-Zeichnung im Katechismus. Kein selbstgezeichnetes Bild, nein, ein vorgedrucktes zum Anmalen: Das Meer teilte sich, Wellenberge türmten sich ehrfurchtsvoll zu beiden Seiten, und Moses schritt unter der Himmelshand eines schützendes Gottes seinem Ziel entgegen.

    Ein begehbares Bild, wundert sich Natascha, während sie das kühle Metall in ihrer Manteltasche fühlt, und ich dachte immer, das gibt es nur als Schrank.

    Dreizehn Paar Damen- und sechs Paar Herrenschuhe in den unteren Fächern. Die Blusen rechts, die Hemden links. Röcke und Hosen nebeneinander. Draußen die Eltern, noch immer beim Frühstück. Sie denken, Natascha wäre schon längst in der Schule. Sie wissen nicht, dass ihre Tochter in den Schrank gegangen ist und dort wartet, bis die beiden zur Arbeit fahren. Sie wird auch heute nicht zur Schule gehen. Dort ist man nämlich bös zu ihr.

    Raus aus den Bildern und Schränken, Natascha! Rein in die milde Zärtlichkeit des Frühlings, der dich endlich wieder zittern lässt. Alles blüht, alles duftet, auch wenn weit und breit keine einzige Pflanze zu sehen ist. Was soll’s? Sie fühlt den blanken Lauf der Pistole zwischen ihren Fingerspitzen und hätte die Welt umarmen können. Sie fühlt sich so gut wie noch nie in ihrem Leben.

    Vor ein paar Wochen, da hatte sie ihrem Leben noch nachgeweint, ihrer Wohnung und dem Mann, der sie mit ihr teilte. »Beide sind nichts wert«, hatte sie sich damals gut zugeredet. Irgendwann hatte sie den gelblichen Nikotinfilm auf den Fensterscheiben – so dick, dass man weder herein- noch hinaussehen konnte – nicht einmal mehr gehasst. Besser so. Das Linoleum auf dem Fußboden wellte sich unter einer Schicht von leeren Flaschen, Dosen, Aschenresten, abgetretenem Schuhwerk, angebrannten Töpfen, faulen Essensresten. Links und rechts türmten sich ehrfurchtsvoll Berge von ungewaschenen Kleidungsstücken. So, als ob sie ihr den Weg freigeben wollten. Irgendwann war Natascha hinausgegangen. Unter ihren Schuhen knirschten die braunen Perlen einer längst vergammelten Hydrokultur. Sie sahen aus wie alte zertretene Scheiße.

    Jetzt hat sie wenigstens gar nichts mehr. Keine Wohnung, kein Konto, kein Geld, keine Versicherung, keine Personalpapiere. Es gibt sie nicht mehr.

    Deswegen konnte sie sich heute diese Waffe besorgen. Sie hat sie einfach mitgehen lassen. Nicht ohne sich vorher erklären zu lassen, wie sie funktioniert. Bis der Typ den Diebstahl bemerken, bis die Polizei etwas unternehmen würde, bis dahin wird schon längst alles erledigt sein.

    Sie lacht. Sie sieht den Typen vor sich, wie er versucht, sie den Bullen zu beschreiben, wie er ihr Alter nicht angeben kann, ihre Haarfarbe nicht bestimmen, nicht mehr weiß, was sie anhatte. Sie trägt einen klassischen braunen Wollmantel, der, wie alles andere, das sie trägt – die Jeans, die Nikes, das T-Shirt –, aus dem Müll ist. Und trotzdem sieht ihr niemand an, dass sie nicht mehr dazugehört. Gut betucht marschiert sie durch die Stadt und scheint glücklich zu sein. Sie könnte ohne weiteres ein Inserat aufgeben: »Nicht mehr jung, unfreiwillig abgestiegen, allein stehend, sucht …«

    Ja, richtig, sie ist auf der Suche. Fast hätte sie es vergessen. Sie lässt die Waffe in ihrer Manteltasche los und zieht einen Handschuh von ihrer anderen Hand. Eine Wunde wird sichtbar. Sie eitert und nässt und riecht schon ein bisschen schlecht. Aber was soll’s? Daran stirbt man schließlich nicht. Sie erinnert sich. Jemand hat sie in die Hand gebissen. Es schmerzt. Sie wird ihn finden. Sie weiß, wo er ist, wer er ist und was er getan hat.

    Natascha beschleunigt entschlossen ihre Schritte. Muss aber kurz darauf schon wieder stehen bleiben. Muss sich orientieren. Plötzlich weiß sie nicht mehr, wo sie ist. Dabei kennt sie diese Stadt doch so gut. Hier ist sie geboren und hier wird sie sterben. Sie sieht einen Laden vor sich, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Das ist ihr auch noch nie passiert. Aber heute ist ja alles ein bisschen anders. Heute ist so ein besonderer Tag. Man weiß zwar nicht genau warum, aber man spürt, dass etwas Besonderes in der Luft liegt. Die Schrift über dem Eingang in einer fremden Sprache, Brautmode aus den 50ern in der Auslage. Für einen Augenblick fragt sie sich, ob sie noch in der gleichen Stadt ist. Ein Hund, völlig überernährt, steht plötzlich vor ihr. Er gehört zu dem Bettler, der in löchriger Arbeitskleidung vorm Eingang einer grell erleuchteten Bank sitzt. Eine Frau mit schwachen Nerven und einer großen Tasche voll blickdichter Strumpfhosen eilt heraus und schiebt Natascha wütend zur Seite. Ob sie denn keine Augen im Kopf habe? Trampel, blöder! Kein Zweifel. Natascha ist in ihrer Stadt.

    Sie schließt die Augen. Sie versucht, ihre Gedanken zu ordnen, spürt wieder den Schmerz in ihrer Hand. Seltsam, sieht aus wie der Biss eines Hundes. Als sie zum Schlafen in den Park ging, kamen nach einiger Zeit Tiere zu ihr. Katzen, Ratten, Käfer. Vögel auch. Aber keine Hunde. Keine Hunde und keine Menschen. Gott sei Dank, keine Menschen.

    Der Wind fährt in Nataschas dunkel gefärbtes, gewelltes Haar. Stärker jetzt, so dass es weit von ihrem Kopf absteht.

    Der Vater ist in der Nacht nicht nach Hause gekommen, die Mutter reißt wütend an Nataschas Pferdeschwanz. Mit ihren spitzen Fingernägeln zerreißt sie Nataschas Haargummi und flucht: Haare wie Draht!

    Stimmt, denkt Natascha, Haare wie Draht. Sie stehen mir zu Berge, nicht nur auf dem Kopf, sondern am ganzen Körper. Wie Stacheldraht.

    Früher, da hat er meine behaarten Beine geliebt, sie geleckt von den Knöcheln bis zum Schoß. Wenn er friedlich war, war das ziemlich angenehm. Wenn er wütend war, dann konnte schon mal seine Faust zwischen ihren Beinen verschwinden, das war dann weniger nett.

    Er war eigentlich genau ihr Typ. Blond, blauäugig, sanft. Manchmal halt jähzornig. Aber als sie ihm den Aschenbecher aufs Auge warf, war das auch nicht nett. Ein paar Monate später war er auf diesem Auge so gut wie blind. Die Netzhaut war gerissen und hatte sich abgelöst. Langsam, jeden Tag ein wenig mehr. Er hatte es nicht bemerkt. Und dann war es zu spät. Da war dann nichts mehr zu machen. Die Netzhaut schwamm hinter dem Augapfel in der Gegend herum und war tot. Abgestorben. Im Krankenhaus hatte er sie gedeckt. Er sagte, er sei gestürzt. Das war nicht einmal gelogen. Er sagte nicht, dass sie es war. Auch nicht, wie es dazu gekommen war.

    Sie hatte große Schuld auf sich geladen. Große Schuld. Trotzdem konnte er weiter seinem Beruf als Fotograf nachgehen. Das rechte Auge war ja noch in Ordnung. Und wenn er sie wieder sehr lieb hatte, sagte er, dass er mit einem Auge sogar besser fotografiere als mit zweien. Trotzdem sind seine Aufträge zurückgegangen. Aber das hatte wohl nichts mit seinem Auge zu tun. Er konnte sehr lieb sein. Vor langer, langer Zeit. Wirklich. Besonders zu den Feiertagen. Und da besonders um die Mittagszeit. Pünktlich um zwölf zum Läuten der Kirchenglocken servierte sie den Sonntagsbraten. Er drehte den Vormittagssport ab und setzte sich zu Tisch. Sie sprachen nicht, das war nicht ihre Sache. Sie aßen. Sie schmatzten einander an. Sie rieben die Lippen an abgenagten Knochen, sie leckten mit der Zunge über ihre Münder, sie ließen das Fett lächelnd übers Kinn rinnen, um es sich gegenseitig mit einer vertraulichen Geste wieder zurück in den Mund zu schieben. Natascha hing an seinen Lippen, sie hätte ihnen so gerne eine Botschaft entnommen. Aber da war nichts. Und auch sonst sprach niemand zu ihr. Nicht einmal ihre Kinder. Dabei war sie doch ein paar Mal schwanger gewesen. Aber irgendwie ist da auch nichts daraus geworden.

    An den Nachmittagen waren sie dann schon nicht mehr ganz nüchtern und weniger freundlich zueinander. Am Abend war er schon so voll, dass ein Tritt in den Hintern genügte, damit er das Gleichgewicht verlor und sich die Hand brach. Dann konnte er sie wenigstens nicht mehr würgen. Stundenlang, immer das gleiche Ritual: Ein bisschen trinken, ein bisschen vögeln, ein bisschen würgen. Kein Mensch weiß, wie man auf solche Ideen kommen kann. Er war halt so. Aber das ist wirklich lange her. »Sind Sie übergeschnappt? Verschwinden Sie von der Kreuzung, oder ich hole die Polizei!«

    Schon wieder jemand, der weiß, was gut für mich ist, denkt Natascha.

    »Ja, gut, okay! Ich stehe mitten auf der Straße! Wen stört’s? Ist doch mein Bier!«

    Hupende Autos. Quietschende Reifen. Menschen, die aus ihren Wägen springen, gestikulieren und auf Natascha einreden. Sie tut ihnen den Gefallen und geht weiter.

    Mein Gott, die machen sich in die Hosen, nur weil ich bei Rot über die Straße gehe! Wenn die wüssten! Wenn die wüssten, dass ich sie jederzeit abknallen kann. Wenn die wüssten, dass ich mit einer geladenen Kanone in der Manteltasche unterwegs bin. Wenn sie es wüssten, dann hätten sie wenigstens allen Grund, sich in die Hose zu machen, drei Kreuze zu schlagen, eine Lebensversicherung abzuschließen oder jemandem, dem sie es schon immer sagen wollten, ihre Liebe zu gestehen.

    Früher hatte Natascha gedacht, dass man seine Liebe gar nicht oft genug gestehen kann. Liebe gestehen. Jeden Tag und unter allen Umständen. Die Liebe gestehen. In die geliebten Augen sehen und gestehen: Du, mein Geliebter. Unendlich Geliebter. Unvergessene Fernsehabende.

    Obwohl schon 12-jährig, muss Natascha um neun ins Bett. Danach 45 Minuten den halben Tatort auf dem Boden hockend durch den Türspalt zwischen Kinder- und Wohnzimmer erspäht: Der Fernsehkommissar hat den Mörder zur Strecke gebracht. Beide am Rande der Erschöpfung. Beide einander so nah wie noch nie. Aug in Auge. Hechelnd. Zitternd. »Sie waren am 23. März auf der Baustelle, Lohmann. Sie haben Ute Wassermann unter falschen Versprechungen in den Container gelockt und mit einem Müllsack stranguliert. Gestehen Sie endlich, Lohmann, gestehen Sie!« Lohmann sieht den Kommissar an, wie er ihn all die 85 Minuten vorher noch nie angesehen hatte und gesteht: »Ich liebe Sie, Kommissar Kretschmer, ich liebe Sie.«

    Natascha lächelt. Natürlich hatte kein einziger Tatort je so geendet, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Aber ihren Sven hatte sie so sehr geliebt, so sehr, dass in seinen Armen jeder harte Krimi zu einer Liebesgeschichte wurde.

    Noch immer steht Natascha an dieser ihr völlig unbekannten Kreuzung und kann sich nicht entscheiden, welche Richtung sie einschlagen soll. Zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, wann ihr dieses Gefühl zu Sven abhanden gekommen war, lässt sie sich weitertreiben von dem sie umgebenden, alles umarmenden Passantenkörper. Wie war das mit Sven? Wieso spürt sie seine alles verschlingenden Umarmungen nicht mehr? Diese Verschlingungen, die ihr Halt zu geben schienen. Wieso erinnert sie sich nur mehr an eine einzige große Schlinge? War das alles, was geblieben ist? Eine große feste Schlinge, die sich allmählich zugezogen hatte. Ein Alptraum von einem Telefonkabel. Schwarz wie die Nacht.

    Eine Frau vor ihr hält Natascha die Türe auf, damit sie leichter nachkommen kann. Ungewollt findet sich Natascha in einem Asia-Takeaway wieder. Sie war noch nie in so einem Laden gewesen. Sie hat es lieber warm und gekocht. Doch bevor sie sich wieder hinausretten kann, fragt sie der Verkäufer schon nach ihren Wünschen.

    Wie das heißt, möchte sie wissen, und zeigt auf eine der unzähligen kleinen schwarzen Rollen mit rosa Fülle.

    »Kabelfleisch«, sagt der Verkäufer.

    Natascha sieht ihn nachsichtig an. Lächelt.

    »Krabbenfleisch?«

    »Nein, Klabben, das sind die«, zeigt er auf eine andere Reihe schwarzer Rollen, »und die, die sind Kabelfleisch.«

    »Kabelfleisch.«

    Der Verkäufer nickt.

    Witzbold.

    Doch der Verkäufer scheint es ernst zu meinen.

    Natascha muss überlegen.

    Inzwischen bedient der Verkäufer die Frau neben ihr.

    Natascha beschließt also Kabelfleisch – was auch immer das sein mag – zu probieren. Ein anderer Verkäufer ungeduldig: »Wissen Sie schon?«

    »Einmal Kabelfleisch, bitte.«

    »Krabbenfleisch«, korrigiert der Verkäufer.

    »Nein, Kabelfleisch«, wiederholt Natascha.

    Der Verkäufer sieht sie an, als ob sie nicht ganz dicht wäre.

    »Kabelfleisch«, insistiert Natascha jetzt.

    So hat man es ihr gesagt, und so stimmt es. So muss es stimmen. Sie hat alles dafür getan. Sie hat nachgefragt. Sie hat sich erkundigt. Sie hat alles richtig gemacht. Sie ist unschuldig. Sie hat niemandem etwas getan. Das verdammte Fleisch heißt Kabelfleisch.

    Der Verkäufer scheint nicht überzeugt.

    Was glaubt der eigentlich? Denkt der, ich bin bescheuert, oder was?

    Der Verkäufer lächelt.

    Spöttisch. Natürlich, er lächelt spöttisch. Der glaubt tatsächlich, er kann mich auf den Arm nehmen. Er glaubt, er kann sich über jemanden wie mich lustig machen. Glaubt er.

    »Kabelfleisch, hab ich gesagt!«, fordert Natascha jetzt, »Kabelfleisch!«

    Der Verkäufer erschrickt.

    »Raus damit!«

    Natürlich hat er Kabelfleisch gesagt, und ich weiß genau, worauf er hinaus will. Ich weiß genau, was du denkst, Bürschchen! »Kabelfleisch, ha, ha! Was für eine raffinierte Anspielung! Großartige Metapher, Schlitzauge! Verdammt! Schau mich nicht so an! Schau mich nicht so an. Nicht so. Nicht so!«

    Bevor der Frühling explodiert, zittert er ein wenig mehr als sonst, schießt es Natascha durch den Kopf. Der Verkäufer ist aus dem Bild gefallen.

    Im Stürzen schon versuchte er noch zu nicken.

    Im Sterben noch erinnerte er sich an die Worte, die er in der Hotelfachschule gelernt hatte: »Ihr Wunsch ist mir Befehl, gnä’ Frau.«

    An seine zwei Kinder, die zu Hause auf ihn warteten, konnte er nicht mehr denken, denn noch bevor er mit dem Kopf auf den Steinboden aufschlug, funktionierte sein Denken nicht mehr so wie er wollte, und als sich sein Kollege zu ihm hinunterbeugte, war Natascha schon längst wieder auf der Straße.

    Ihr Atem fliegt. Schneller noch ihre Schritte.

    Ihre Hand ist heiß. Heißer noch die Euphorie, die sie überflutet.

    Plötzlich weiß sie wieder ganz genau, was sie vorhat.

    Zu ihrem Mann will sie. Zu Sven. Sie hatte ihn verlassen. Aber jetzt will sie wieder zurück zu ihm.

    Obwohl er so böse zu ihr gewesen war. Nein, weil er böse zu ihr gewesen war. Dabei hatte sie immer zu ihm gehalten. Bis zuletzt hatte sie immer zu ihm gehalten. Auch, als sie schon in diesem heruntergekommenen Loch wohnten, was heißt wohnten hausten, vegetierten, dahinvegetierten unter menschenunwürdigen Umständen. Das wusste sie noch. Sie wusste, wohin sie es gebracht hatten. Weit. Weit hatten sie es gebracht. Viel weiter als andere. Zu dieser ewig versifften, unsterblichen Liebe.

    Fest, ganz fest hatte sie zu ihm gehalten. Hatte er sie gehalten. An sich gedrückt. Fest. So fest er konnte, hatte er zugedrückt. Zuletzt waren es Tage und Nächte, die vergingen, ohne dass sie es bemerkten. Ohne dass sie etwas aßen, nur mehr tranken, rauchten und drückten.

    Und trotzdem fühlte sie sich so … einsam. Anfangs nur, wenn sie das Haus verließ, um Lebensmittel zu stehlen. Allmählich immer. Selbst wenn sie sich mit ihm unterhielt, wenn sie ihm die Haare wusch, wenn er ihr, in einer plötzlichen Aufwallung der Gefühle, eine Zigarette anzündete. Total einsam. Sie konnte dagegen tun, was sie wollte. Es ging nicht mehr weg.

    Auch nicht, wenn sie jetzt zu ihm zurückkehrt. Das ist schon klar, ist schon klar. Dennoch muss sie zurück. Obwohl er sie beleidigt hatte. Nein, weil er sie beleidigt hatte. Zutiefst beleidigt. Mitten in der U-Bahn mitten ins Herz.

    Sie waren schon einige Stunden unterwegs gewesen, hatten aber nichts aufgestellt. Alle Stationen waren abgeklappert, niemand hatte ihnen etwas geben wollen. Warum auch? Sie hatten kein Geld. Sie hatten nicht die Ruhe zu betteln. Sie begannen, sich umzusehen wie lauernde Tiere. In einem Anfall von Gier, die jede Selbstachtung auslöscht, hatte Sven einem bewusstlosen Sandler seinen Tetrapack Roten gestohlen. Danach fuhren sie mit der U-Bahn ziellos durch die Stadt. Schweigend saßen sie nebeneinander und Sven studierte das Design des Tetrapacks. Er versteht etwas davon. Irgendwann, vor Ewigkeiten, hatte er selbst Verpackungen entworfen. Seine Eltern hatten ihn bis zu ihrem Tod unterstützt. Sie bezahlten ihm eine kleine Wohnung, steckten ihm ab und zu ein paar Scheine zu, zuletzt bezahlten sie sogar seine Handyrechnung. Da war Sven schon Ende dreißig. Da hatten Sven und Natascha schon vergeblich versucht, eine Familie zu gründen, Karriere zu machen – er als Fotograf, sie als Journalistin, »a winning team« hätten sie sein können – aber plötzlich, ganz plötzlich, waren sie Anfang vierzig und für alles zu spät dran.

    Natascha sah Sven von der Seite her an: Wir sind durch und durch verkommen, dachte sie. Asozial. Wir haben alles versucht und sind gescheitert. Wir scheitern jeden Tag. Wir haben uns seit Wochen nicht mehr gewaschen. Ich bin schmutzig, ich stinke, ich werde fett.

    Er saß teilnahmslos neben ihr und trank aus diesem Ekel erregenden Tetrapack. Mit Schaudern erinnerte sich Natascha an den vergangenen Winter – und wusste, dass sie ihn nicht mehr über den Sommer bringen würde. Augenblicklich erfasste sie eine unendliche Müdigkeit. Sie hätte sich am liebsten aufgelöst. Er hielt ihr den Wein hin. Sie lehnte ab.

    »Graust dir?«, flüsterte er.

    Sie schwieg. Sie wusste, was kommen würde, sie kannte ihre Dialoge auswendig.

    »Sag schon, dir graust vor mir«, wiederholte er gefährlich leise. Sie schüttelte verneinend den Kopf.

    Für seine Begriffe zu schwach. Er drehte ihr Gesicht zu sich: »Schau mich an. Wer glaubst du eigentlich, wer du bist?«

    »Nichts. Ich bin nichts und niemand. Das haben wir doch schon hundertmal besprochen.«

    »Trink«, fauchte er sie an. »Trink den Scheiß!«

    Sie hatte sich abgewandt, wollte aufstehen, aussteigen.

    Aber er hielt sie zurück.

    »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, schrie er. »Trink!«

    »Lass mich in Ruhe«, flüsterte sie und wollte sich wegdrehen.

    Doch schon hatte er ihr in den Mund gegriffen und den Roten hineingeschüttet. Sie hustete, der Wein rann ihr aus der Nase, lief ihr wie eine Unheil kündende Blutspur übers Kinn.

    Die Leute starrten sie an. Neugier und Ekel in ihren Gesichtern.

    Sie wischte sich den Wein aus dem Gesicht und ging zum Ausstieg.

    »Hau doch ab, alte Fotze«, brüllte er plötzlich.

    Sie reagierte nicht.

    »Eine Fotze wie ein Schlauchboot«, grölte er wütend in den Waggon hinein. »Eine Fotze wie ein Schlauchboot!«

    Sie umklammerte zitternd den Griff der U-Bahn-Tür.

    Tränen der Scham trafen ihre Faust.

    Sie wollte hinaus, nichts wie hinaus. Irgendwo da draußen, da gibt es etwas, das fährt dir sanft durchs Haar, ein die Liebe beschwörender Geruch, eine junge Jahreszeit, die vor Neugier zittert. Wie heißt sie nur? … Wie heißt sie nur?

    Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Zug in die Station einfuhr.

    In dieser Ewigkeit beschloss sie, ihn zu verlassen.

    Sie stürzte hinaus und rannte davon. Ohne sich umzusehen, wusste sie, dass er seelenruhig hinter ihr herspazieren würde. Und er wusste, dass sie ohne ihn nicht weit kommen würde.

    Der Wind hat nachgelassen, denkt Natascha. Sie sieht es am jungen Grün der Allee. Bald wird sie wieder zu Hause sein, wenn man dieses Loch so bezeichnen kann. Sicher ist: Wenn die Allee auftaucht, ist das Loch nicht mehr weit. Das leerstehende Bürohaus wird sichtbar, dahinter die Lager, die Container und darüber die unbewohnten Personalwohnungen mit funktionslosen Telefonapparaten und toten Leitungen. Kein Strom, kein Wasser. Niemand kann sich vorstellen, dass man hier leben kann. Man kann.

    Mit den Fingerspitzen tastet Natascha den Lauf der Pistole in ihrer Manteltasche ab. Sie sucht nach dem Gefühl, das sie vor kurzem noch überflutet hatte, als sie das Gewicht der Waffe in ihrer Hand spürte. Blank, neu, unberührt. Nur für sie.

    Eine Reihe gespitzter Buntstifte. Alle gleich lang. Fabriksneu. Alle Farben. Alles möglich. Moses teilt das Meer. Natascha malt ihm einen bunten Mantel. Die faltige Hand einer weißen Nonne fährt ihr übers Haar. Schön machst du das, Natascha, so sauber. Natascha schaut auf, doch die selbstgehäkelte weiße Stola streift schon ein anderes Kind, ihren Pudding-mit-Himbeersaft-Geruch nimmt sie mit sich.

    Seltsam. Das Glücksgefühl, das ihr die Waffe vorhin noch gegeben hatte, ist auf einmal nicht mehr so stark. Irgendetwas ist anders.

    Natascha nimmt die Waffe heraus und sieht sie an. Sie will dieses Gefühl zurückhaben. Sie braucht es. Wozu war sie hierher gekommen? Sicher nicht, um jemanden … Nein, sicher nicht. Nicht jetzt.

    Mit aller Zeit der Welt spaziert sie über den Hof zwischen den Lagern. Keine Menschenseele. Dafür junge, zielstrebige Sträucher, die sich aus dem Beton strecken. Mitten am Weg eine lahme Taube, die sich keinen Zentimeter mehr zur Seite bewegt. Natascha weicht aus, lässt sie leben.

    Dreht sich um. Falsche Taubenaugen, denkt sie, fühlt die Waffe, die Taube explodiert. Es klingt wie etwas, dass sie heute schon einmal gehört hat. Aber wann? Sie weiß es nicht mehr.

    Vorbei an den Containern nimmt sie den Aufgang zu den Wohnungen.

    Ein süßlicher, abgestandener Geruch schlägt ihr entgegen. Dieses Haus hat immer schon nach Tod gerochen, denkt sie und lauscht.

    Alles ruhig. Was hätte sie auch hören sollen? Saufen macht keinen Lärm. Saufen tötet leise und unbemerkt. Was soll’s? Gleich hat das alles ein Ende. Endlich. Gott sei Dank. Wow! Das fühlt sich gut an! Gleich ist es aus, das ganze Theater. Dieser Aufwand! Scheiße, das fühlt sich gut an!

    Wie konnte sie vergessen, weswegen sie hergekommen ist?

    Sven erschießen.

    Ganz leicht nimmt sie zwei Stufen auf einmal, sieht aus dem Fenster im Stiegenhaus und stellt zum ersten Mal fest, wie atemberaubend der Ausblick hier ist. Warum hat sie das früher nie gesehen?

    Im 4. Stock angekommen, liegt ein Mann auf dem Boden. Ein Fremder. Er scheint zu schlafen. Seltsam. Außer ihr und Sven kam nie jemand hierher. Natascha steigt über ihn, sieht sein Gesicht. Ungesunde Farben. Säufervisage. Sie kennt ihn nicht.

    Wie kommt der da her? Was macht der, verdammt noch einmal, hier? Mitten in meinem Plan. Legt

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