Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung: Erhellende Einsichten in die Weite der biblischen Botschaft
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Buchvorschau
Die 31 beliebtesten Irrtümer der Bibelauslegung - Karl-Wilhelm Steenbuck
I. Beispiele aus dem Alten Testament
1. Auge um Auge, Zahn um Zahn
Wir beginnen mit einem Wort, das geradezu der Klassiker unter den missverstandenen Bibelversen sein könnte. Offenbar kann nicht nur Menschen, sondern auch Worten Unrecht zugefügt werden. Dabei ist es sprichwörtlich geworden: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Dieser Rechtsgrundsatz findet sich bei mehreren Kulturvölkern des Altertums. Er wird ius talionis genannt – Ausgleichsprinzip. Bekannt ist es bei uns dadurch, dass es Eingang gefunden hat in das Alte Testament (2.Mose 21,24; 3.Mose 24,20; 5.Mose 19,21), vor allem aber dadurch, dass Jesus in seiner Bergpredigt dazu Stellung bezieht (Mt 5,38ff).
Welchen Schmähungen war dieses Wort schon ausgesetzt! Man sah darin den „Geist der Rache und die „Logik der Vergeltung
. Man behauptete, damit werde eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die nur dadurch an ein Ende komme, dass schließlich alle blind seien und niemand mehr etwas zu beißen habe. Richtig schlimm wurden diese Behauptungen, wann immer man sie mit antijüdischen Vorurteilen verband: Solche Anleitung zu Rache und Gewalt spiegele angeblich den Volkscharakter der Juden wider. Und wie das Volk, so sein Gott! Jahwe, der Gott des Alten Testaments, sei von niederer Rachegesinnung und habe daher nichts zu tun mit dem barmherzigen Gott der Liebe, den Jesus verkündet.
Relecture
Alle diese Urteile sind falsch. Sie stammen aus Unkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge. Das ius talionis ist kein Überbleibsel eines barbarischen Rechtsempfindens. Es will dieses gerade überwinden. Es will das Stadium ablösen, in dem Konflikte durch Blutrache gelöst wurden.
Das Alte Testament hat die Erinnerung an die Zeit der Blutrache aufbewahrt im Lied Lamechs: „Ich töte einen Menschen für meine Wunde und einen Jungen, wenn mich jemand schlägt. Ein Mord an Kain verlangt als Rache sieben Menschenleben; für Lamech müssen siebenundsiebzig sterben!" (1.Mose 4,23f, GN) Gegenüber diesem hemmungslosen Gesetz der Rache besagt das ius talionis, dass zwischen der Tat auf der einen Seite und der Sühne bzw. dem Schadenersatz auf der anderen Seite eine Verhältnismäßigkeit bestehen muss. Wenn man bedenkt, dass noch im Wilden Westen des 19. Jahrhunderts Viehdiebstahl mit dem Tod bestraft wurde und noch heute in manchen Ländern einem Dieb die Hand abgehackt wird, ist deutlich, welch großer Schritt in Richtung auf ein menschenfreundliches Rechtsempfinden sich im ius talionis vollzieht. Der Philosoph Immanuel Kant behauptet sogar, dass das ius talionis zwar modernisiert und verfeinert, aber nicht grundsätzlich überboten werden könne.
Wie anspruchsvoll dieses Prinzip schon im Alten Testament war, zeigt sich, wenn man betrachtet, wie es im Volk Israel angewendet wurde. Dafür ist 2. Mose 21, Vers 24 aufschlussreich. Die Übersetzung Martin Bubers gibt deren Sinn am besten wieder: „Gib Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn!" Das heißt zweierlei:
1. Der Text richtet sich gar nicht, wie man zunächst vermuten könnte, an das Opfer. Hier wird nicht das Opfer aufgefordert, Rache zu nehmen oder auch nur sein Recht gerichtlich einzuklagen. Hier wird der Täter verpflichtet, für den Schaden aufzukommen, den er einem anderen zugefügt hat. Es heißt: „Gib Augersatz für Auge!, und nicht: „Nimm Augersatz für Auge!
Ziel dieses Rechtsgrundsatzes ist also nicht Rache für Recht zu erklären, sondern den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Es geht auch hier, wie übrigens immer im Alten Testament, um den Schalom: um Heil, Frieden, Ganzheit.
2. Nirgends ist überliefert, dass das ius talionis wörtlich genommen wurde. Von tatsächlicher körperlicher Verstümmelung ist nie die Rede. Vielmehr gibt es finanzielle Entschädigung. Diese kann fünf Formen annehmen: Schadenersatz, Schmerzensgeld. Heilungskosten, Arbeitsausfallersatz, Beschämungsgeld. Besonders schön kommt der Sinn dieses Grundsatzes zum Ausdruck, wie er an anderer Stelle ausgelegt wird: „Wenn einer seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, so soll er ihn für das ausgeschlagene Auge freilassen. Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er ihn für den ausgeschlagenen Zahn freilassen." (2.Mose 21,26f, EÜ)
Fazit: Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn" will nicht anstiften, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und so eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang zu setzen. Vielmehr geht es um Ausgleich mit dem Ziel, den Frieden zu erhalten.
Diese Auslegung wird noch übertroffen durch Jesus, der auf dieses Wort in der Bergpredigt (Mt 5,21-48) eingeht. Jesus beginnt mit den Worten: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist … Und dann zitiert er die alte göttliche Weisung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn
. Er fährt fort mit den Worten: „Ich aber sage euch. Jesus will den tiefsten und eigentlichen Sinn des Gebots deutlich machen. Dieser ist, den Frieden unter den Menschen herzustellen. So fährt Jesus fort: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf die rechte Backe, dem biete die andere auch dar.
(Mt 5,39) Solch ein Verhalten fordert großen Mut. Es hat nichts mit Schwäche zu tun, wenn ich dem Übeltäter die andere Backe hinhalte. Es fordert meinen freien Entschluss. Mit dieser Geste zeige ich ihm, dass ich auf Gewalt verzichten kann. Vielleicht kann ich ihn zum Nachdenken und Umdenken bringen. Ich lade ihn ein, unsere Konflikte von nun an auf einer anderen Ebene zu lösen.
Und wieder: Ziel dieser von Jesus vorgeschlagenen Geste ist der Schalom, das friedliche Miteinander der Menschen.
2. Der Mensch als Gottes Ebenbild
Kaum ein Wort der Bibel hat das Nachdenken über das menschliche Selbstbild so angeregt wie die Aussage im ersten Schöpfungsbericht: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn und schuf ihn als Mann und als Weib." (1.Mose 1,27) Kein anderes Wort bedeutet so viel für die Begründung der Menschenwürde und für die Erklärung der Menschenrechte. Vor allem die Philosophen und Theologen haben immer wieder darüber nachgedacht, wie die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott zu verstehen sei. Die einen vermuteten die Ebenbildlichkeit im aufrechten Gang, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Andere sahen sie in der Vernunftnatur des Menschen oder seiner geistigen Kreativität. Wieder andere sahen im freien Willen die Besonderheit des Menschen oder in seiner Fähigkeit zum Dialog und dazu, Gefühle für ein Gegenüber zu entwickeln.
Relecture
Wir nähern uns diesem Wort auf andere Weise, indem wir die Ebenbildlichkeit des Menschen im Zusammenhang der Schöpfungsgeschichte zu verstehen suchen, in der sie erzählt wird.
Wir gehen aus von dem hebräischen Wort, das an dieser Stelle steht: tselem. Es meint kein Bild im Sinne einer Malerei, sondern eine Statue. Der Mensch als Statue Gottes repräsentiert den Schöpfer in seiner Schöpfung.
Damit übernimmt die Bibel eine Vorstellung, die in den umliegenden heidnischen Religionen gang und gäbe ist. Im biblischen Schöpfungsbericht erhält sie jedoch eine neue Bedeutung. Ein Beispiel: Zur Königsideologie im alten Ägypten gehörte die Vorstellung, dass der Pharao die Statue des Sonnengottes ist. Er repräsentiert dadurch die Gottheit auf Erden. Das bedeutet zweierlei: Zum einen ist der König kein Mensch wie die anderen. Er ist von dem Sonnengott als dessen Sohn gezeugt und damit selbst göttlicher Natur. Zum anderen steht der Herrscher weit über den anderen Menschen. Er erhält eine göttliche Machtfülle über seine Untertanen.
Im Schöpfungsbericht der Bibel erhält die Vorstellung vom Menschen als Statue Gottes eine völlig andere Bedeutung: Nicht nur der König ist Gottes Statue und Repräsentant in dieser Welt. Alle Menschen, Mann wie Frau, sind Gottes Ebenbilder. Damit wird jeder Herrschaft von Menschen über Menschen eine Absage erteilt. Weder soll der Mann über die Frau herrschen, noch kann der König mit seinen Untertanen machen, was er will. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Das war damals eine geradezu revolutionäre Botschaft. Eine tiefere Begründung für die Würde und die Rechte jedes einzelnen Menschen gibt es nicht.
Wenn der Mensch, genauer: die Menschen, Gottes Statue auf Erden sind, wem gegenüber sollen sie den Schöpfer repräsentieren? Nicht anderen Menschen gegenüber, sondern der weiteren Schöpfung gegenüber, vor allen den Tieren: Die Menschen bekommen von Gott einen Herrschaftsauftrag für die nichtmenschliche Schöpfung. Was das bedeutet, wird in Kapitel I,4 näher ausgeführt. Hier sei nur auf zwei Dinge hingewiesen:
Zum einen darf man die Bedeutung des Herrschens in der Bibel nicht falsch verstehen. Wenn von Herrschaft die Rede ist, steht das Bild vom guten Hirten im Hintergrund, der die Herde fürsorglich weidet: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." (Ps 23) Der Mensch, Gottes Statue, so ist die Idee, tut es ihm gleich.
Zum anderen wird der biblischen Schöpfungserzählung manchmal vorgeworfen, sie erhöhe den Menschen über Gebühr und reiße ihn heraus aus dem Zusammenhang mit den anderen Kreaturen. Doch davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Nirgends wird der Zusammenhang von Mensch und Tier so eng gesehen wie in der Bibel. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass von dem Menschen als Statue Gottes dreimal gesagt wird, dass er von Gott „erschaffen" sei. Der Mensch ist Geschöpf Gottes wie die Pflanzen und die Tiere. Er ist Mitgeschöpf. Der Apostel Paulus kann später sagen, dass die gesamte Schöpfung zusammen mit uns Menschen voller Sehnsucht auf die Vollendung wartet. Dann werden wir dem Bild Christi gleichgestaltet sein, der selbst das Ebenbild seines Vaters ist. (Röm 8,29)
3. Die Frau aus der Rippe Adams
Die Frau aus der Rippe hat es in ihrer Auslegungsgeschichte bis an Stammtisch und in Witze gebracht. Dabei spielt die Erzählung im Schlaf: „Da ließ Gott, der Herr, einen Tiefschlaf auf Adam fallen, so dass er einschlief, nahm ihm eine seiner Rippen und verschloss deren Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute die Rippe, die er dem Menschen entnommen hatte, zu einer Frau aus und führte sie ihm zu." (1.Mose, 2,21f, EÜ)
Klar ist: Hier geht es nicht um eine naturwissenschaftliche Erklärung über die Entstehung des Menschen. Hier liegt eine Erzählung vor mit sagenhaften Motiven und Symbolen. Sie bringen Wahrheiten zum Ausdruck, die von der wissenschaftlichen Sprache nicht erreicht werden. So geht es in den Schöpfungsberichten der Bibel um Fragen wie: Wozu ist das Leben gut? Welchen Sinn hat es? Wie ist das Verhältnis zu bestimmen zwischen Gott und Mensch, zwischen den Menschen untereinander und vor allem auch zwischen Mann und Frau?
Wie stark eigene Vorstellungen in einen Text eingetragen werden, sieht man