Sterben lassen: Über Entscheidungen am Ende des Lebens
Von Ralf J. Jox
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Über dieses E-Book
Zwei Drittel aller Menschen in den reichen Ländern sterben nicht mehr unerwartet, sondern absehbar, unter ärztlicher Begleitung. Ralf J. Jox hat die Sterbepraxis auf deutschen Intensivstationen untersucht und eine große Verunsicherung festgestellt. Denn Ärzte und Angehörige müssen über die »Therapiebegrenzung« entscheiden, wenn der Sterbende dies nicht mehr selbst kann.
Aus seiner eigenen Erfahrung als Palliativmediziner und auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelt Ralf J. Jox Kriterien für ethisch vertretbare Entscheidungen am Sterbebett. Er plädiert für einen intensiven Dialog aller Beteiligten als besten Weg, der Selbstbestimmung des Patienten gerecht zu werden. Eine ethische Fallberatung, mehr Rechtssicherheit, eine bessere Ausbildung in der Sterbebegleitung und vor allem ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel können dazu beitragen, die Entscheidungen am Lebensende erträglicher zu machen.
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Buchvorschau
Sterben lassen - Ralf J. Jox
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Die Kunst des Sterbenlassens
Historischer Wandel der Todeserfahrung
Alltäglichkeit des Sterbenlassens
Sterbenlassen: ein ethisches Problem?
Wandel der ärztlichen Einstellung zum Sterben
Unausweichlichkeit des Sterbenlassens
Verantwortungsvolles Entscheiden
2. Von Ängsten und Wissenslücken
Angst als dominierendes Thema
Angst vor dem Tod
Angst vor dem Sterben
Angst vor Abhängigkeit und Würdeverlust
Angst vor Verlust und Schuld
Angst vor Rechtsfolgen und rechtliche Unwissenheit
3. Rechtslage und Regelungsbedarf
Erwartungen an das Recht
Entwicklung der Rechtsprechung
Aktuelle zivilrechtliche Rechtslage
Aktuelle strafrechtliche Rechtslage
Ergänzender Regelungsbedarf
4. Entscheidungsfindung in der Praxis
Wahl der Begriffe
Das Modell der Therapiezieländerung
Ein Beispiel von der Intensivstation
Therapie ohne Ziel
Ärztliche Indikation am Lebensende
5. Selbstbestimmung im Sterben
Selbstbestimmung in Medizin und Gesellschaft
Selbstbestimmung und Fürsorge
Patientenverfügung: eine Erfolgsstory mit Einschränkungen
Der mutmaßliche Patientenwille
6. Suizid und Suizidhilfe
Aktuelle Beispiele und Fragestellung
Empirische Befunde: Welche Menschen bitten weshalb um Suizidhilfe?
Empirische Befunde: Auswirkungen einer kontrollierten Suizidhilfe
Die Regelung in Oregon
Zur aktuellen Situation in Deutschland
7. Palliativversorgung in Deutschland
Die Anfänge einer Reformbewegung
Um wen sorgt sich Palliative Care?
Welches Ziel verfolgt Palliative Care?
Was tut Palliative Care?
Wer leistet Palliative Care?
Welche anthropologischen Annahmen kennzeichnen Palliative Care?
Die Reform geht weiter
Palliativversorgung in Deutschland
Forschung und Transfer in die Praxis
Ausbildung: Grundlage nachhaltiger Qualität
Professionalisierung von Palliative Care
8. Klinische Ethikberatung
Hilfe für Entscheidungen am Ende des Lebens
Welche Praxismodelle gibt es?
Was kann Klinische Ethikberatung erreichen?
Wie weit ist die Klinische Ethikberatung in Deutschland?
Schlusswort
Anmerkungen
Glossar
Über den Autor
Impressum
Für Lucia, Jakob und Julia
»Die Beschäftigung mit dem Tode ist die Wurzel der Kultur.«
Friedrich Dürrenmatt
Vorwort
Sie war unsere Großtante und lebte in einem Pflegeheim im schwäbischen Ulm. Sie muss über 80 Jahre alt gewesen sein – jedenfalls wirkte sie auf uns Kinder damals steinalt. Jahr für Jahr besuchten wir sie in dem tristen Heim, wo sie sich mit drei anderen Greisinnen ein schlichtes, schäbiges Zimmer teilte. Eine der anderen murmelte unaufhörlich das immer gleiche Stoßgebet vor sich hin, ohne Punkt und Komma, kaum vom Atemholen unterbrochen: »Gib uns allen deinen Segen, Herr, gib uns allen …« Unsere Oma schob ihr zwischendurch Erdbeeren in den Mund, damit sie wenigstens für ein paar Sekunden Ruhe gab.
Die Großtante dagegen war still und schweigsam. Sie lag im Bett, konnte sich kaum mehr bewegen. Manchmal fuhren wir sie im Rollstuhl durch den Garten, damit sie etwas von der Welt erlebe. Doch wir Kinder hatten erfahren, sie sei so gut wie blind und beinahe taub. Um mit ihr zu sprechen, musste man sich über ihr rechtes Ohr beugen und laut rufen. Wenn sie uns Kinder wahrnahm, drückte sie uns kurz die Hand. Und jedes Mal, Jahr für Jahr, zog sie uns sanft, aber entschieden zu sich hin und flüsterte uns inständig immer denselben Satz ins Ohr: »Bättet au, dass i schtirb!« – »Betet doch, dass ich sterbe!«
Uns Kinder hat dieses Ritual irgendwie verstört, aber auch seltsam belustigt. Was war denn das für ein komischer Satz? Warum sollten wir wollen, dass sie stirbt? Wie kann ein Mensch sterben wollen? Hatten wir nicht eben erst unsere eigene Mutter in jungen Jahren an Krebs sterben sehen – ein Sterben, das ganz und gar nicht gewollt war? Irgendwann, einige Jahre später, hörten wir, die Großtante sei nun »gegangen«. Erst viel später, als ich schon als Arzt arbeitete, begriff ich, was sie damals gemeint hatte.
Während meiner Arbeit auf der Palliativstation lernte ich, dass Sterben und Tod nicht immer und für alle etwas Schreckliches bedeuten. Wenn Menschen ihr nahendes Lebensende spüren, ist es nicht absonderlich, wenn sie dem Tod ins Auge sehen und ihn nicht mehr hinauszögern wollen. Sie lernen, das Leben loszulassen, Stück für Stück. Viel schwerer fällt dies meist den Angehörigen, den Ärzten und Pflegenden, für die es ja auch eine ganz andere Form des Loslassens bedeutet, denn sie bleiben allein zurück. Das Sterben des anderen zuzulassen ist aber nicht nur ein emotionales und existenzielles Problem, sondern zunehmend auch ein ethisch-moralisches. Denn es gilt, Entscheidungen zu treffen, inwieweit medizinische Maßnahmen zur Lebenserhaltung noch eingesetzt werden sollen. Wann ist es richtig, einen Menschen am Leben zu erhalten? Und wann ist es richtig, ihn sterben zu lassen? Diesen Entscheidungen müssen wir uns stellen, und von ihnen handelt dieses Buch.
In den letzten Jahren sind im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte um Patientenverfügungen zahlreiche Bücher zu diesem Thema erschienen, darunter viele bewegende Zeugnisse langjähriger persönlicher und beruflicher Erfahrung. Mein Ansatz geht hier bewusst in eine andere Richtung. Denn nach einigen Jahren klinischer Tätigkeit in der Neurologie, der Intensiv- und Notfallmedizin sowie in der Palliativmedizin, nicht zuletzt aber durch meine langjährige wissenschaftliche Arbeit zu ethischen Fragen am Lebensende wurde mir mehr und mehr bewusst, wie unerlässlich es hierbei ist, einmal innezuhalten und jenseits konkreter Schicksale über diese Fragen nachzudenken. Mein Anliegen ist es, zu dieser Reflexion anzuregen. Dazu scheint es mir wichtig, den Stand der internationalen Forschung und auch meine eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse in verständlicher Form zu vermitteln. Die öffentliche Diskussion über das Sterbenlassen krankt seit Jahren an einer übertriebenen Emotionalisierung. Viel zu häufig werden nur Erlebnisse und Einstellungen ausgetauscht, viel zu selten Fakten zur Kenntnis genommen und Argumente abgewogen. Sachlich, aber engagiert sollen hier die wichtigsten Themen dargestellt werden. Möge das Buch in diesem Sinne zur Versachlichung und vernunftgeleiteten Betrachtung anregen.
Es richtet sich grundsätzlich an alle Leser, denn jeder ist sterblich und hat mit dem Sterben anderer zu tun. Ich hoffe, dass Kranke und ihre Angehörigen genauso davon profitieren wie Dienstleister im Gesundheitswesen, Ethiker, Juristen und Politiker. Die einzelnen Kapitel sind so selbstständig gestaltet, dass sie auch isoliert voneinander verstanden werden können. An jedes Kapitel schließt sich eine ausführliche Liste der aktuellen Literatur zu den jeweiligen Themen an. Ein Glossar am Ende des Buches greift die wichtigsten verwendeten Begriffe auf.
Die Arbeit an diesem Buch hat mich viele Abende gekostet, deshalb danke ich zuallererst meiner Familie für ihr Verständnis. Mein Dank gilt ebenso den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich wissenschaftlich und klinisch zusammengearbeitet habe, insbesondere Gian Domenico Borasio, von dem ich sehr viel lernen durfte. Ich danke der Körber-Stiftung, speziell dem Team des Deutschen Studienpreises, für die Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit und die Ermunterung zu diesem Buch. Zu guter Letzt bin ich besonders Ulrike Fritzsching zu Dank verpflichtet, die mir durch ihr sorgfältiges Lektorat und ihre freundliche Art die Arbeit an diesem Buch sehr angenehm gestaltet hat.
München, im August 2011
Ralf J. Jox
1. Die Kunst des Sterbenlassens
Historischer Wandel der Todeserfahrung
»Mors certa, hora incerta.« Es gibt kaum etwas Gewisseres als den Tod, aber auch kaum etwas Ungewisseres als die Todesstunde. Bereits Augustinus reflektierte diesen Gedanken, der in der Antike zum Allgemeingut gehörte und später auch prominent von dem Zisterzienserprediger Bernhard von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist. Lange Zeit war es Brauch, den zitierten lateinischen Sinnspruch auf Uhren, insbesondere Sonnenuhren, gravieren zu lassen, um die Menschen jederzeit an ihre Sterblichkeit zu erinnern. So tragen etwa die große Uhr am Neuen Rathaus in Leipzig oder die Sonnenuhr des Dresdener Schlosses diese Inschrift.
Dabei vermittelt sie nicht allein die Erkenntnis, dass wir in gesunden Tagen nicht wissen, wann wir sterben werden, ob bereits am morgigen Tag oder erst in 50 Jahren. Damals wie heute leben wir in dieser Ungewissheit, an der auch die Voraussagekraft der modernen Genetik bisher nichts geändert hat – und das ist gut so. Ein Zweites drückt die Sentenz aus: Der Tod kommt meist unversehens und plötzlich. Noch in den Jahren 1871–1881 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Deutschen bei seiner Geburt 35,5 Jahre, wie es das Statistische Bundesamt belegt.¹ Bis ins 19. Jahrhundert hinein starben die meisten Menschen in ihrer Kindheit, Jugend oder im jüngeren Erwachsenenalter. Die Todesursache waren zumeist akute Infektionen, Epidemien, Unfälle oder Gewalttaten und Kriege. Die tödlichen Verläufe konnten mit medizinischen Mitteln nur unwesentlich gebremst, geschweige denn aufgehalten werden.
Dies hat sich seit dem 19. Jahrhundert für die industrialisierten westlichen Länder grundlegend gewandelt. In der jüngsten Sterbetafel von 2007 bis 2009 wird die Lebenserwartung bei der Geburt mit 77,3 Jahren für Männer und 82,5 Jahren für Frauen angegeben.² Heute sterben hierzulande die meisten Menschen an fortschreitend verlaufenden chronischen Krankheiten, vor allem Herz-Kreislauf-, Krebs- und Lungenerkrankungen.³ Zwar vermag die moderne Medizin, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser chronischen Erkrankungen nicht zu heilen und in ihrem Verlauf allenfalls zu bremsen. Doch können akute Verschlechterungen des Gesundheitszustands deutlich besser behandelt und oftmals stabilisiert werden, Organfunktionen können gestützt oder ersetzt werden, der menschliche Organismus kann in lebenskritischen Lagen am Leben erhalten werden. Diese Diskrepanz zwischen einer hocheffektiven, Lebenserhaltung erreichenden Akut-, Notfall- und Intensivtherapie und einer weniger effektiven, Heilung oder Zustandsbesserung oft verfehlenden Behandlung chronischer Leiden ist das hervorstechende Merkmal der heutigen Medizin.
Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass die akutmedizinischen Errungenschaften entwickelt wurden. Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen die Techniken zur Verfügung, mit deren Hilfe die Intensivmedizin heute so effektiv ist. Die Dialyse wurde 1945 von dem Niederländer Willem Kolff entwickelt, die maschinelle Intubationsbeatmung heutiger Art entstand in den 1950er Jahren, und 1954 begann die Transplantationschirurgie mit der ersten erfolgreichen Verpflanzung einer Niere. Der Stockholmer Herzchirurg Åke Senning implantierte 1958 den ersten Herzschrittmacher, 1961 gelang dem österreichisch-amerikanischen Anästhesisten Peter Safar der Durchbruch in der Herz-Lungen-Wiederbelebung, und 1962 veröffentlichte der amerikanische Kardiologe Bernard Lown die elektrische Defibrillation zur Unterbrechung lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen. In den 1970er Jahren wurde eine Möglichkeit gefunden, bei stark geschädigter Lunge das Blut auch außerhalb des Körpers künstlich mit Sauerstoff anzureichern. Die Magensonde gab es zwar schon länger, aber erst 1980 wurde die direkt durch die Bauchdecke in den Magen mündende PEG-Sonde erfunden, welche eine künstliche Ernährung über Jahrzehnte hinweg erlaubt. Schließlich wurde 1999 von deutschen Forschern eine Möglichkeit entwickelt, einen Großteil der Leberfunktionen mittels einer Art von Leber-Dialyse zu ersetzen.
Diese und weitere neue Behandlungsmethoden erlauben es heutzutage, beinahe alle Organfunktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen. Gemeinsam mit den geschilderten Veränderungen von Lebenserwartung und Todesursachen hat dies dazu geführt, dass wir Zeitgenossen anders sterben als je zuvor. Der Tod ist für die meisten Menschen nicht mehr der Sensenmann, der unvermutet auftrittt und mit einem schnellen Schnitt das Leben der Menschen in seiner Blüte kappt. Der Tod beendet das Leben in der Regel im Alter, er ist über Wochen oder Monate zuvor absehbar und stellt das Ergebnis bewusster Verzichtsentscheidungen dar.
Alltäglichkeit des Sterbenlassens
Dies lässt sich mit empirischen Daten solide untermauern. Vor etwa zehn Jahren wurde die große europäische Studie EURELD durchgeführt, welche in den sechs Ländern Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden und Schweiz die aktuelle Sterbepraxis untersuchte.⁴ Für einen Zeitraum von neun Monaten wurde ein repräsentativer Querschnitt aller Todesfälle in der Bevölkerung analysiert, indem die Todesbescheinigungen ausgewertet und die zuletzt behandelnden Ärzte zu diesen Patienten⁵ befragt wurden. Von den über 20.000 untersuchten Todesfällen trat nur ein Drittel unerwartet auf, zwei Drittel jedoch erwartet und absehbar. Je nach Land war jeder vierte bis jeder zweite aller untersuchten Todesfälle mit der bewussten Entscheidung verbunden, das Sterben des Patienten zu ermöglichen. Meist geschah dies dadurch, dass eine oder mehrere lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr begonnen oder nicht mehr fortgeführt wurden.
Wenn schon bei sämtlichen Todesfällen in der Bevölkerung der Anteil von Todesfällen durch ein Sterbenlassen so groß ist, dann darf man erwarten, dass dies auf Intensivstationen, wo ja die Kunst der Lebenserhaltung auf die Spitze getrieben wird, noch häufiger vorkommt. Außerdem ist die Intensivstation einer der Orte, an denen Menschen am häufigsten sterben. In einer amerikanischen Untersuchung wurde festgestellt, dass jeder fünfte Bürger sein Leben auf der Intensivstation beendet.⁶ Wer im Krankenhaus stirbt – 38 Prozent aller Todesfälle –, stirbt demnach am wahrscheinlichsten auf der Intensivstation. Je jünger ein Sterbender ist, umso wahrscheinlicher ist es dieser Studie zufolge, dass er in der sogenannten Behandlungsbox einer Intensivstation seine letzten Tage verbringen wird.
In der Tat verhält es sich so, dass auf Intensivstationen die allermeisten Todesfälle durch Sterbenlassen zustande kommen. Auch hierzu gibt es eine europaweite Untersuchung, die sogar in 17 Ländern über 30.000 Patienten, die auf Intensivstationen aufgenommen wurden, weiterverfolgt hat.⁷ Etwas über 13 Prozent dieser Patienten starben auf der Intensivstation. Bei drei Vierteln dieser Todesfälle waren lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt oder von vornherein nicht begonnen worden. Auch hier ließ sich, wie schon bei der EURELD-Studie, ein Nord-Süd-Gefälle in Europa feststellen: In nordeuropäischen und etwas abgeschwächt auch in zentraleuropäischen Ländern werden lebenserhaltende Maßnahmen häufiger begrenzt als in südeuropäischen Ländern. Genauer betrachtet liegt dies daran, dass in südeuropäischen Ländern lebenserhaltende Maßnahmen deutlich seltener abgebrochen werden, wenn sie einmal begonnen worden sind, während kein relevanter Unterschied darin besteht, wie oft solche Maßnahmen von vornherein unterlassen werden.
Die Tatsache, dass uns diese genauen Daten aus der Intensivmedizin vorliegen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sterbenlassen nicht auf die Intensivstationen beschränkt ist. Es geschieht genauso in Alters- und Pflegeheimen, wenn Ärzte, Pflegende, Angehörige und rechtliche Vertreter der Patienten übereinkommen, auf eine Wiederbelebung zu verzichten. Es findet sich in der Entscheidung des Hausarztes, seinen todkranken Tumorpatienten bei der nächsten Komplikation nicht mehr ins Krankenhaus einweisen zu lassen, oder in der Entscheidung des Notarztes, der Patientin mit der Lungenfibrose im Endstadium keinen Beatmungsschlauch mehr für eine maschinelle Beatmung zu legen, sondern ihr Morphin zur Linderung der Atemnot zu geben. Und schließlich gehört das Zulassen des natürlichen Sterbens zu den Grundlagen der Palliativmedizin, die immer mehr Menschen beim Sterben begleitet. Eine wissenschaftliche Befragung aller ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass knapp 70 Prozent dieser Ärzte bei ihren zuletzt behandelten Patienten auf lebenserhaltende Maßnahmen bewusst verzichtet haben, um das natürliche Sterben zuzulassen.⁸
Sterbenlassen: ein ethisches Problem?
Sterbenlassen stellt heutzutage also eine weitverbreitete Praxis dar. Heißt das aber nun, dass Menschen wieder »natürlich« sterben können wie in früheren Zeiten, als noch kein Kraut gegen die lebensbedrohliche Gefahr von Unfällen und Krankheiten gewachsen war? Immer wieder hört man ja die Forderung, wir müssten das natürliche Sterben wiederentdecken. Doch unterliegen wir damit einem Trugschluss: Wir lassen zwar der Krankheit ihren Lauf und greifen nicht mittels lebenserhaltender Techniken ein, doch wir tun dies sehr bewusst und erlauben der Natur nur so viel, wie es unseren Zielen zupass kommt. Selbstverständlich bemühen wir uns zugleich, die Schmerzen der Sterbenden zu lindern, ihre Atemnot zu dämpfen oder ihre sonstigen Beschwerden zu mildern. Dies tun wir mithilfe neuester Medikamente und technischer Hilfsmittel, wie etwa Kanülen im Unterhautfettgewebe zur Verabreichung von Infusionen. So wird der Sterbeprozess heute mehr denn je professionell gestaltet und gebändigt, von Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern, Psychologen und Therapeuten. Und dabei ist es gerade die Palliativmedizin, welche sich parallel zu den skizzierten technischen Errungenschaften der Akutmedizin seit den 1960er Jahren von England und Kanada aus entwickelt hat und sich für die bewusste Gestaltung des Sterbeprozesses einsetzt. Bezeichnend dafür ist ein geflügeltes Wort, das als Motto für die Palliativmedizin gilt: »Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun.«
Wo aber liegt nun das Problem bei alledem? Stellt es überhaupt ein Problem für unsere Gesellschaft dar, wann und wie wir andere – oder auch uns selbst – sterben lassen? Die gesellschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte bejaht diese Frage auf eindrückliche Weise. Es gibt kaum ein anderes Thema der Bioethik und Biopolitik, das die gesellschaftliche Diskussion seit den 1970er Jahren so kontinuierlich und nachhaltig prägt wie das Problem der sogenannten Sterbehilfe. Es begann mit dem berühmten Fall der amerikanischen Komapatientin Karen Ann Quinlan, bei der 1976 der New Jersey Supreme Court entschied, dass ihre maschinelle Beatmung abgestellt werden dürfe.⁹ In der Folge entwickelte sich eine Right-to-die-Bewegung, die auch auf Deutschland überging und bereits in der 1980er Jahren erste Formen der Patientenverfügung propagierte. Anfangs wurde die Debatte um das Sterbenlassen stark vermischt mit Forderungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen (»aktive Sterbehilfe«) oder der Beihilfe zur Selbsttötung. Dies geschah im Kontext der niederländischen Liberalisierung der Tötung auf Verlangen und der Aktivitäten von Suizidhilfe-Vereinen in der Schweiz, die auch Protagonisten in Deutschland beeinflussten, etwa den Arzt Julius Hackethal, der 1984 einer Frau Suizidhilfe leistete. Seit den 1990er Jahren trat dann mehr und mehr das Recht in den Vordergrund, am natürlichen Sterben nicht gehindert zu werden, was in Deutschland und anderen Ländern vorwiegend durch höchstrichterliche Urteile ausgearbeitet und durchgesetzt wurde. So hat der Bundesgerichtshof mit mehreren Urteilen zwischen 1994 und 2010 das Patientenrecht, sterben zu dürfen, und die Arztverpflichtung, Sterben zuzulassen, juristisch installiert. In den vergangenen zehn Jahren wurde dieses Recht vor allem unter dem Reizwort der Patientenverfügung diskutiert, was schließlich 2009 in einer gesetzlichen Regelung derselben mündete.
Die öffentlichen Debatten in Feuilletons, Fernseh-Talkshows und Podiumsdiskussionen sind aber nicht losgelöst vom klinischen Alltag, sondern spiegeln die Probleme der Kliniker einerseits wider und wirken andererseits auf sie zurück. Eine groß angelegte Befragung von Internisten in verschiedenen europäischen Ländern ergab 2007, dass quasi alle befragten Internisten in ihrer täglichen Patientenversorgung mit ethischen