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Nellys Version der Geschichte: Roman
Nellys Version der Geschichte: Roman
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eBook238 Seiten3 Stunden

Nellys Version der Geschichte: Roman

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Über dieses E-Book

Valeria stirbt und die Wochen, in denen sie zu Hause von Freunden gepflegt wird, erschüttern die Biografien nachhaltig. Jahre später sind alle Beteiligten in jeder Hinsicht weit voneinander entfernt, verstreut von Norddeutschland bis in den Senegal. Sturm versammelt sie für ein Filmprojekt, das ihre damalige private Initiative in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellen soll. Wie ist es um die Freundschaften von damals bestellt? Welche alten Wunden hütet jeder und jede von ihnen, welche davon brechen auf? Was verbindet die Schriftstellerin Valeria mit Sturms schreibender Frau Nelly?
Erika Wimmer schlägt mit ihrem berührenden Roman einen großen Bogen von der Freundschaft junger Erwachsener zum gereiften Empfinden und Erleben, vom privaten Handeln zur Wirkung im Großen - und hat tiefes Verständnis für ihre nur menschlich handelnden, fühlenden, strauchelnden und wieder aufstehenden Figuren.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2014
ISBN9783990390016
Nellys Version der Geschichte: Roman

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    Buchvorschau

    Nellys Version der Geschichte - Erika Wimmer

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    Freundeskreisel

    1

    Hinter dem Haus drei Apfelbäume, ein Birnbaum, mehrere Vogelbeerbäume. An der Grundstücksgrenze Johannisbeer-Sträucher, fast zwei Dutzend, nicht in Reihe und Glied, sondern versetzt und in Dreiergruppen gepflanzt, außerdem Stachelbeeren und, was das Schönste ist, neben der verwitterten Schuppentür zwei einander stützende Holundersträucher. Gras, löwenzahndurchwachsen, und, wegen der frühen Jahreszeit, Unmengen von Maulwurfshügeln, die schwarzen Erdhaufen von Weitem ein Tupfen-Muster zwischen dem jungen Grün und den Resten brauner Büschel, die wegen der Schneemassen des vergangenen Winters noch immer zusammengepresst und flach am Boden liegen. Vor dem Haus alles, was blüht. Eine Zierkirsche, mehrere Forsythien und, beim Zaun, zwei Fliederbäume, beide violett, einer hell, der andere dunkel.

    Der Flieder ist noch nicht so weit, es ist die Zeit der Tulpen, Narzissen und Forsythien, auch die Zierkirsche wird bald blühen. Sveas Finger streifen über Blätterbüschel, alles sprießt im Zeitraffer, denkt sie, wie Pinsel wachsen die Triebe aus den Ästen heraus, monatelang alles tot und dann innerhalb weniger Tage diese Pracht.

    Es ist erst April, doch einige warme Tage locken ins Freie. Svea breitet sich auf der Terrasse aus, es ist Wochenende, sie hat gekocht, nur für sich. Danach der übliche Kaffee und die aktuellen Zeitungen. Sie prüft den aufgeworfenen Terrassenboden, spröd sind die Bretter und da und dort in Stücke zersplittert. Der Boden muss neu verlegt, die gesamte Terrassenfläche mit strapazierfähigen Dielen bestückt werden. Auch die Steinstufen zum Garten werden bald neu gesetzt, das Geländer gestrichen.

    Ob das alles noch rechtzeitig zu schaffen ist, bevor die anderen kommen? Die anderen. Svea spielt mit dem Wort Freunde, horcht, wie es klingt. Bevor die Freunde kommen. Nein, dieser Satz stimmt nicht, nicht mehr.

    Vor zwei Wochen ganz plötzlich Sturm, hereingeschneit nach einem überraschenden Anruf, der neugierig machte, doch nicht allzu viel preisgab. Sturm war schmaler geworden, das Haar ergraut, die Gesichtszüge kantiger als früher. Er trudelte ein und sah sich so zielgerichtet um wie jemand, der etwas vorhat. Ein gemeinsames Mittagessen im Dorf, beim Huber. Erst Spannung und Scheu, dann Wohlgefühl, Gelächter. Aus der Distanz von fünfzehn Jahren ließ es sich leicht scherzen über die Katastrophen von damals. Katastrophen, das Wort stammt von ihr, Sturm hätte, sie weiß es inzwischen, diesen Ausdruck niemals gebraucht.

    Ein paar Tage vor seinem Besuch ein Telefonanruf, sein bedeutungsvolles Ich muss mit dir reden. Sie war erfreut gewesen, diese Stimme zu hören, doch spürte sie von Anfang an das Werben und Drängen darin, Sturms Tonfall hatte etwas Forsches, seine Worte klangen andererseits nüchtern, klar und bestimmt. Svea zögerte keinen Moment, sagte ja, er könne sie natürlich besuchen, warum nicht. Sturms Pläne klangen verstörend, erst allmählich, nachdem sie den Hörer schon aufgelegt hatte, begriff sie, worum es da ging. Ihr Herz klopfte mit einem Mal spürbar, es war, sie konnte es nicht leugnen, ein spannendes Vorhaben. Doch wollte sie darüber schlafen. Es kam alles so plötzlich. Sie hatte nicht gewusst, dass er Dokumentarfilme drehte, schon früher. Überhaupt hatten sie nur wenig über ihn erfahren, damals. Sturm war der Fremde unter ihnen gewesen, er hatte kaum jemals über sich selbst gesprochen. Es war ja um Valeria gegangen.

    Svea erinnert sich, dass er unentwegt zeichnete, mit seinem Zeichenblock auf den Knien saß er in Valerias Küche, warf eine Skizze nach der anderen aufs Blatt. Manchmal sah das Skizzierte aus wie ein Bühnenbild, eine Theaterszene, meist aber zeichnete er Köpfe, oft Karikaturen, zum Schreien gut. Sturm porträtierte sie alle. Dass er als Künstler keine Erfolge hatte, dass er kaum bekannt war und von der Kunst nicht leben konnte, ließ er sie wissen.

    Und dann war da dieser alte Kassettenrekorder, Sturm hatte ihn eines Tages mitgebracht und sie alle der Reihe nach aufgefordert, etwas draufzusprechen, etwas, was mit der gegenwärtigen Situation zu tun habe. Wie er sie alle dazu überreden konnte, diesem Rekorder einiges, vielleicht sogar eine Menge über sich zu erzählen, Svea wundert sich noch heute darüber.

    Es waren auch intime Dinge, die zur Sprache kamen, die da auf etwas Magnetband festgehalten wurden. Sie erinnert sich, auch sie nahm sich zu jenem Zeitpunkt kein Blatt mehr vor den Mund. Sturm mischte sich nicht ein, er überließ einem das Gerät, wer wollte, nahm den Rekorder für einen Tag mit nach Hause, und das war’s. Früher oder später machten alle mit, außer David natürlich.

    Wir hätten Sturm zum Schluss die Bänder abnehmen können, doch wer hat noch daran gedacht, kein Mensch. Es war nicht mehr wichtig, denkt Svea.

    Als Sturm zu Besuch kam, fragte sie ihn, ob er diese Tonbänder noch habe, er überlegte, nickte dann und meinte, die könnten sie sich zu Pfingsten gemeinsam anhören, er habe sie selbst nie gehört und später im Lauf der Jahre vergessen.

    Sie sprachen über den Film. Sturm merkte wohl, dass sie mehr Zeit brauchte, und entschloss sich spontan, seinen Aufenthalt um einen Tag zu verlängern. Svea spürte, wie wichtig ihm die Sache war, das gefiel ihr, doch wollte sie sich auch abgrenzen, noch einmal in Ruhe über alles nachdenken. Er quartierte sich im Gasthof Huber ein.

    Nachts ging sie im Haus umher, saß fröstelnd in der Küche, setzte abwechselnd Tee und Milch auf. An Schlaf war nicht zu denken. Sollte sie da wirklich noch einmal zurück? Einmal zweifelte sie, im nächsten Moment war sie sicher, es wagen zu wollen, dann wieder nichts als Abneigung. Sie witterte Ärger und hatte sich hier doch gerade so schön eingerichtet.

    Am nächsten Tag gingen sie noch einmal gemeinsam durchs Haus, Sturm war begeistert. Dieses alte, nur spärlich mit Möbeln ausgestattete Haus sei das perfekte Ambiente für seinen Film, sagte er. Ein langsamer, auf Interviews reduzierter Film solle es werden, doch wolle er daneben auch Raum geben für Imagination. Es fiel das Wort Empathie. Hier, in diesem Haus, ließen sich wahrhaftig Räume öffnen; indem er Wände, Winkel, Ecken, Fenster und Türen sprechen lasse, würden sich auch nach innen die unterschiedlichsten Räume erschließen. Atmosphären könnten sich hier ganz von selbst verdichten.

    Sturm begann zu schwärmen, wir müssen es machen, sagte er immer wieder und schaute Svea tief in die Augen. Wir.

    Er erzählte von Nelly, seiner Frau, auch sie sei Schriftstellerin – oder besser gesagt, wie Valeria sei sie Schriftstellerin gewesen. Eine Dichterin, die das Dichten aufgegeben habe, von einem Tag auf den anderen. Nach Abschluss ihres ersten Romans, eines Buches, das ihr sehr wichtig gewesen sei und das ihr zahlreiche Recherchen und allen Mut abverlangt habe, den Mut, sich den dunkelsten Erinnerungen und Gefühlen zu stellen.

    Sie habe die Geschichte ihrer Familie, ihrer Großeltern, Tanten und Onkel erzählt, die alle, bis auf den Jüngsten, ihren Vater, im Lager ermordet worden seien. Ihr Vater habe nach dem Krieg versucht, ein sogenanntes normales Leben zu leben. Er habe ihre Mutter geheiratet, sie hätten drei Kinder bekommen. Nur wenige Wochen nach der Geburt ihres jüngsten Bruders aber habe sich ihr Vater erhängt. In der Familie sei später nur selten darüber gesprochen worden, aber einmal habe ihre Mutter gesagt: So viel Lebendigkeit hat er nicht ertragen. Nelly habe die Version ihrer Mutter nicht akzeptiert, sie habe sie abgewandelt: Der Vater habe damit gesagt, er habe seine Schuldigkeit getan, er habe dafür gesorgt, dass es weitergehe. Mehr sei von ihm nicht zu erwarten gewesen.

    So habe Nelly ihren Vater verstanden, das sei ihre Grundlage gewesen. Sie habe diesen Text unter großen Anstrengungen und trotz zahlreicher Schreibkrisen nach Jahren fertiggestellt, doch ihr Verlag habe das Manuskript mit dem Argument abgelehnt, es sei genug, man wolle keine Holocaustgeschichten mehr publizieren. Der Lektor schlug ihr vor, die eigene Kindheitsgeschichte auszubauen, die Vorgeschichte aber auf ein knappes Kapitel zu kürzen. Den eigenen Vater habe sie als Älteste noch gut in Erinnerung, aber die anderen? Außerdem: Man müsse mit dem Holocaust doch einmal zu Ende kommen. Die Leute wollten das nicht mehr hören.

    Nelly habe ihm, Sturm, kurz darüber berichtet, danach habe sie es abgelehnt, das Thema wieder aufzugreifen. Sie habe keine einzige literarische Zeile mehr geschrieben, bis heute entziehe sie sich gut gemeinten Vorschlägen von Freunden und Lektoren, auch von Verlegern, die den Text drucken würden. Alle weiteren Bemühungen seien an ihr abgeprallt.

    Svea kochte für sie beide zu Mittag. Sturm war der Meinung, die Diele solle aufgrund ihrer Größe als Gemeinschaftsraum dienen, dort würde gemeinsam gegessen, geredet, vielleicht auch gefeiert werden. Im zweiten Stock solle für jeden eine Schlafkammer eingerichtet werden, er wäre bereit, für alles Nötige aufzukommen. In den größeren Räumen im ersten Stock und in der ebenerdigen Stube würden die Interviews stattfinden, vielleicht auch in Schuppen, Keller oder dem ehemaligen Stall. Und natürlich im Garten, wenn das Wetter es erlaube.

    Sie hatte bereits zugesagt, ohne es auszusprechen. Dinge, die vorher unmöglich erschienen waren, wurden in Sturms Gegenwart auch damals schon mühelos. Sie erinnerte sich jetzt an die eine oder andere Szene in Valerias Küche: Eruptionen, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätte, fanden statt, weil es so sein musste. Wegen Sturm, vermutete sie. Oder eigentlich: wegen Valeria, vor allem ihretwegen.

    Es ist die intensivste Zeit deines Lebens gewesen, wie solltest du da jetzt kneifen, dachte Svea. Mit einem Mal war sie sicher: Sie hatte nichts zu befürchten, nicht mehr. Gegen Abend brach Sturm auf.

    Schon am nächsten Tag hatte sie sein Schreiben in der Mailbox, eine Einladung an die anderen, mit einer kurzen Erklärung. Es sollte in seiner Dokumentation um drei Fälle gehen, die auf den ersten Blick nichts, jedoch im Inneresten sehr viel gemein hatten: In dem einen Fall ging es um einen spektakulären Arbeitsunfall in der Nähe von Berlin, er hatte in Deutschland eine Welle der Solidarität ausgelöst, die notwendigen Konsequenzen, eine Reihe von Gesetzesänderungen, waren aber ausgeblieben. Im zweiten Fall, er ging auf die frühen siebziger Jahre zurück, reichte jedoch in die Gegenwart herein, war durch den Schulterschluss südfranzösischer Bauern und mit großem Durchhaltevermögen die Ausweitung eines militärischen Sperrgebietes verhindert worden. Der dritte Fall – ihr Fall – sollte privates Engagement dokumentieren, wobei es Sturms Ziel war, eben durch die Parallelsetzung mit den anderen Fällen die gesellschaftspolitische Sprengkraft privaten Tuns bzw. Nichttuns herauszuarbeiten. Sturm hatte am Vortag über die unterschiedlichen Zugänge gesprochen und Svea hatte gesagt, dass das auch David ansprechen werde – wenn überhaupt etwas, dann das. Schon damals hatte David immer betont, dass ihr Zusammenhalt jenseits von Institutionen und die privat organisierte Pflege eines schwerkranken Menschen in dessen eigener Wohnung ein Solidaritätsprojekt war, das als Ausdruck von Eigenverantwortung und insofern als politischer Akt zu bewerten sei. Begriffe wie diese hatten ihnen allen zu jener Zeit viel bedeutet und das taten sie wohl auch noch heute.

    Sie brauchte Sturms Schreiben nur ein paar Zeilen hinzuzufügen, ihre Adresse, ihre Telefonnummer und die vereinbarte Zeitspanne angeben, fertig. Die Drehtage sollten zu Pfingsten über die Bühne gehen, sollte keiner kommen wollen, würde Sturm mindestens sie, Svea, zu einem Gespräch vor die Kamera bitten. Sturm wollte mit seinem Team, dem Kameramann Horst und dem Tonmeister Wassily, zwei Tage früher anreisen, um alles vorzubereiten und um das leere Haus, die Umgebung, den Garten schon einmal aufzunehmen. An Svea lag es nun, die aktuellen Mail-Adressen ausfindig zu machen.

    Obwohl sie einander eineinhalb Jahrzehnt lang nicht mehr gesehen hatten, wusste Svea, dass auch die anderen den Wohnort gewechselt hatten, sogar Hanna, die nach dessen Tod das Häuschen ihres Vaters geerbt hatte. Das und vieles mehr hatte sich herumgesprochen; immer wenn sie in Südtirol war, trugen ihr die Leute Dinge zu, die sie gar nicht wissen wollte. Svea hatte bis auf David, den sie vor der Scheidung und auch danach ein paar Mal getroffen hatte, keinen Kontakt mehr mit Klara, Julia oder Hanna gehabt, sie waren damals wortlos, aber mit einiger Entschiedenheit auseinandergegangen. Jetzt würde sie die Adressen recherchieren müssen oder sich an gemeinsame Bekannte von früher wenden.

    Und eine Köchin oder einen Koch sollte sie in Sturms Auftrag engagieren. Während der Dreharbeiten sollten die Interviewten sich nicht ablenken lassen durch irgendwelche Notwendigkeiten. Svea versprach, jemanden aufzutreiben, sie war sich sicher, Wally und ihre Tochter würden die Küche übernehmen und niemanden enttäuschen.

    Sie geht langsam durchs Haus, ihr Haus. Erst vor einigen Monaten, im Spätherbst, ist sie eingezogen, sie hat das Erdgeschoß renoviert, alle Arten von Holzverkleidungen entfernt, bis auf die Vertäfelung der Stube, die Küche war unkompliziert gewesen, doch hat sie ein großzügiges Bad mit angrenzender Sauna eingerichtet, das hat eine Stange Geld gekostet. Sie lebt derzeit nur hier unten, in der großen Küche, in der Stube, der Schlafkammer. Behaglichkeit ist alles. Das Haus als Ganzes ist schwer heizbar, doch in der Stube steht ein Kachelofen und in der Küche ist der alte Zusatzherd noch in Betrieb, damit ist sie über den ersten Winter gekommen. Und wenn ein zweiter und dritter Winter dazukommt, macht es auch nichts aus, sie hat hier genug Platz. Alles in allem ist das Haus viel zu groß für sie allein, trotzdem war es viel preiswerter als es ein wesentlich kleineres in Südtirol gewesen wäre. Sie will etwas daraus machen, vielleicht einen Teil vermieten, später dann. Nichts ist spruchreif, man wird sehen, sie will Schritt für Schritt vorgehen, eilig hat sie es nicht.

    Sie liebt es, die geschwungene Treppe hinaufzusteigen und langsam durch die Räume zu wandern. Die Wände hier oben sind noch nicht gerichtet, aber das hat Charme, findet sie, und die rohen Holzböden will sie ohnehin so erhalten, wie sie sind. Elektrik und Wasser sind in gutem Zustand, das alte Badezimmer in seiner Schlichtheit benutzbar, das Dach in Ordnung. Was will man mehr? In alle Winkel und aus den Fenstern zu schauen, bedeutet, das Haus allmählich in Besitz zu nehmen.

    Sie schaut durch das Ostfenster und sieht die schneebedeckten Berge in der Ferne, davor faltet sich die Landschaft im Wechsel von Erhebungen und Tälern zu blaugrauen Schichten, nur die Hügel in ihrer unmittelbaren Nähe leuchten in der Sonne grün. Rechterhand beginnt der Wald, der sich kilometerweit hinstreckt, links unten sieht sie einige Gehöfte in der Ferne. Der Kirschbaum des Nachbarn wird bald blühen, um den Baum und den Hof zu sehen, muss sie in den ersten Stock, denn ihr Haus steht etwas zurückversetzt auf einer Kuppe oberhalb des Dorfes. Es ist ein kleines Dorf, es gibt ein Gasthaus, keine zehn Wohnhäuser und eine Kapelle, in der nur alle paar Monate Messe gelesen wird. Der Huber kocht gut, zum Glück. Während sie auf ihrer Baustelle arbeitete, ging sie oft zum Essen hinüber. Dort, im Gasthaus, hat sie auch Bartl kennengelernt, er hat im Haus die schweren Arbeiten erledigt. In Windeseile. Ein unglaublich tüchtiger Arbeiter und auch noch klug, denkt Svea.

    Sie wird ihn anrufen müssen, damit er die Böden per Hand abschleift, sie sind ganz schön buckelig und das soll auch so bleiben, aber die anderen sollen sich bei ihr keinen Schiefer einziehen. Und Teppiche wird sie kaufen, sie in die Schlafräume legen, die hätte sie später ohnehin gebraucht. Die nötigen Matratzen steuert Sturm bei und ein paar Kästen und Regale stehen im Schuppen. Doch zuvor muss alles gereinigt werden, da wird sie Wally einmal mehr bitten müssen, und auch Bartls Schwester Anna könnte helfen. Allein all die Fenster, was für eine Arbeit, denkt Svea, und das Schrubben der groben Holzböden.

    Freundeskreisel

    2

    Es ist Frühling und sie ist da, auf dem Land. Seit untertags manchmal die Fenster offen stehen und die Luft durch die Räume zieht, hat sie ein größeres Nahverhältnis zum Haus und zu seiner Umgebung gewonnen. Im Winter hat sie sich nach draußen hin abgeschottet und drinnen verkrochen. Die Winter sind in dieser Gegend eisig kalt. Jetzt aber geht sie immer wieder im Garten umher, auch bei Nordwind, hinten im Obstanger hängt sie ihre Wäsche auf, vorne steht ein großer Tisch mit Stühlen auf der Terrasse, die Zeitungen und Magazine auf dem Tisch werden mit Steinen beschwert für den Fall, dass eine Bö dreinfährt, und unterhalb der Terrasse im Eck, wo es besonders geschützt ist, steht eine Holzbank. Hier lässt sie sich nieder, um sich zu sonnen, zu wärmen. Oder um den Sonnenuntergang zu genießen. Weiter drüben auf der Wiese ist ein Liegestuhl aufgestellt, das sieht nach Sommer aus, eine Vorwegnahme. Sie breitet sich jeden Tag ein wenig mehr aus, sie hat zu wohnen begonnen, besonders an den Wochenenden.

    Von drinnen geht sie nach draußen und von draußen nach drinnen, sie schaut durch die offenen Fenster ins Haus hinein, erfasst es immer wieder von einem neuen Blickwinkel, sie blickt von allen Seiten, von oben und unten, in den Garten hinaus, die Silbertanne an der Einfahrt will sie so bald wie möglich fällen lassen, die passt nicht hierher. Die Zierpappel mit der breiten Krone auch nicht, aber die wird sie einstweilen noch stehen lassen, sie mag den Baum.

    In ihrem Leben ist nur wenig so leicht und geschmiert gelaufen wie die Erwerbung und die Inbesitznahme dieses Hauses. Früher hatte sie eine Zeitlang vor, eine Ferienwohnung oder ein Häuschen in Tirol zu kaufen. Um zwischendurch richtig Bergluft atmen zu können. Nach Südtirol hätte sie nicht zurückwollen, Südtirol ist ihre Vergangenheit und das ist gut und richtig so. Aber die Gegend rund um den Kaiser hätte ihr schon gefallen, das Offenere der Landschaft dort bei gleichzeitig hochalpiner Umgebung. Im Kaisergebirge war sie sogar schon einmal klettern, in jungen Jahren und mit Freunden, jawohl, sie hat den Zettenkaiser bezwungen, darauf ist sie heute noch stolz. Obwohl sie an einem Piazriss beinahe gescheitert wäre.

    Sie hatte also die Idee, sich in der Nähe des Kaisers niederzulassen, vorerst nur in den Ferien, später vielleicht für immer. Bald aber musste sie einsehen, dass die Immobilienpreise in Tirol horrend waren, so unglaublich viel Geld hatte sie nicht. Umdenken war also angebracht. Von ihrer Stadtwohnung in Linz aus hat sie immer wieder Ausschau nach Häusern in der Umgebung gehalten, und dann plötzlich ein Wink ihres Nachbarn Kurt, der noch nicht einmal richtig befreundet mit ihr ist, trotzdem erwies er ihr den allergrößten Dienst, sie wird es ihm ewig danken. Er machte sie auf dieses Anwesen aufmerksam, servierte es ihr geradezu auf einem Tablett.

    Eines Tages läutete Kurt bei ihr, da gebe es ein Objekt, es gehöre einem Architekten, der habe es von Bauern erworben und soeben zu renovieren begonnen,

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