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Blaubarts Besitz: Roman
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eBook196 Seiten2 Stunden

Blaubarts Besitz: Roman

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Über dieses E-Book

Die bekannte Geschichte vom bösen Frauenverführer Blaubart, aus dem Blickwinkel unserer Tage erzählt, nimmt das alte Märchen ernst und ironisiert die Zeit, aus der wir nicht herauskönnen.
Der Roman ist eine Huldigung an die Liebe und ein schräger Blick auf die Merkwürdigkeiten deutscher Geschichte nach 1945.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum2. Sept. 2015
ISBN9783835328884
Blaubarts Besitz: Roman

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    Buchvorschau

    Blaubarts Besitz - Fritz Rudolf Fries

    Impressum

    Erster Teil

    Erstes Kapitel

    Der Tod ging durch den Schlaf. Jedem Schläfer im Haus gab er einen anderen Traum. Blaubarts Schlaf war ein Boot ohne Tiefgang; er schreckte oft auf, verwechselte, was er träumte, mit den Schatten an der Zimmerwand, bedrohlich nach ihm greifende Äste, die der Mond durchs Fenster schickte mit der rätselhaften Botschaft eines Kalligraphen. Rollbilder gab es viele im Haus, aus dem alten China in diese sächsische Provinzstadt R. gebracht, dank der Sammlerwut des alten Blaubart. Blaubart der Jüngere hatte sie später zusammensuchen müssen, die Rollbilder und Tuschzeichnungen, in den Müllhalden der Enteigner gefunden, die in Zeiten der Papiernot oft die Rückseiten der Blätter benutzt hatten für die neuen Parolen: WÄHLT LISTE EINS oder SO WIE WIR HEUTE ARBEITEN WERDEN WIR MORGEN LEBEN. Die Blaubarts hatten durch drei Generationen immer nur das gewollt und gewählt, was sie am Leben erhalten hatte.

    Und der Tod ging durch den Schlaf Carolines, die Blaubarts Frau war. In diesen Jahren der allgemeinen Besitzergreifung hatten sie einander verloren. Ein jeder schlief hinter verschlossener Tür in seinem eigenen Bett. Carolines Schlaf war ein tosendes Meer, sie stets eine Schiffbrüchige und froh, wenn es nur ein Traum war. Der Wecker am Morgen nahm täglich von ihr Besitz, sie liebte diese Aufforderung, sich dem neuen Tag zu stellen. Minuten vor der alarmierenden Glocke verließ sie das schmale Bett und vertauschte die Wärme der Nacht mit dem lauen Wasser im Pool, stieg im Kellergeschoss nackt ins matte Licht sparsamer Beleuchtung, so als hätte man die Glühbirnen nicht ausgetauscht, seit die Umsiedler 1945 ihre Winterkartoffeln hier gelagert hatten, benutzte die eine und andere schweißtreibende Maschine, die zur Gesundheit ihrer Käufer erfunden worden war, prüfte das Wetter durch das gewaltige Spiegelglas, das den Blick in einen Park freigab, der sich dem Betrachter entgegen wölbte wie die Brust einer Liegenden. Es war Schnee gefallen, die Brust war die einer verhüllten Göttin aus Stein.

    Und der Tod, der durch den Schlaf ging, störte am wenigsten Mortons Träume in seinem Korbsessel in der Veranda. Der Kater schlief keine Minute länger als seine Herrin, kaum dass er ihre Verspätung mit einem Kratzen an der Tür bekannt gab; er hieß Morton der Rote, nach der Farbe seines Fells, und er war in seinen Ansprüchen ein Prolet mit allen Anzeichen einer unterdrückten Klasse. Seine weiße, breite Brust wölbte sich wie die Brust eines Tigers. Er liebte Caroline. Heute plagte ihn vor der Zeit Unruhe, er sah den Schatten des Todes über sich, er sprang auf, ein Zittern befiel ihn, er ließ Wasser, ohne es zu merken, die Angst vor dem Schatten war größer, er musste Schutz suchen, er kratzte an der Tür, er rief mit seiner altklugen Kinderstimme, er zitterte, es drückte ihn etwas zur Seite, er fiel um, sein Herz blieb stehen.

    Caroline fand ihn und schrie auf. Ihr linker Arm, der das seltsam steife Tier berührte, empfand einen stechenden Schmerz, sie schrie noch einmal und meinte die Ohnmacht, die sie bedrohte und die so lange nicht eintreten würde, wie sie den stechenden Schmerz in der Herzgrube wahrnahm und aus dem weit geöffneten Mund entlassen konnte. Sie öffnete den Bademantel und suchte nach dem Telefon in der Tasche des Mantels. Sie fand es nicht.

    Ich sterbe, sagte sie zu dem alten Mann, der sich ihr näherte und ein Gesicht machte, als könne er diese Ausrede am wenigsten dulden, die sie aus jeder Verantwortung für den Tag befreite. Also auch aus der Verantwortung für ihn.

    Ich sterbe, hilf mir, bitte … Ruf den Krankenwagen.

    Blaubart nickte und sog sich an ihrer Gestalt fest. Wie lange hatte er sie nicht gesehen, nicht so gesehen, in dieser verhüllten Nacktheit. Wie alt war sie eigentlich? Ihre Brüste hatten weder an Größe noch an Farbe verloren, ihr Bauch, den sie mit ausgesuchter Trenn- und Diätkost fütterte, war flach, und was ihn noch näher zu ihr hinzog, war ihre Wärme, dieser Hauch eines duftenden Leibes, der sich anbot wie eine Speise dem Hungrigen, und Blaubart war ein hungriger Mann, der diese Speise sah und nach Jahren noch immer begehrte.

    Komm, sagte er, ich bring dich in mein Zimmer und rufe den Krankenwagen an. Ein kleiner Anfall, es geht vorüber.

    Nicht in dein Zimmer, sagte sie, ich will nicht. Ich will …

    Blaubart nickte und spürte, wie sie in seinen Armen erschlaffte und eine Ohnmacht sie ihm entführte und zugleich willig machte. Der Schweiß brach ihm aus, da er sie die letzten Meter zu seinem Bett mehr zog denn trug. Da sie endlich auf dem Rücken lag, die Augen noch immer geschlossen, bedeckte er ihre Nacktheit mit dem Bademantel, der ihr von der Schulter gerutscht war; er bedeckte sie, ohne der Versuchung widerstehen zu können, sie ein wenig zu drapieren, als legte er sie in ein Schaufenster, dessen Betrachter und möglicher Kunde er allein war.

    Dann wischte er sich mit dem wenigen Grauhaar auf seiner Stirn den Schweiß weg und besann sich. Einen Krankenwagen würde er nicht alarmieren; er konnte die professionelle Eile dieser rot gewandeten Helfer, die der Hölle entsprungen schienen, wenn auch der nicht weniger apodiktischen Hölle der Samariter, nicht leiden. Die würden hier wie eine Besatzungsmacht die Weihe des Hauses zerstören, den zertrampelten Schnee an ihren Schuhen über die Teppiche verteilen, und Caroline wie eine Beute in eine Tuchbahre packen, und sie ihm auf Nimmerwiedersehen entführen.

    Nein, nein. Wozu hatte man in all den Jahren ein System von Freunden aufgebaut, die einander halfen und nützlich waren wie die Freimaurer, zu denen sein Großvater noch gehört hatte. Er nickte dem Alten zu, der, von Liebermann gemalt, als protziger Ölschinken an der Wand hing. Der Alte nickte zurück. Sicher war ihm der Enkel lieber als der eigene Sohn, der im Dritten Reich, so glaubte er, den schlechten Ruf der Familie hatte verbessern wollen, indem er sich Nickel B. Bart nannte und als Lebensmittelchemiker auf seine Art ein Kriegsgewinnler wurde.

    Er rief den Dr. Krappke an, der um diese Morgenstunde seine Praxis an der vom Hochwasser verschonten Stadtmauer öffnen und mangels Klientel für eine Ablenkung dankbar sein würde. Woher und seit wann kannten die Herren sich? Blaubart wollte dieser Frage jetzt nicht nachgehen, es hatte mit Dankbarkeit zu tun, nur wer hatte wem einen Gefallen getan in den Zeiten, da man gezwungen wurde, ein Doppelleben zu führen? Bei Lichte gesehen, ging das Doppelleben weiter. Denn etwas wurde immer verheimlicht, wenn es mit der jüngsten Vergangenheit zu tun hatte.

    Krappke kam, als hätte er schon an der Straßenecke gewartet. Er kam nicht zu Fuß, das tat keiner, der es in der neuen Zeit in R. zu etwas gebracht hatte. Er kam in einem schwarzen Mercedes L, ein Auto groß und breit genug für eine große und breite Erscheinung wie Dr. Krappke. Blaubart öffnete ihm die Tür; das Hausmädchen kam nicht vor zehn Uhr, und an einem Schneetag wie heute musste man fürchten, dass sie mit ihrem Fahrrad stecken blieb. Sie war eine altmodische Person; von denen gab es viele in R., die aufgrund mangelnder geographischer Kenntnisse sich nicht trauten, über den Tellerrand der eigenen Provinz zu schauen, die ja eine schöne Provinz war, wo die schönen Mädchen, wie gesungen wurde, auf den Bäumen wuchsen; mit Wäldern und Auen, Flüssen und historischen Ruinen, mit Weinanbau und Manufakturen, mit einer Textilindustrie, die einst den alten Blaubart reich gemacht hatte. Mit der Textilindustrie kamen aus ganz Deutschland die Arbeiter in den Ort; auch Krappkes Großvater, der dem Enkel den Wuchs und die Unbekümmertheit vermacht hatte. Darin waren sie Gegensätze, Blaubart und er. Blaubart geigte und spielte Klavier und sammelte alles, was auf dem Musikmarkt von Mozart erschien; Krappke hatte für Musik das empfindliche Ohr eines Hundes, weshalb er ständig etwas pfiff, das er auf Offenbach und Puccini bezog, worüber Blaubart freundschaftlich hinweghörte.

    Jemand gestorben? polterte Krappke, als er durch die Tür kam und seine Hebammentasche (es war tatsächlich eine) auf den Chippendale-Tisch knallte.

    Blaubart legte einen Finger auf die Lippen und dirigierte den Arzt in sein Zimmer.

    Mann, sagte Krappke, das verbotene dreizehnte Zimmer! Nichts Gutes kann einem Christenmenschen hier begegnen.

    Dann sah er Caroline und pfiff durch die Zähne. Da konnte heißen: Sie, hier in deinem Bett? Ihr habt euch ausgesöhnt und es ist ihr nicht bekommen? Hätte eher vermutet, es hätte dich überfordert, mein Gudster …

    Das Herz, sagte Blaubart und ließ es zu, dass der Arzt Carolines Oberkörper freilegte und seine Apparate an-brachte, um sie abzuhören.

    Schwach, sagte er, aber nur vorübergehend. Ein gestörter Rhythmus, zu viel atonale Musik, vermutlich, die du ihr zugemutet hast. Ein paar Tage Bettruhe, zwei Scheiben Brahms pro Tag, und sie springt dir davon. Er gab ihr eine Spritze, die Carolines Schlaf verlängern würde.

    Dr. Krappke schrieb ein Rezept aus. Eine Mitgliedskarte bei einer der Krankenkassen verlangte er nicht, er war ein altmodischer Arzt, Freunde bekamen eine Rechnung, zahlbar bis Ultimo.

    Übrigens, sagte er, als er sich in der Küche die Hände wusch, hast du gewusst, dass im Kreise D., dem anzugehören R. die Ehre hat, die Frauen laut Statistik 79 Jahre alt werden? Etwa sechs Jahre mehr als die übliche Lebenserwartung von uns Männern. Wie alt bist du?

    Blaubart schüttelte den Kopf, was alles heißen konnte.

    Noch länger leben die Weiber im Landkreis Leipzig, sagte der Arzt. Da kann man sehen, dass alles das mit der schlechten Luft Propaganda des Klassenfeindes war. In zehn Jahren werden wir vermutlich eine andere Statistik haben.

    Verträgst du einen Schnaps? fragte Blaubart und lud ein, am Küchentisch Platz zu nehmen.

    Immer, sagte der Arzt, der stets von einer kleinen parfümierten Wolke umgeben war, die aus Duftessenzen und Alkohol gemischt war. Er sah ich um und sagte: Erinnere mich. Neunzehnfünfundvierzig, als die Russen kamen und euch auf die Straße setzten. Eine Weile zog die erste Poliklinik hier ein, und ich hatte meine erste Assistentenstelle, ich glaube, ich saß in deinem Geheimzimmer.

    Du irrst, sagte Blaubart. Das hier wurde der Kindergarten. Frag Caroline, sie erinnert sich.

    Wie auch immer. Sie nahmen deinen Großvater von der Wand und hingen ihren Stalin auf, der den kleinen Mädchen beim Pinkeln und Kacken zusah. Die Perversion der Diktatoren. Macht sie übrigens menschlich.

    Des Doktors Handy klingelte: Eine Patientin, sagte er. Du erinnerst dich, die Sekretärin vom Bürgermeister. Früher, meine ich. Kann ich nicht nein sagen.

    Was fehlt ihr denn ?

    Nichts weiter. Nur ein wenig Nachlassen der Erinnerung.

    Die Herren verabschiedeten sich mit Händedruck. Der tote Morton lag noch immer in der Veranda. Blaubart rief den polnischen Hausmeister an, der sich um Haus und Garten kümmerte und in der Nachbarschaft wohnte. Das tote Tier brauchte ein Begräbnis. Er unterdrückt den Wunsch, den steifen Kadaver zu berühren. Mortons blaue Augen starrten glasig in den Schnee. Ein schöner Tag, dachte Blaubart, er würde in der Bibliothek einige japanische Gedichte lesen und etwas von Stockhausen oder Ligeti auflegen und später nach Caroline sehen. Da er den Kochkünsten des Hausmädchens nicht traute (alles was sie konnte waren Knödel und Palatschinken), würde er ein Essen beim Chinesen bestellen. Und er musste in Carolines Bücherstube anrufen, dass die Prinzipalin heute wegen Krankheit nicht erscheinen konnte.

    Zweites Kapitel

    Hasemicke ging gern in den Kindergarten. Weder Oma Puschi noch Mutter Traudel mussten sie dazu überreden. Sie war Traudels Lieblingskind, auch wenn sie ihr bei der Geburt lieber einen anderen Namen gegeben hätte. Etwa Christa, Helga, Gisela, Uschi, oder Namen, wie man sie jetzt manchmal im Radio hörte, wie Schackliehn, Manuela oder Ella. Aber beim vierten Kind passt man nicht mehr so auf, und außerdem sollte diesmal der Papa das Sagen haben; der war gerade von den Russen entlassen worden, aus Gefangenschaft, und dem fiel nicht anderes ein als Caroline, und ich frage Sie, woher der Mann so einen ausländischen Namen wohl kannte. In Paris war der nicht gewesen als Soldat und ins Kino brachte den auch keiner rein. In Gottes Namen, denn: Caroline. So recht konnte unsereins mit dem Namen nicht umgehen, er blieb steif wie ein trocken gebügeltes Wäschestück. Und davon verstand sie was, seit Oma Puschi ihr Land verkauft hatte und sie wie Ausgebombte oder wie diese armen Flüchtlinge aus’m Osten in die Stadt gezogen waren. Sie hatte wohl der halben deutschen Armee die Unterhosen gewaschen, und ob die Russen ihr nun die Arbeit verlängern würden, das hing von Anton, ihrem Mann, ab, und ob der sich weigerte, an der, wie sie’s nannten, Wiedergutmachung teilzuhaben und bei den Russen in der Wismut zu arbeiten. Im Stollen, als Bergmann, der er ja war, aber Wismut war keine Kohle. Was war es denn dann? Ihr sagte ja keiner etwas, sie galt als zu dumm, Antons Traudel, zum Kinderkriegen aber hat es allemal gereicht.

    Caroline verstand nichts von dem, was ihre Mutter vor sich hin erzählte. Sie ertrug die Haarbürste und die morgendliche Tortur, das störrische Blondhaar zu bändigen, zu einer Tolle auf dem Scheitelpunkt des Kopfes zu rollen und mit einer Schleife aus Oma Puschis Sammlungen zu krönen. Sie ertrug es mit dem Stolz und der Eitelkeit einer Dreijährigen, die sich, was keiner wissen durfte, mit dem Drachen im Schloss verabredet hatte, denn das Schloss war nur scheinbar ein Kindergarten,

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