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Besucher: Eine unzuverlässige Erzählung
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eBook203 Seiten2 Stunden

Besucher: Eine unzuverlässige Erzählung

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Über dieses E-Book

Thomas beschließt sich umzubringen. Doch bevor er sich aus seinem Fenster stürzen kann, steht plötzlich ein Fremder in seiner Wohnung und bietet seine seltsame Hilfe an: Thomas soll jemanden töten, um sich zu helfen. Thomas lehnt das Angebot ab und versucht seinen Alltag aufrechtzuerhalten. Doch der Fremde dringt immer mehr in sein Leben ein und die Welt scheint zu zerfallen.
Eine seltsame lyrische Erzählung, die sich traut, verstörend und unzuverlässig zu sein.
SpracheDeutsch
Herausgeberkladdebuchverlag
Erscheinungsdatum15. Juni 2015
ISBN9783945431115
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    Buchvorschau

    Besucher - Jonathan Löffelbein

    DAS

    PROLOG

    ES WAR EIN FRIEDLICHER MORGEN, als Thomas beschloss sich umzubringen. Die Sonnenstrahlen fielen sanft durch sein winziges und einziges Fenster der kleinen Wohnung, die ganz oben in einem Hochhaus gelegen war, während er draußen das kaum wahrnehmbare Singen der Vögel vernahm. Doch nicht das hatte Thomas geweckt. Was hätte ihn denn wecken sollen, da er die ganze Nacht wachgelegen und nachgedacht hatte. Immer und immer wieder hatte er diesen einen Gedanken gewälzt. Tausend Mal hatte er sich dazu entschlossen und tausend Mal hatte er in seinem Kopf dazu »Nein« gesagt.

    Es war sechs Uhr, als Thomas sich zum tausend und ersten Mal dafür entschied. Sein Wecker klingelte und mit diesem Zeichen eines neuen Tages, so dachte er, war seine Entscheidung besiegelt. Es störte ihn allerdings sehr, dass es draußen so ein sanfter und guter Tag war. Er hatte sich das alles irgendwie anders vorgestellt. Fast kam es ihm so vor, als wollte die Welt da draußen seinen dramatischen Plan verhöhnen.

    Thomas setzte sich in seinem Bett auf, reckte, streckte sich und sah sich seine kleine Wohnung noch einmal, sicher ein letztes Mal, genau an. Eng quetschte sich sein Bett zwischen die aus irgendeinem Grund leicht schräg nach oben laufende Wand und den Wandschrank, der eigentlich viel zu mächtig und groß für das Zimmer war. Sein winziges, oftmals knirschendes Bett wirkte dagegen fast wie ein Puppenbettchen. Praktisch jede Nacht hingen Thomas’ Füße beim Schlafen über den Bettrand und auch jetzt streiften seine Füße die grau angelaufene, raue Wand, deren Farbe an vielen Stellen Risse aufwies. Ungefähr einmal im Monat blätterte ein großes Stück ab. Die darunter hervortretenden, noch graueren Stellen hatten inzwischen gemeinsam das Bild eines dunklen dürren Baumes gebildet, der sich langsam um Thomas’ Bett wand.

    Im selben Zimmer stand, ein paar Schritte vom Bett entfernt, ein kleiner Esstisch, der von seiner Größe genau für eine Person reichte, zum Essen daran aber nicht hoch genug war. Aus diesem Grund hatte Thomas, der nun wirklich alles andere als ein geschickter Mensch war, die einzigen Bücher unter die Beine gestellt, die er gerade noch im Hause gehabt hatte: Irgendetwas von Nietzsche, was, hatte er vergessen, die Bibel, Faust und, bis heute eines seiner Lieblingsbücher, die kleine Raupe Nimmersatt. Wie man sich denken konnte, stand der Tisch immer noch schief.

    Auf dem Esstisch befand sich eine Glasschale, in der ein Apfel und zwei Bananen ihrem traurigen Ende entgegenfaulten, während sechs Fruchtfliegen einen erbitterten Krieg um sie führten. Thomas erhob sich aus seinem Bett und schritt langsam durch sein Schlaf- und Esszimmer. Noch ein letztes Mal die Küche, dachte er sich und ging schwebenden Schrittes weiter.

    Seine Küche befand sich eigentlich im gleichen Raum wie sein Bett. Nur ein roter, fleckiger Vorhang, den er selbst mehr schlecht als recht aufgehängt hatte, trennte das schmale Schlaf- und Esszimmer von der mindestens genauso kleinen Küche. Doch auch die Küche schien für eine andere Person angefertigt worden zu sein, denn all die Ablagen, die Schränke und der Herd waren in geradezu lächerlichen Höhen angebracht worden, sodass Thomas einerseits auf einen Stuhl steigen musste, um an das Geschirr im Schrank zu kommen, sich aber andererseits bücken musste, um den Herd richtig bedienen zu können. Die Küche sah schmutzig aus. Dreckige Teller stapelten sich, vergammelte Essensreste quollen an den Seiten hervor. Unter der Spüle wartete eine einsame, langsam verschimmelnde Dose Ravioli darauf, gegessen zu werden.

    Ohne es zu bemerken, ging Thomas weiter, bog am Ende der Küche links ab und fand sich im Bad wieder. Noch bevor er sich selbst im Spiegel erkennen konnte, zog er sein Schlafanzugoberteil aus und verhängte ihn. Langsam rieb er sich die Augen, riss den Mund auf und gähnte. Er war doch noch ganz schön müde. Er hatte sich das irgendwie aufregender vorgestellt.

    Mit schleichender Geschwindigkeit formte Thomas mit seinen Händen einen Trichter, atmete sanft hinein und roch vorsichtig an seinem Atem. Und schreckte zurück. Igitt! So konnte er sich nicht umbringen. Was sollten denn die Leute, die später ganz sicher seine Einzelteile von der Straße aufsammeln würden, von ihm denken, wenn er erst mal aus seinem winzigen Fenster gesprungen war? »Also, der Anblick seines zermatschten Körpers war schon schlimm. Aber das Grausamste war sein Mundgeruch.« So würden sie über ihn reden, dachte er. Es war also besser, sich noch die Zähne zu putzen und zu duschen.

    Das Duschen in seiner Wohnung hatte Thomas schon immer als seltsam empfunden. Seine Duschkabine war um vieles zu groß für ihn, so dass er sich immer ein bisschen verloren darin vorkam. Zudem war der Duschkopf wohl irgendwie defekt, da er den Wasserstrahl so weit teilte, dass das Wasser ihn kaum berührte. Hier war er noch nie richtig sauber geworden.

    Nach wenigen Minuten stieg er aus der Dusche, ging zu seinem übergroßen Schrank und überlegte. Nach einer Weile zog er seinen schwarzen und einzigen Anzug aus den Untiefen des Schranks hervor. Die Leute, die ihn später zerstückelt am Boden finden würden, sollten nicht sagen, er hätte keinen Sinn für Mode gehabt.

    Thomas quetschte sich in den zu engen Anzug und blieb danach stumm in seiner Wohnung stehen. Seine Gedanken waren verklungen. Er schloss die Augen, sog stickige Luft ein und seufzte tief. Sein Bauch presste sich gegen sein Hemd.

    Er war jetzt bereit zu springen. Doch plötzlich bemerkte er, wie unordentlich seine gesamte Wohnung aussah. Dabei besaß er eigentlich nicht viel, die paar Bücher und ein wenig Krimskrams, und doch wirkte alles so schmuddelig. So konnte er diese Wohnung doch nicht zurücklassen! Was würde wohl die Untersuchungskommission sagen? »Natürlich hat er sich umgebracht! So unordentlich, wie er war! Alles war drunter und drüber! Ich sage, der hatte sein Leben nicht unter Kontrolle!«, würde der Hauptkommissar schlussfolgern. Nein, so etwas würde er nicht zulassen und so begann er seine Wohnung in seinem besten Anzug zu reinigen.

    Nach gut einer halben Stunde war Thomas mit dem Putzen fertig und stellte sich vor sein kleines Fenster. Er spürte, wie sein Herz heftiger schlug, und versuchte vergeblich, sich durch sanftes Atmen zu beruhigen. Nein, es war noch nicht alles sauber, er hatte einen Fleck oder eine Ecke vergessen. Nochmals begann Thomas alles zu putzten, schaute genau in jeder kleinen Mulde, Vertiefung oder Ecke nach, prüfte penibel die leicht schrägen Wände, suchte im Schrank, sah in die Dusche und schließlich, nach gut einer Stunde, war er auch damit fertig.

    Wieder stand Thomas vor seinem winzigen Fenster. War das der Ausweg? Er hatte sich doch sehr kurzfristig für diese radikale Lösung entschieden. War das wirklich richtig?

    Er öffnete das Fenster und frischere, angenehmere Luft wehte herein und streichelte seine Nase. Das Zwitschern der Vögel klang lieblich in seinen Ohren.

    Langsam, fast schleichend, ging Thomas auf das Fenster zu. Unter unendlicher Anstrengung zwang er seinen Körper Schritt für Schritt vorwärts. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus und tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Wollte er das wirklich tun? Hatte er sich das alles gut genug überlegt? Was würde sein Bruder dazu sagen? Was, wenn er –

    »Wird das eigentlich noch etwas?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

    Was, wenn er mit seinem Sprung unschuldige in den Tod reißen würde, vervollständigte er seinen Gedanken.

    »Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, flötete die Stimme. Erst jetzt drehte sich Thomas um.

    Hinter ihm stand: ein Mann. Er hatte keine Ahnung, wie dieser Fremde in seine Wohnung gekommen war, geschweige denn, was er hier zu suchen hatte.

    Gott, was für ein hässlicher Mensch! Er trug einen schicken, geschmackvollen schwarzen Anzug, doch sein Gesicht – Thomas musste erst einmal einen Schritt zurücktreten, so sehr ekelte er sich vor dem Anblick.

    »Hast du das Reden verlernt, oder was?«, fragte der Mann in Schwarz mit einem derart überraschend charmanten Lächeln, dass es Thomas regelrecht ansteckte und dieser sich zwingen musste, selbst nicht seine Mundwinkel zu verziehen.

    Er wollte etwas sagen, öffnete seinen Mund, doch es kam nur ein hässliches Krächzen hervor. Der Fremde lachte, während sich Thomas hektisch räusperte.

    Das Ganze war ihm schrecklich unangenehm, ja, schon peinlich! Was wollte dieser Kerl hier? Wer war er? Wie war er hierher gekommen? Und dann bekam er selbst nicht einmal ein Wort heraus. So ein hässlicher Mensch! Er konnte gar nicht beschreiben, was dieser Mann in Schwarz für Gefühle in ihm auslöste: Zum einen war da der Ekel. Thomas hatte beim Anblick des Mannes sofort Abscheu empfunden. Noch nie war er einem widerwärtigeren Menschen begegnet.

    Doch gleichzeitig ging von ihm eine seltsame Faszination aus und dieses geheimnisvolle Lächeln verlieh ihm –

    Aber es war nicht die Art des Mannes, die Thomas so viel Unbehagen verschaffte. Auf einem Schlag kam es ihm so vor, als wäre es in seiner Wohnung unmenschlich heiß geworden. Dabei hatte er das Fenster doch geöffnet und ständig zog frische Morgenluft herein. Die Sonne musste wohl genau in sein Zimmer scheinen, denn die Luft wurde fest und stickig. Er spürte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten und nur darauf warteten, in seine Augen zu rollen und ihn blind zu machen. Er spürte, wie es für ihn immer schwieriger wurde zu atmen, als würde die Luft sich weigern, in seine Lungen zu gelangen, als hätte er nicht die Kraft, die Luft in seine Lungen zu bewegen, als wäre er zu schwach, sogar diese einfachste Grundlage des Lebens zu erfüllen. Die Hitze quoll in sein Hirn und machte seinen Verstand matt. Kurz flackerte das Bild vor seinen Augen.

    Wer er sei, wollte Thomas fragen, doch alles, was er herausbekam, war ein »Wa – ha – mpr?«

    Er sah nur noch das charmante Lächeln des Mannes, als plötzlich die Erde anfing zu beben. Er taumelte ohne Halt durch sein Zimmer, während der Eindringling ruhig an Ort und Stelle stand. Der Himmel draußen verfinsterte sich und Thomas, der vergeblich irgendwo Halt suchte, bekam seinen roten Vorhang zu fassen, griff danach und riss ihn mitten entzwei. Danach wurde alles schwarz. Nur das bezaubernde Lächeln des Hässlichen hatte sich auf seine Lippen gelegt.

    1.

    TAG,

    MOR

    GEN

    Thomas erwachte. Das Erste, was er sah, war Dreck. Oder auch Schlamm. War es Schmutz? Jedenfalls – der Unrat blickte ihn an. Erst nach ein paar Minuten wurde ihm klar, dass er gar keinen Dreck betrachtete. Er blickte in ein Augenpaar. Dass es solch eine eklige Augenfarbe überhaupt gab? Es war klar: Die Augen gehörten dem Fremden. Dieser hatte sich über ihn gebeugt und lächelte. Und auch wenn Thomas allein schon der Anblick der Augen ekelte, so konnte er doch den Blick nicht abwenden. Er blickte ihm tief in den Unrat seiner Augenhöhlen. Und der Eindringling blickte zurück. Stumm.

    Mit stechender Stirn wandte er den Blick ab. Langsam richtete er sich auf. Seine Schläfen durchzuckte ein beißender Blitz. Eine plötzliche, noch nie gefühlte Übelkeit durchdrang seinen Körper. Ein seltsamer Druck bildete sich in seinem Hals. Eine heiße, klebrige Flüssigkeit suchte ihren Weg die Speiseröhre hinauf. Thomas konnte dem Druck nicht länger standhalten und schließlich, unter ständigem Zucken und Schnaufen, erbrach er sich auf seinen zweimal geputzten Boden.

    »Wo-ho-ho! Okay! Das ist eklig!«, rief der Eindringling und sprang einen Schritt zurück. »Pass auf meinen Anzug auf!«

    Thomas saß gekrümmt auf dem Boden, hielt sich seinen glühenden Magen und spuckte angewidert die letzten schleimigen Reste des Erbrochenen aus seinem Mund.

    »Na schön … Komm, steh auf«, sagte der Fremde und streckte Thomas seine Hand mitsamt seinem charmantem Lächeln entgegen. Thomas zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er diesem Mann trauen konnte. Es war immerhin nicht die normalste Sache der Welt, plötzlich einen Fremden in seiner Wohnung vorzufinden, wobei man sich doch gerade hatte umbringen wollen. Und dann fiel man auch noch in Ohnmacht! Thomas fühlte sich peinlich berührt.

    »Mach dir nix draus«, winkte der Mann ab, als könne er Gedanken lesen. »So eine kleine Ohnmacht ist schon den Besten passiert. Nimm’s als Neustart«, und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Willkommen in deiner neuen Welt!«

    Thomas war verwirrt. Einfach nur verwirrt. Ja, durchaus verwirrt. Verwirrt war das richtige Wort. Und obwohl er recht oft verwirrt war, weil er an sich nicht alles begriff und erkannte, so stellte dieser Grad von Verwirrtheit doch einen besonderen dar.

    »Aber keine Angst. Ich will dir nur helfen. Komm, nimm meine Hand«, sprach der Fremde plötzlich und streckte Thomas seine Klaue entgegen.

    Thomas starrte verunsichert auf die kräftigen Finger, doch schließlich ergriff er sie.

    »Na also, geht doch!«, lachte der Helfer und Thomas ertappte sich dabei, wie er selbst in ein, ihm im Nachhinein peinliches, albernes Glucksen verfiel.

    Was war denn gerade mit ihm los?! Am liebsten hätte er sich jetzt ins Bett gelegt und geschlafen, ganze drei Tage durch. Er fühlte sich schlapp, überanstrengt und war immer noch sehr wacklig auf seinen Beinen. Doch bevor er irgendetwas sagen, geschweige denn tun konnte, klopfte der Eindringling ihm freundschaftlich auf die Schulter, zog mit einer einzigen elegant-geschmeidigen Bewegung einen Stuhl heran, presste Thomas sanft auf diesen und begann vor ihm auf und ab zu gehen.

    Thomas wusste gar nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er war

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