Ein Stein beginnt zu reden: Novelle
Von Beat Reidy
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Buchvorschau
Ein Stein beginnt zu reden - Beat Reidy
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2012 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99026-515-4
ISBN e-book: 978-3-99026-517-8
Lektorat: Mag. Sandra Jusinger
Umschlagfotos: Elio Mazzacane | Dreamstime.com, Giordano Aita | Dreamstime.com
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumverlag.com
Einleitung
„Der Stein beginnt zu reden."¹
(Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder)
Jesus sprach zu den Pharisäern: „Wo diese werden schweigen, so werden die Steine schreien."² (Lukas 19,40)
Ein Stein beginnt zu reden
Da war sie also, die frisch renovierte Küche. Eine Herausforderung. Das Alltagsgrau der Fliesen wollte sich seinen Blicken nicht entziehen, ermüdete. Roman fasste sich an die Schläfe, presste seine Finger auf die Stirn und bewegte sie sachte auf und ab, auf und ab, auf und ab … Der Druck ließ nach. Er bemerkte die aufgestapelten Schachteln mit dem Geschirr. Er war gespannt, was die oberste verbarg. Was wurde ihm da aufgetragen? Wollte er nicht zuerst eine Zigarette rauchen?
Der Stapel war hoch, es mochten vier Schachteln sein. Morgen, nach einer erquickenden Nacht, fühlte er sich vielleicht besser. Dann war er sicher zu allem bereit.
Beim Ausräumen hatte er sich nicht die Zeit genommen, alles planmäßig und mit der nötigen Sorgfalt in den Schachteln unterzubringen. Das konnte ihm jetzt zum Verhängnis werden. Und wenn ein Glas am Boden zerschellen sollte? Es würde zu unzähligen Scherben zerbersten, die sich über die gesamte Küche verbreiteten. Unter jedem Stuhl – und er hatte schon deren drei –, unter jeder Tüte würden sie sich verstecken, in die hinterste Ecke vordringen. Er müsste niederknien, sich seiner Brille entledigen, um alles scharf sehen zu können. Und die spitzen Scherben konnten Löcher in seine Hose reißen, wenn nicht sogar sich in seine Knie bohren. So konnte er sich auf den Knien nicht bewegen, und das Funkeln der feinen Scherbchen, wenn nicht sogar Stäubchen würde ihn so verwirren, dass er die Übersicht verlöre. Wo sollte er mit dem Aufräumen beginnen? Zuerst musste er ja an die großen Scherben gelangen. Das war das Wichtigste. Aber wie konnte er zu ihnen vordringen, wenn sich schon die kleinen Stachelträger, gleichsam die Bauern, welche den König verteidigten, oder die Ameisen, welche die Königin bewachten, ihm entgegenstellten?
Er konnte sie überlisten, indem er sich erhob. Die großen Scherben konnte er so noch sehen. Aber wenn dann das Wichtigste geräumt war, blieben immer noch Tausende von kleinen und kleinsten Stacheln wehrhaft zurück. Er hörte das Knirschen unter seinen Schuhen. Nein, das konnte man ihm nicht zumuten.
Und dann spürte er wieder diese Ameisen im Kopf und das Kribbeln in den Beinen. Es verlangte ihn nach einer dritten Zigarette. Aber es war ja erst halb elf; er musste sich noch gedulden. Dann kam ihm eine Idee: Wenn er jetzt an die Arbeit ging, durfte er die dritte schon in einer Viertelstunde rauchen. Noch einmal blickte er auf die oberste Schachtel. Der Deckel war zu seinem großen Glück nicht mit der Schachtel verklebt. Langsam und konzentriert legte er Hand an. Feierlich hob er ihn in die Höhe, fast wie der Priester den Kelch im Gottesdienst, und legte ihn sachte auf den Kochherd.
Da waren sie also, seine großen Goldrand-Teller. Er hatte sie erwartet. Erstaunt nahm er daneben Gläser wahr. Sie waren von den Tellern ganz an den Rand gedrängt worden, aber – oh Glück – unversehrt.
Er öffnete die mittlere Tür des cremefarbenen Schranks. Drei Tablare starrten ihn an. Er entschied sich für das mittlere. Dorthin gehörten die Teller. Er benutzte sie ja als Mittagsteller, wenn er ausnahmsweise einmal am Mittag zu Hause aß. Vorerst begnügte er sich mit einem Teller, war er sich doch seiner Wahl noch nicht ganz sicher. Die andern sollten zu gegebener Zeit folgen, falls er sich nicht eines andern besann.
Was sollte er aber mit den Gläsern? Nach einigem Überlegen ergriff er schließlich ein Glas, umklammerte es fest und stellte es mit aller Sorgfalt auf das oberste Tablar, wobei er aufpasste, dass sein Arm nicht ausscherte, sondern ihm willig gehorchte. Das war narrensicher. Obwohl ja ein Narr eigentlich nicht sicher war, der dachte, die Narren seien sicher. Dort oben sollte das Glas thronen. Und da er glaubte, auf dem Glas sein Konterfei zu erblicken, war es auf dieser Höhe am richtigen Ort. Er war ja schon 63 und im Ruhestand.
Jetzt gönnte er sich die wohlverdiente Pause und fand endlich Zeit die Zeitung fertig zu lesen. Auf Seite 16 fand er einen Artikel über die „Profiteure" und Mr. Dagobert, den größten unter ihnen. Roman fragte sich, wie dieser fast tausendmal mehr verdienen konnte als andere Menschen in der Schweiz. Menschen, die eine schwere, verantwortungsvolle und gefährliche Arbeit verrichteten. Und fast zehntausend Mal mehr als Menschen in Südamerika. Das Leben war dort nicht viel billiger. Roman dachte an ein Hemd, das er in einem durchschnittlichen Laden gekauft hatte.
Wenn Mr. Dagobert mit einem Klienten einen Kaffee trank oder essen ging, durfte er für sich zehntausend Franken veranschlagen.
Roman kamen eine verhärmte Frau und ihr Kind in Burundi in den Sinn, die von ihren Lasten fast erdrückt worden waren. Daneben der Mann, ohne Bürde. Dieser hatte weggeschaut, als Roman ihnen begegnet war.
Doch auch in der Schweiz gab es Unterprivilegierte. Ihm fielen Raumpflegerinnen ein. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie hart ihre Arbeit war. Und er hatte Hilfsarbeiter auf steilen Dächern gesehen.
Er beabsichtigte nicht, den Steinreichen Steine aus dem Weg zu räumen. Nein, er wollte den Stein ins Rollen bringen. Jetzt musste endlich etwas geschehen. Etwas Außergewöhnliches. Jetzt wollte er ein Exempel statuieren. Es sollte ein symbolischer Akt sein. Bisher war er eher Schreibtischtäter gewesen. Nun musste er richtig zur Tat schreiten und kräftig anfassen. Die Öffentlichkeit sollte wach gerüttelt werden. Es musste so spektakulär sein, dass sich Presse und Fernsehen wie Geier darauf stürzten. Oder war er ein Fantast?
Da fiel ihm ein, dass er noch seine beiden Pflanzen begießen sollte. Die eine – sie hatte Nachmittagssonne – brauchte viel Wasser, die andere, ein Schattengewächs, wenig.
Wollte oder sollte er?
Er musste. Er hatte ja vorher Tabula rasa gemacht und angefangen, sich von überkommenen, nicht mehr tauglichen Ideen zu verabschieden, neuen Gedanken nachzuhängen, sich neu zu besinnen und zu entwerfen. Er hatte sich noch nicht aufgegeben. Er war nun einer, der alles wollte. Weil er nichts anderes tat.
Mr. Dagobert musste seine gerechte Strafe erhalten. Er hatte seine Privilegien zu Unrecht. Es war nicht sein Verdienst, im Norden