196 Tage auf treibender Eisscholle: Auszug aus: Die amerikanische Nordpolexpedition
Von Emil Bessels
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Über dieses E-Book
Emil Bessels (1847/1888) war ein deutscher Naturforscher und Nordpolfahrer.
Er studierte in Jena und in seiner Vaterstadt Naturwissenschaft und Medizin und trat 1869 auf Petermanns Veranlassung mit dem Dampfer Albert seine erste Nordpolfahrt an, um das Östliche Eismeer zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja zu untersuchen und Gillisland zu erforschen. Nur die erste Aufgabe wurde gelöst, da die ungünstigen Eisverhältnisse eine Erforschung von Gillisland nicht zuließen. Indes wurden wichtige hydrographische Arbeiten und eine vollständige Reihe von Seetiefenmessungen vorgenommen sowie zum ersten Mal die Existenz des Golfstroms östlich von
Spitzbergen nachgewiesen.
1871 wurde Bessels nach den Vereinigten Staaten berufen, um die wissenschaftliche Leitung der Nordpolexpedition unter Charles Francis Hall zu übernehmen. 1871-1873 drang man in der nördlichen Verlängerung des Smithsundes zu der noch von keinem anderen Schiff erreichten Höhe von 82° 26' nördlicher Breite vor. Jedoch scheiterte das Schiff (Polaris), und alle Sammlungen gingen verloren. Aus der Richtung der Flutwelle und aufgefundenem Walnusstreibholz schloss Bessels auf einen nördlichen
Zusammenhang dieses Meeresteils mit dem Beringmeer. Bessels arbeitete
anschließend neun Jahre für die Smithsonian Institution in Washington, D. C.
Aus dem Buch:
"Während Anfang Mai 1873 im "Polaris-Hause" die Vorbereitungen unserer Heimkehr ihrem Ende entgegen gingen, durchlief alle zivilisierten Lande die Nachricht, daß eine kleine Schar Schiffbrüchiger, in Lumpen gehüllt und dem Hungertode nahe, die Hauptstadt Neufundlands erreicht hätte.
Diese Unglücklichen waren die neunzehn, welche in jener verhängnisvollen Oktobernacht, als die "Polaris" an der Ostküste des Smith-Sundes in Trümmer ging, von uns getrennt wurden..."
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Buchvorschau
196 Tage auf treibender Eisscholle - Emil Bessels
196 Tage auf treibender Eisscholle
Inhaltsverzeichnis
Während Anfang Mai 1873 im »Polaris-Hause« die Vorbereitungen unserer Heimkehr ihrem Ende entgegen gingen, durchlief alle zivilisierten Lande die Nachricht, daß eine kleine Schar Schiffbrüchiger, in Lumpen gehüllt und dem Hungertode nahe, die Hauptstadt Neufundlands erreicht hätte.
Diese Unglücklichen waren die neunzehn, welche in jener verhängnisvollen Oktobernacht, als die »Polaris« an der Ostküste des Smith-Sundes in Trümmer ging, von uns getrennt wurden.
Unter den Schrecken und Qualen eines Dantischen Höllenringes verlebten sie Wochen und Monate, auf gebrechlichen Eisschollen treibend, von der Finsternis einer arktischen Nacht umfangen, mit dem dreifachen Tode ringend; dem Erfrieren, Verhungern und Ertrinken preisgegeben. Der Sieg mußte teuer erkauft werden, und endlos erschien die Zeit, bis er endlich erkämpft war.
Schlimmer als an Bord des Wracks sah es in jener Nacht, als die Katastrophe hereinbrach, auf dem Eise aus. Auf einem sinkenden Schiffe wurden wir von dem entfesselten Sturme über die hochgehenden Wellen gejagt; von Minute zu Minute mehrte sich der Wasserschwall, der unaufhaltsam sich durch das große Leck ergoß; allein wir besaßen wenigstens Licht und konnten die armseligen Mittel in Anwendung bringen, die Rettung zu verheißen schienen. Doch die anderen, welche auf dem trügerischen Eise Schutz gesucht hatten, umhüllte tiefes Dunkel.
Dichte Schneeschleier, von dem wütenden Orkane aufgewirbelt, umwogten sie in wildem, stürmischem Reigen. Kaum imstande, die Augen zu öffnen oder Atem zu holen, durften sie weder vorwärts noch rückwärts schreiten auf der krachenden Scholle, die bald hinabgeschleudert wurde in die Tiefe eines Wellentales, bald von Wogenkamm zu Wogenkamm geworfen – umtost und umbrandet von dem empörten Meere.
Allmählich legte sich der Wind, das Schneetreiben ließ nach, und das Licht des Mondes beleuchtete vorübergehend die Szene der Verheerung. Erst jetzt ließ die Scholle sich überblicken. Das Bruchstück war nahezu rund und mochte im Umfang etwa vier Seemeilen messen. Dicht am Wasser lagen, in Felle gehüllt, die schreienden Kinder; daneben kauerten jammernd die Mütter, vor Verzweiflung die Hände ringend. Hier und dort zerstreut zeigten sich andere Gruppen. Auf einem abgelösten Eisstück, kaum groß genug, darauf Fuß zu fassen, standen mehrere dunkle Gestalten, welche zu den andern flehten, ihnen Hilfe zu leisten.
Noch waren die Boote unversehrt. Tyson machte den kleinen Fahrkahn flott. Als er eben abstoßen wollte, schlug eine hohe Sturzwelle über ihm zusammen. Der Nachen füllte sich und sank; dem Ruderer blieb kaum Zeit, auf die Scholle zurückzuspringen. Erfolgreicher war der Versuch mit einem der großen Walboote, welches den Koch sowie zwei Matrosen erlöste und zu den übrigen brachte. Alsdann wurden die beiden Schaluppen nach der Mitte der Scholle gezogen, woselbst die Leute sich niederlegten. Doch niemand vermochte zu schlafen.
Als am 16. Oktober der trübe Tag zu dämmern begann, erstiegen sie einen der zahlreichen Eishöcker, mit welchen die Scholle besetzt war. Nach allen Himmelsgegenden schweiften die suchenden Augen – allein von dem Fahrzeuge war nirgends eine Spur zu erblicken. Verschwunden war die Nothütte, verschwunden die Kisten, Fässer und Ballen, welche den Proviant enthielten. Nur etwas Pemmikan (getrocknetes, in Streifen geschnittenes und mit Maismehl bestreutes Fleisch) und Zwieback barg die Scholle – und neunzehn hungrige Menschen, die vor Frost zitterten.
Nach dem Ufer zogen sich einige Wasserstraßen. Diese zu erreichen, mußte als die erste Aufgabe gelten. Die Position der Scholle war noch unbekannt.
Nachdem die Leute etwas Nahrung zu sich genommen hatten, schleppten sie die Boote nach der Richtung, wo das offene Wasser sich zeigte. Nur mit Mühe und großem Zeitaufwand konnten sie kurze Strecken zurücklegen. Als sie das Fahrwasser erreichten, war es 9 Uhr geworden. Sie waren kaum eine Meile gefahren, als das Eis sich schloß. Die Boote mußten auf eine sichere Stelle gezogen werden, um sie vor den Pressungen zu schützen. Ein so rasches Ende der Fahrt hatte niemand erwartet; statt besser zu werden, hatte die Lage sich verschlimmert; man konnte nun weder das Ufer erreichen, noch zu der Scholle zurückkehren, die man vor einigen Stunden verlassen hatte.
Mit der Strömung trieben hohe Eisberge. Durch das wilde Schieben und Drängen wurde die Scholle gehoben, auf welcher die neunzehn lagerten; und als sie schwer zurücksank, wichen die sie umgebenden Trümmer. Noch eine kleine Schwankung – und sie bewegte sich kreisend dem Lande zu.
Hinter einem Vorsprung der Küste zeigte sich plötzlich das Schiff. Um dessen Aufmerksamkeit zu erregen, hißten sie die Flagge und eine schwarze Gummidecke. Ein leichter Nordwind entfaltete beide Signale. Aber an Bord schien diese niemand zu beachten; richtig verfolgte das Schiff den eingeschlagenen Kurs. Dem schwarzen Schlot entquollen dichte Rauchwolken, – es wurden Segel gesetzt, – das Fahrzeug wendete bald nach rechts, bald nach links und verschwand darauf ebenso plötzlich, wie es erschienen war.
Einige der Matrosen machten nun den Versuch, nach ihrer alten Scholle zurückzukehren. Unterwegs gewahrten sie das Schiff, welches mit gerefften Segeln, scheinbar festgemacht, hinter einer Insel lag, welche einige für Northumberland, andere dagegen für Littleton hielten. In ihrem Unwillen glaubten sie, das Fahrzeug wollte ihnen nicht zu Hilfe kommen, und fingen an zu murren und Verwünschungen auszustoßen.
Hätten sie ahnen können, wie ängstlich wir nach ihnen ausschauten, ohne ihre Spur zu entdecken, so würden sie sicher einen zweiten Versuch gemacht haben, um unsere Aufmerksamkeit durch Flaggen oder andere Signale zu erregen. Allein ihre Unzufriedenheit ließ solche Gedanken nicht Raum finden; da sie Rauchwolken bemerkt hatten, mußte ihrer Ansicht nach das Schiff noch seetüchtig sein. In Wirklichkeit aber war dasselbe ein hilfloses Wrack, dessen Besatzung nur mit knapper Not dem Verderben entronnen war.
Die Scholle, auf