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Dämonen und andere Komplikationen
Dämonen und andere Komplikationen
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eBook236 Seiten3 Stunden

Dämonen und andere Komplikationen

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Über dieses E-Book

Menschlich, allzu menschlich sind die Dämonen, die Roterberg da heraufbeschwört … von denen wir lesen und hören. Jede der zwölf Geschichten ist ungewöhnlich: ungewöhnlich schön, ungewöhnlich tragisch, ungewöhnlich ehrlich, ungewöhnlich gefährlich. Und jede der zwölf Geschichten hat ihren eigenen Song.

Was geht in einem vor, der seine Frau an ihrem achten Hochzeitstag bei einem Seitensprung überrascht und der am gleichen Tag selbst in ein sinnliches Abenteuer verwickelt wird, das einen tödlichen Ausgang nimmt? Was bringt einen starrköpfigen, verbitterten Mann dazu, das Leiden seines verhassten Schwiegersohnes durch aktive Sterbehilfe zu beenden? Wie reift in einem Fünfzehnjährigen die Erkenntnis, dass sein Onkel noch längst nicht zum alten Eisen gehört? Was, wenn man sich urplötzlich ins Mittelalter versetzt sieht und dort einen Kampf auf Leben und Tod führen muss?

Motive aus Traumgefilden und aus allen Lebenslagen, darunter der treibende Rhythmus von Sex, Drugs & Rock 'n' Roll. Fantasiewelten prasseln auf Alltäglichkeiten; Träume legen sich wie ein doppelter Boden unter den Ernst des Lebens.

Diese Geschichten sind wie gute Rockmusik - manchmal rau, manchmal sanft, aber immer in voller Lautstärke.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Sept. 2014
ISBN9783945408124
Dämonen und andere Komplikationen

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    Buchvorschau

    Dämonen und andere Komplikationen - Roterberg

    Roterberg

    Dämonen

    und andere

    Komplikationen

    Verlag Neue Literatur

    2014

    Impressum

    Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    Coverzeichnung: Jörg Roterberg

    Konzept: Steffen Roterberg

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    ISBN: 978 3 945408 12 4

    Inhalt

    Impressum

    Gott oder Dämon?

    Keine Zeit

    Der Mann lebt ewig

    MARATHON

    Liebestränke/Nebenwirkungen

    Jackie

    Acht Jahre und dann

    Ein Hauch von Dämmerung

    Schutzengel haben einen seltsamen Humor

    Intimfeind

    Alte Säcke

    GIFTWALZER

    Songtexte

    Gott oder Dämon?

    »Ich bin der Schatten in der Finsternis

    Oder der Tänzer in der Nacht

    Nur wenn ich will, dass du mich siehst

    Wird dein Verstand von mir entfacht«

    Äußerst bedächtig legte der alte Häuptling das Kalumet aus der Hand. Nachdem alle gesättigt waren und der Rauch aus der allmählich erkaltenden Pfeife sich aufgelöst hatte, war es an der Zeit, seine Gäste mit einer Geschichte zu unterhalten. Er sah eine Weile in das Feuer, ließ sich von dem Wechselspiel aus dunklem Gelb, glühendem Rot und schwarzgrauem Holzuntergrund ins­pirieren und begann zu erzählen. Wenige Augenblicke nachdem er begonnen hatte, wurde seine Stimme von einem beständigen Murmeln begleitet. Es erinnerte ihn an einen Bach, der einem Wanderer zu folgen schien. Doch störte er sich nicht daran. Immer wenn diese Männer seinen Stamm besuchten, war das so. Und so begann er zu erzählen:

    »Eines Tages ging Old Man Coyote durch den Wald. Wie immer war er auf der Suche nach jemandem, dem er einen Streich spielen konnte. Er kam an das Meer, welches auch ihr kennt, und lief lange am Strand entlang, bis er endlich ein Dorf meines Stammes fand. Eine Weile beobachtete er, was da so vor sich ging. Er wunderte sich, weil viele Frauen, aber keine Männer zu sehen waren. Coyote war immer begierig darauf, eine Frau zu beglü­cken und so überlegte er, wie er sich wohl den Frauen nähern und unter ihre Kleider, zwischen ihre Beine kommen könnte. Zuerst verwandelte er sich in eine alte Frau und humpelte an den Langhäusern hin und her, bis eines der Weiber ihn ansprach. Sie schwatzten ein wenig und Coyote fand heraus, dass alle Männer auf dem Meer waren, um zu jagen und noch viele Tage ausbleiben würden. Dies waren wunderbare Nachrichten für den alten Schwerenöter. So ersann er einen Plan. In der ersten Nacht erschien er mitten in der Siedlung als ein kräftiger, weißer Hirsch und fing an zu röhren. Eine der Frauen wachte auf, sah das Tier, verliebte sich sofort und folgte ihm in den Wald. Dort kam es zu dem, was Coyote wollte. In der nächsten Nacht landete er als ein riesiger, weißer Adler auf dem First eines der Häuser und schrie, bis eine andere Frau nachschaute. Er ergriff sie und trug sie in seinen Fängen durch die Lüfte zu einem Horst, wo er sich die ganze Nacht mit ihr vergnügte. In der dritten Nacht setzte er sich als weißer Wolf mitten auf den Tanzplatz und heulte den Mond an. Wieder wurde eine Frau wach, sah den Wolf, folgte ihm und wurde von ihm begattet. So ging es, bis nach vielen Tagen die Männer zurückkamen. Er war in vielerlei Gestalt erschienen und hatte dabei alle Weiber geschwängert. In den folgenden Monaten träumten die Frauen immer wieder von dem Tier, welchem sie in der jeweiligen Nacht gefolgt waren. Sie erzählten ihren Männern von den Träumen. Natürlich nur von den Träumen! Die Männer riefen den Rat zusammen und palaverten viele Nächte über die Bedeutung der Träume. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Traumbilder Zeichen wären und jede Familie sich das jeweilige Tier zum Totem erwählen solle. So wurde es getan. Auf diese Weise kamen die Zeichen der verschiedenen Sippen zu unserem Volk. Coyote hatte nur seinen Spaß im Sinn, doch er schuf einen wichtigen Teil unserer Traditionen.«

    Das Gemurmel des Übersetzers hielt noch einige Augenblicke an, dann war das kaum hörbare Knistern des Feuers das Geräusch, das die Stille deutlich machte. Alle Indianer nickten zustimmend. Der Häuptling des anderen Stammes blickte mit seinen hellen, ozeanblauen Augen in die Flammen, strich sich über die Haare in seinem Gesicht und sagte dann:

    »Loki.«

    Für einige Momente ließ er das Wort ohne Erläuterung durch das Langhaus schweben. Dann fing er an zu erklären, Satz für Satz, um dem, der die Sprache der Indianer beherrschte, Zeit für die Übersetzung zu geben.

    »Loki ist einer unserer Götter. Er ist wie Coyote. Wollt ihr etwas über ihn erfahren?«

    Alle Anwesenden taten kund, dass sie eine Geschichte hören wollten. Und so begann auch der Häuptling der Nordmänner zu erzählen: Zuerst zählte er einige Dinge auf, für die Loptr, wie man Loki auch nannte, verantwortlich gemacht wurde. So habe er Odins achtbeiniges Zauberpferd, Sleipnir, vom Hengst Swadilfari empfangen, nachdem er sich in eine Stute verwandelt hatte. Er sei auch bei der Wiederbeschaffung von Miöllnir, Thors Hammer, behilflich gewesen. Und doch sei er auch ein Schelm und Bösewicht. Bei einem Trinkgelage in Oegirs Heim habe er gegen die Götter gewettert und deren Geheimnisse verraten, so lange gegen das Gastrecht verstoßen, bis er von den Göttern bestraft wurde. Loki soll auch eines Tages Ragnarök, den Untergang der Götter einleiten. Er ist allwissend und auch ständig hinter den Frauen her, von denen er seine Listigkeit haben soll. Hier setzte bei den Indianern ein zustimmendes Gemurmel ein, die Ähnlichkeit zu ihrem weisen und doch gewitzten alten Coyoten war zu offensichtlich.

    »Und doch«, fuhr der Wikinger fort, »und doch ist er auch der zärtlichste Liebende unter den Göttern. Darum hält ihm Sigyn, sein Weib, die Treue, bis einst die Götterdämmerung einsetzt. Wollt ihr diese Geschichte hören?«

    Nachdem das Echo dieser Frage auch in der anderen Sprache verhallt war, nickten die Mitglieder des Stammesrates und mit kurzen, leisen, kehligen Lauten forderten sie zum Erzählen der Ge­­schichte auf. Der Anführer der Wikinger winkte den Übersetzer zu sich und flüsterte ihm einige Sätze ins Ohr. Der widersprach, denn er glaubte nicht, dass er gleichzeitig singen und über­setzen können würde. Sein Gegenüber fauchte ihm zwei Worte ent­gegen und achselzuckend fügte er sich dem Befehl, die Geschichte in ihrer Tradition, nämlich in nordischen Stabreimen, vorzutragen. Er begann zu klatschen, seine Landsmänner fügten sich in den uralten Rhythmus mit ein und er hob an zu singen:

    Einst zum Gelage gingen die Götter, auch Loki war geladen

    Am Speisetisch der Skadi sah er Sigyn anmutig sitzen

    Über Braten, Met und Backwerk sich die Blicke der beiden begegneten

    Sigyns Schönheit und ihr Geist nahmen seine Gefühle gefangen

    So begann die Geschichte von Lokis Werben um Sigyn. Natürlich hatten ihre Eltern die Blicke gesehen, die sich beide bei dem Mahle zuwarfen und mitbekommen, wie sie später miteinander redeten. Es war ganz offensichtlich: Die beiden turtelten! Am nächsten Tage baten sie Odin und die anderen Götter um Rat und Hilfe, denn sie wollten verhindern, dass dieser windige Tunichtgut ihrer Tochter den Kopf verdrehte. So ersannen die Götter einen Plan. Sigyn wurde in einen Turm gesperrt, der auf einer nur etwa ein Dutzend Schritte breiten Insel inmitten eines reißenden Stromes, welcher sich wiederum nur eine Pfeilschussweite entfernt in einen hundert Speerlängen tiefen Fjord stürzte, stand. Der Turm war ein wunder- und auch sonderbarer Bau. Er ähnelte dem Skelett eines riesigen Blauwales, dessen Schwanzflosse in die versteinerte Erde gegossen worden war. Über dem felsigen Untergrund richtete sich der Turm senkrecht gen Himmel, es schien, als ob der Wal aus dem Wasser gesprungen und in diesem Moment eingefroren worden war. Danach war alles, was verwesen konnte, von dem riesigen Kadaver abgefallen und verrottet oder die Beute von Aasfressern geworden. Flossen und Rippen hatten Stürmen, Feuchtigkeit und Frost Tribut zollen müssen und sich ebenfalls gelöst. Übrig geblieben war nur die Wirbelsäule und der Schädel, welche sich im Laufe vieler Jahrhunderte in Stein verwandelt hatten. So sah der Turm aus, mächtig und doch filigran. Die riesigen Öffnungen im Schädel, die zwischen Ober- und Unterkiefer, waren mit leicht nach außen gewölbten Scheiben aus hauchdünnem Bergkristall, der zwar durchsichtig, aber doch härter als jedes geschmiedete Metall war, verschlossen worden. Nur das Atemloch war offen geblieben, damit im Inneren des Schädels die Luft zirkulieren konnte.

    In diesen seltsamen Turm wurde Sigyn nun eingeschlossen, gegen ihren Willen. Über den anfangs noch offenen Kiefer wurde sie hineingeführt, der wurde dann geschlossen und Thor versiegelte den Zugang, indem er Unterkiefer und Schädel mit seinem Hammer ineinander verkeilte. Um die jungfräuliche Göttin gefügig zu machen, sollte sie hungern. Als ein übermenschliches Wesen konnte sie daran nicht zugrunde gehen, doch sie würde leiden. Außerdem war ihr nicht möglich, sich zu verwandeln, um ihr Gefängnis zu verlassen. Auf diese Weise, so hofften ihre Kerkermeister, würde sie sich von Loki abwenden. Sie hofften ebenfalls, dass der sie nicht aus dem Turm, der ja keinen Eingang besaß, würde befreien können. Man vertraute auf seinen sprunghaften Charakter, glaubte, er würde nach einiger Zeit vergeblichen Suchens das Interesse verlieren.

    Loki aber suchte einige Wochen nach dem Mädchen, dessen Anblick ihn viele Nächte lang nicht hatte schlafen lassen. Als Wolf durchstreifte er die Wälder, als Adler schwebte er über das Land, als Delfin glitt er durch das Wasser, als Fledermaus flatterte er durch die Nachtluft und in die tiefsten Höhlen und immer wieder befragte er die Tiere, ob ihnen etwas Absonderliches aufgefallen war. Schließlich erreichte ihn die Kunde von der schönen Frau, die trauernd im seltsamsten aller Türme saß. Als er sie gefunden hatte, blieb er mehrere Stunden im Unterholz am Ufer des Stromes und beobachtete die Insel, den Turm und Sigyn, die er durch die kristallenen Fenster sehr gut erkennen konnte. Er trauerte und hungerte und litt mit ihr und erst als er sich sicher war, dass ihn keine versteckten Wächter hindern würden, schritt er zur Tat. Zuerst musste er ihr ein Mahl bereiten, denn sie sollte seinetwegen nicht hungern.

    Die junge Götterfrau glaubte nicht mehr daran, dass Loki sie retten würde, zu viele Tage waren ohne das geringste Zeichen von ihm vergangen. Wie schon so oft blickte sie aus ihren Verließ und beobachtete die Tiere. Viele kamen an den Strom, um zu trinken, diese Beobachtungen waren ihr einziger Zeitvertreib. Selten hatte sie einem Adler beim Fischen zusehen können, jetzt kam gerade wieder einer den Fluss herunter und in Richtung Insel geflogen. Doch er flog nicht vorbei, sondern umkreiste den Turm und musterte ihn genau. Dann flog er davon, zum Ufer hin, wendete aber plötzlich und steuerte genau auf das Atemloch zu. Kurz bevor er auf das Gemäuer prallte, veränderte sich plötzlich sein Schatten. Da kam etwas durch die Öffnung geflogen und landete auf dem kleinen Tisch, der neben einem Hocker ihr Verlies ein wenig erträglicher machte. Es war ein fix und fertig zubereiteter Lachs. Sie schaute sich nach dem Adler um, doch der schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

    »Loki!«, flüsterte sie. »Du bist doch gekommen.«

    Sigyn nahm sich trotz ihres Hungers Zeit beim Essen. Als sie ihr Mahl beendet hatte, wollte sie die Reste achtlos in den Fluss werfen, als sich plötzlich die Gräten vor ihr bewegten und Runen formten. Die Nachricht war nur kurz:

    »Wirf die Reste nur vollständig in den Fluss. Liebe, Loki.«

    Sie folgte dieser Anweisung und nur einen Wimpernschlag nachdem die Abfälle das Wasser berührt hatten, sprang ein quicklebendiger Lachs aus dem Wasser und grüßte sie mit einem heftigen Wedeln seiner Schwanzflosse. In derselben Nacht kam eine Fledermaus zum Turm geflattert und umkreiste ihn mehr als eine Stunde. Sie schien das scheinbar unüberwindliche Gefängnis intensiv zu studieren, vom Fundament bis zur Spitze, und wurde schließlich wieder eins mit der Dunkelheit. Am folgenden Tag kam der Adler wieder und brachte ein Kaninchen, das unter seinem Fell schon gesotten war. Auch dieses Mal begannen die Knochen nach dem Essen ihren Reigen und teilten ihr mit:

    »Warte am Nachmittag auf die Biene. Liebe, Loki.«

    Als sie die Knochen in den Fluss warf, wurde daraus wieder ein Fisch. Sigyn wartete ungeduldig auf die Biene. Diese kündigte ihr Kommen durch ein kaum hörbares Summen an. Sie flog in den Turm und dann immer wieder gegen die Kristallscheibe, als ob sie zur Sonne hin fliegen wollte und das für sie unsichtbare Hindernis dies nicht zuließ. Nach einer Weile schien das Insekt erschöpft zu sein und lief über das Glas, hob nur noch gelegentlich ab, um wieder dagegenzufliegen und darauf umherzulaufen. Doch Sigyn kannte das Verhalten vieler Tiere genau. Sie wusste, dass sich Bienen in ihrem Stock tanzend Informationen weiterreichten. Also beobachtete sie die Bewegungen dieser Arbeiterin genau.

    »Heute Nacht hol ich dich hier raus. Beobachte den Fluss und das Ufer. Liebe, Loki.«

    Diese Informationen entnahm sie der Geheimsprache der Biene. Das scheinbar erschöpfte Tier setzte sich schließlich auf ihre Hand. Lächelnd ließ es die junge Frau einige Augenblicke über ihre Haut laufen. Dann steckte sie ihre Hand durch die kleine Öffnung und entließ ihren gestreiften Boten in die Freiheit. Der summte noch einmal besonders laut und schwirrte davon.

    Eine Stunde nach Sonnenuntergang schwoll der Fluss an und die Wassermassen verursachten ein heftiges Rauschen, welches von dem Geräusch des Wasserfalls, der mit einem Male viele Millionen kleiner Wassertropfen, die sich über seine Klippen stürzten, mehr bewältigen musste, noch übertroffen wurde. Am Tage war nur ein entferntes Grummeln zu hören gewesen. Jetzt krachten die Fluten mit einem gewaltigen Donnern in die Tiefe. Doch all das diente nur der Verschleierung. Am Ufer erschien der listenreiche Gott mit einem Bogen und schoss präzise seine Pfeile immer wieder auf ein- und dieselbe Stelle am oberen Rand eines der Fenster. Solange es dunkel war, schoss er unermüdlich weiter, hunderte von Pfeilen, und erst als die Morgenröte die Farbe des Himmels veränderte, ließ das Rauschen der Fluten nach und der Pfeilhagel endete. Loki winkte seiner Geliebten zu und verschwand im Unterholz.

    Gegen Mittag brachte der Adler ein weiteres Mahl und die Ru­nen teilten Sigyn mit, dass sie Geduld haben möge. In der fol­genden Nacht kam ein riesiger Schwarm Möwen vom Fjord her zum Turm geflogen und die Tiere begannen um ihn herum zu fischen. Sie veranstalteten dabei einen unglaublichen Lärm, der das Aufprallen der Pfeilspitzen auf die Kristallscheibe unhörbar machte. Weitere drei Tage gab Loki der Geliebten von seinem Fleisch zu essen und weitere drei Nächte schoss er unermüdlich einen Pfeil nach dem anderen auf den Turm. Als der Morgen nach der fünften Nacht graute, zeigte seine Beharrlichkeit Wirkung. Die Kristallscheibe bekam einen feinen Riss. An diesem Tag teilte er ihr mit, dass sie sich nur noch eine Nacht gedulden müsse. Und tatsächlich, nachdem Loki die Glasfläche stundenlang immer und immer wieder beschossen hatte, splitterte ein größeres Stück heraus, die Spannung im Kristall war gebrochen und Sigyn drückte die Scheibe einfach nach außen. Ohne nachzudenken, stürzte die Göttin sich in den Fluss und schwamm zum Ufer, wo der Geliebte sie zuerst wegen ihrer Unvorsichtigkeit schalt und dann in die Arme nahm.

    Als der Wikinger seine in Reimen vorgetragene Erzählung beendet hatte, verfielen alle Anwesenden in ein meditatives Schweigen. Jeder ließ das soeben Gehörte auf sich wirken und niemand wunderte sich darüber, dass tatsächlich alle den Inhalt verstanden hatten. Auch die Indianer erkannten die Schönheit dieses Liedes, obwohl eine Übersetzung nicht stattgefunden hatte. Selbst das Knistern des Feuers hatte eine hypnotische Wirkung, jeder befand sich im innersten, abgelegensten, ruhigsten Punkt seines Geistes. Plötzlich knackte es kurz und heftig, einige Funken stoben zur Öffnung im Dach und eine kaum erkennbare Rauchwolke folgte ihnen wesentlich langsamer. Sie schlängelte sich durch das Loch. Im Langhaus schien das niemand zu bemerken, alle verharrten in ihrer tiefen inneren Einkehr. Über dem Dach verlangsamte sich der Rauch und verharrte, bis auch der letzte Schwaden aus dem Haus geglitten war. Die Wolke wurde immer dichter und nahm allmählich die Form eines Menschen an, der neben dem Kaminloch kniete und in den Raum darunter blickte. Der Gott der Unberechenbarkeit, der mit den vielen Namen, der auf allen Kontinenten und in den Traditionen vieler Völker zu Hause war, kicherte kaum hörbar. Er liebte solche Abende, an denen seine Völker ehrfürchtig von ihm sprachen. Er hatte dieses Treffen nicht arrangiert, er hatte auch die Erzählungen nicht beeinflusst, doch die seltsame Atmosphäre, die dort unten herrschte, war sein Werk. Das rhythmische Prasseln des Feuers und der beruhigende Schein der Flammen hatte wirklich jeden gefesselt. Doch jetzt war es

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