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Die Kathedrale: Geheimnisvolle Geschichten
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eBook459 Seiten6 Stunden

Die Kathedrale: Geheimnisvolle Geschichten

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Über dieses E-Book

Auf den Space Days 2012 startete die Ausschreibung mit einem Modell und der Vorgabe, dass diese Kathedrale allein auf weiter Flur steht. Die Autorinnen und Autoren sollten sich ausdenken, warum die Kathedrale dort steht, zur Ruine oder wieder aufgebaut wurde.
Vierundzwanzig Autorinnen und Autoren machten sich ihre Gedanken dazu. Heraus kamen ebenso interessante, wie lesenswerte Kurzgeschichten. Manchmal humorvoll, manchmal spannend, dann wieder liebevoll. Die Bandbreite der Geschichten ist recht ausgedehnt.
folgen sie den Autorinnen und Autoren in die Welt des gewaltigsten Gotteshauses seiner Zeit. Lernen sie die Geheimnisse der Kathedrale kennen und lösen sie die Rätsel, bevor der Autor das letzte Wort geschrieben hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Nov. 2013
ISBN9783943948172
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    Buchvorschau

    Die Kathedrale - Verlag Saphir im Stahl

    Biografien

    Susanne Schollenberger

    Das Vermächtnis

    Charlotte fuhr langsam die kurvige Straße entlang und fragte sich zum wiederholten Mal, wie ihr Onkel es in dieser Einöde all die Jahre ausgehalten hatte. In den letzten dreißig Minuten war sie an kaum einem Gebäude vorbeigekommen und an ein Dorf war gar nicht zu denken. Vereinzelnde Höfe und Hütten standen verloren am Waldrand und es sah nicht so aus, als gäbe es einen Supermarkt oder auch nur einen Tante-Emma-Laden. Während der rote Sportwagen, der für diese abenteuerliche Reise genauso ungeeignet schien wie das kurze Kostüm oder die hochhackigen Schuhe von Charlotte, sich über den Hügel schlängelte, dachte sie an die letzten Tage. Ihr Leben war schon lange stressig, das war sie gewohnt, aber die letzten Monate hatten ihr arg zugesetzt. Deswegen freute sie sich auf ein paar Tage Ruhe und Erholung bei dieser mysteriösen Kathedrale, von der sie erst bei der Testamentseröffnung erfahren hatte. Sie hatte Onkel Willy kaum gekannt; ihr Vater war seit Jahrzehnten mit seinem Bruder zerstritten und obwohl keiner mehr so richtig den Grund kannte, wurde der Streit bis zum Tode nicht beigelegt. Umso verwunderter war Charlotte, dass ausgerechnet sie dieses Gebäude geerbt hatte, aber es war eine willkommene Abwechslung, um ihren Arbeitsalltag zu vergessen und all das hinter sich zu lassen. Der Aufbruch gestern war recht spontan und ließ sie, die sonst alles plante, schmunzeln.

    Auf dem Hügel angekommen schwand ihre Laune jedoch etwas, denn das, was sie da vor sich im Tal sah, war nicht etwa eine prächtige Kathedrale, sondern eher ein heruntergekommenes baufälliges Gebäude mit zwei in den Himmel ragenden Türmen, die nicht so aussahen, als wenn man sie gefahrlos betreten könnte. Ansonsten wirkte das Bauwerk recht abenteuerlich mit seinen vielen Rundfenstern, die jede Putzfrau hätten verzweifeln lassen, und dem einladenden Tor. Sehr malerisch wirkte aber der blaue Bach mit seiner kleinen Rundbrücke, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie sich trauen würde, diese mit dem Auto zu überqueren. Hinter der Kathedrale lag etwas abseits ein kleines Dorf, von dem sie annahm, dass es so alt war wie die Kathedrale selbst und in dieser Zeit stehengeblieben war. Sie konnte von hier oben nicht viel erkennen, aber hoffte, dass es dort wenigstens eine Backstube oder Gaststätte gab. Schon verspürte sie ein leichtes Hungergefühl.

    Vor der Brücke angekommen, hielt sie erstmal an und ging den Rest zu Fuß, wobei sie die Stöckelschuhe lieber in die Hand nahm. So stolz sie eben noch über ihre Spontanität gewesen war, hätte sie doch planbarer packen sollen. Ihre Garderobe passte so gar nicht in diese einfache Gegend.

    Auf der anderen Seite des Flusses blieb sie kurz vor dem Tor stehen und atmete ein paarmal tief durch. Dies alles gehörte ihr, dachte sie voller Ehrfurcht und verdrängte damit die kleine Stimme aus dem Hinterkopf, die sie vor den Kosten warnte, welche dieses Gemäuer mit sich bringen würde. Sie schloss das Tor auf und schaute sich um. Bei dem Anblick der eingestaubten und dunklen Zimmer musste sie unwillkürlich an gruselige Gespenstergeschichten aus der Kindheit denken. Nachdem die Fenster allerdings geöffnet waren und die Sonne ein helles Licht spendete, waren die Geister auch schon vertrieben. Dazu war sie viel zu sehr Realistin. Sie beschloss, sich erstmal einen kleinen Teil des Hauses anzusehen und ging in den südlichen Flügel. Dort suchte sie sich ein kleines Zimmer mit einfachen, aber sehr schönen Möbeln und packte ihren Koffer aus.

    Dass sie die ganze Zeit über vom Hügel aus beobachtet wurde, bemerkte sie nicht.

    Zum Glück hatte sie wenigstens an etwas Proviant gedacht und so kochte sie sich in der rustikalen Küche erstmal ein Abendessen, dankbar, dass ihr Onkel ihr ein wenig Brennholz für den Ofen hinterlassen hatte, denn jetzt in der Abenddämmerung nach der langen Reise noch Holz zu hacken hätte ihre Kräfte überfordert, denn an Strom war hier nicht zu denken. Der Ofen verbreitete eine wohlige Wärme und sie wurde schnell müde. Sie legte sich, nachdem sie noch ein wenig den Flammen zugeschaut hatte, ins Bett und fiel fast sofort in einen unruhigen Schlaf ...

    Lautes Stimmengewirr und Pferdegetrampel erfüllten den Platz, starke schwitzende Männer bauten seit Jahren an dieser Kathedrale, angetrieben von ihrem starken Glauben und dem Wunsch; Gott das prächtigste Gebäude zu bauen, dass die Welt je gesehen hatte. Sie wollten ihm auf diese Weise danken, dass er ihr Dorf im Krieg verschont hatte, ihre Frauen nicht dem Feind zum Opfer gefallen waren und sie in Frieden mit ihren Familien leben durften. Auch wenn es anstrengend war und oft übermenschliche Kräfte kostete, kamen immer mehr Männer hinzu und halfen mit.

    Charlotte beobachte im Traum fasziniert die Männer und schwenkte dann den Blick zu den Frauen in ihren einfachen, aber wunderschönen Kleidern, die so zufrieden aussahen wie es Charlotte nur selten sah. Kleine Kinder spielten am Bach und lachten, während sie sich nass spritzten ... aber auf einmal wurde Charlotte unruhig, irgendein Gefühl zwang sie, sich umzudrehen und dann sie es: Auf dem Hügel waren hunderte Krieger aufgestellt und warteten nur noch auf das Kommando ihres Anführers. Noch bevor Charlotte schreien und so die Dorfbewohner warnen konnte, wachte sie schweißgebadet auf.

    Im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, wo sie war, aber dann fiel ihr alles wieder ein. Schaudernd dachte sie an den Traum, der so friedlich begann und dann so bedrohlich endete. Sie hatte die Kathedrale in ihrem Aufbau gesehen, daran bestand kein Zweifel. In welchem Jahrhundert sie sich dabei befunden hatte, wusste sie nicht, aber das wollte sie durch Recherchen herausfinden.

    Nach dem Frühstück, welches aus dem Reiseproviant des Vortages und einem heißen Tee bestand, ging sie durch das alte Gemäuer und machte im Kopf schon eine Bestandsaufnahme. Vieles war dem Laufe der Zeit zum Opfer gefallen und durch die Witterung zerstört, ein Teil der Türme sah aus wie zerbombt und Fenster und Türen waren teilweise zerspilttert. Von einem Zimmer aus ging es eine steile dunkle Treppe in die Tiefe. Sie schnappte sich ihren Rucksack, in dem sich allerlei Krimskrams befand, nahm eine Taschenlampe heraus und schritt mutig die Treppe hinab.

    Matthew kam auch an diesem Tag wieder durch den Wald auf den Hügel und sah lange auf die Kathedrale. Seit er SIE gestern in dem roten Flitzer gesehen hatte, die langen Haare zu einer viel zu strengen Frisur hochgesteckt, konnte er an nichts anderes mehr denken. Sie kam ihm so wahnsinnig vertraut vor und er malte sich aus, wie ihre Haare offen im Wind flatternd aussehen würden, wie sie ihr hübsches Gesicht umspielen würden und sie dabei lächelnd versuchte, sie immer wieder aus ihrem Gesicht zu streichen. Er fand sie wunderschön und ihm wurde bewusst, dass sie es war, die er seit einer Ewigkeit vergeblich suchte. Endlich glaubte er am Ziel seiner Träume zu sein, endlich schien die Reise beendet. So viele Jahre war Matthew immer und immer wieder diesen Hügel hinauf gelaufen, dorthin wo er vor etlichen Jahren sein Herz verloren hatte.

    Wie Charlotte es geahnt hatte, gab es natürlich kein Licht im Keller, aber an den Wänden befanden sich viele Kerzenständer mit zum Teil abgebrannten und zum Teil neuen Kerzen. Obwohl sie nicht rauchte, hatte sie immer ein Feuerzeug in ihrem Rucksack und schon bald erhellte flammendes, flackerndes Licht die Flure. Charlotte öffnete eine Tür und befand sich in einer Galerie und Bücherei mit hunderten Büchern in den Regalen und Gemälden an den Wänden. Neugierig studierte sie die Bilder und erschrak, als sie an Szenen aus ihrem Traum erinnert wurde ... die Kleider der Frauen, die spielenden Kinder, die hart arbeitenden Männer ... all das was sie hier sah war ihrem Traum entsprungen, als hätte sie es aus der Erinnerung selbst gemalt. Etwas verwirrt schaute sie sich im Raum um und nahm ein dickes Buch aus dem Regal, auf dessen Einband das Bild ihrer Kathedrale prangte. Sie nahm sich vor, abends ein wenig darin zu lesen und stieg die Treppe wieder nach oben. Draußen angekommen atmete sie tief die frische klare Luft ein und beschloss, bei einem Spaziergang die Gegend zu erkunden. Hätte sie diesen Teil des Kellers gestern schon erkundet, hätte sich der Traum und die Verbindung zu den Bildern leicht erklären lassen, aber so war es ihr fast unheimlich. Als sie auf der kleinen Brücke über dem Bach ankam, schaute sie eine Weile dem Wasser zu und es war, als gingen ihre Gedanken mit dem Lauf des Baches auf Reise. Sie stellte sich vor, wie ihr Onkel hier hatte leben können und womit er sich den Tag vertrieben hatte. Sicher, es gab viel zu tun und man konnte sich in der Dorfkneipe, die sie inzwischen erspäht hatte, das eine oder andere Bier schmecken lassen, aber so allein in diesem rieseigen Gemäuer war doch bestimmt sehr einsam. Sie wusste einfach viel zu wenig von Onkel Willy. Wie leicht lebte sie dagegen in der Großstadt, mit allem Komfort, auf den ihr Onkel freiwillig verzichtet hatte. Es war jammerschade, dass sie ihn nie kennengelernt hatte. Manchmal verfluchte sie den Dickschädel ihres Vaters, der so unversöhnlich den Kontakt verweigert hatte. Charlotte hätte so viele Fragen gehabt.

    Matthew hielt den Atem an, als er sie so verloren und zerbrechlich mit zerzausten Haaren und traurigem Blick auf der Brücke stehen sah. Er wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als zu ihr zu gehen und sie tröstend im Arm zu halten, aber noch war der passende Zeitpunkt nicht gekommen. Er hatte Jahrhunderte auf diesen Augenblick gewartet, es kam auf ein paar Tage nicht an. Und trotzdem, sein Herz schrie nach ihr. Er konnte sie fast körperlich spüren, stellte sich vor, wie gut sie roch, wie sie sich seufzend an ihn schmiegen würde, wie ihre Küsse schmecken würden ...

    Nachdem Charlotte eine Weile gelaufen war, begegnete ihr ein altes Ehepaar und sie war froh, endlich mal wieder mit jemandem reden zu können. Außerdem sahen die beiden so liebenswert aus und erinnerten Charlotte an ihre eigenen Großeltern, sodass sie das Gefühl hatte, ihnen sofort vertrauen zu können. Auf ihre Menschenkenntnis konnte sie sich bisher immer verlassen und so stellte sie sich gleich vor: „Guten Tag, mein Name ist Charlotte Darsen, ich bin die Nichte von Wilhelm Darsen. Mein Onkel hat mir die Kathedrale vermacht und nun bin ich gestern angekommen, um mir das Schmuckstück mal anzusehen." Der Mann nickte ihr freundlich zu:

    „Freut uns, Sie kennenzulernen, Miss Darsen, ich bin Wolter Gibson und das ist meine Frau Emma. Wir haben Ihren Onkel gut gekannt und wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können, sprechen Sie uns ruhig an, wobei meine körperlichen Tätigkeiten die besten Jahre hinter sich haben." Seine Frau lachte und meinte, er solle mal nicht übertreiben, um ein paar Handgriffe zu tätigen reiche seine Kraft schon noch aus. Mit der Einladung für den, wie Wolter sagte, besten Kirschkuchen des Landes, verabschiedete sie die Gibsons und Charlotte ging langsam zurück. Sie freute sich über die Bekanntschaft und auch auf den versprochenen Kirschkuchen, wie sie hungrig und müde feststellte. Mit dem Buch aus der Bibliothek verzog sie sich nach dem Abendessen, dass aus einer Dosenmahlzeit bestand, ins Bett. Morgen musste sie dringend nach einer Einkaufsgelegenheit Ausschau halten. Schon nach ein paar Seiten fielen ihr die Augen zu.

    Dieses Mal war sie nicht nur eine Zuschauerin, sondern mitten im Geschehen dabei. Und trotzdem sah sie die Szene von oben. Sie stand an einer kleinen Feuerstelle mit einem großen Kessel und rührte die Mahlzeit für die Männer. Das Kleid an ihrem Körper stand ihr sehr gut, betonte ihre schlanke Taille und den üppigen Busen, ihre Haare waren locker zusammengebunden und einzelne Strähnen fielen in ihr verschwitztes Gesicht, welches ihre Wangen rot glühen ließ. Sie war mit sich und der Welt zufrieden. Gleich konnte sie die Männer zum Essen rufen, sie für die harte Arbeit am Bau der Kathedrale etwas belohnen. Sie war stolz auf ihren Vater, der Vorabreiter und Planer war und so viele Männer hatte motivieren können. Aber noch bevor sie mit dem Kochen fertig war, überkam sie genau wie gestern das Gefühl, auf den Hügel zu sehen und wieder sah sie die Krieger auftauchen. Sie schrie auf und packte die Kinder, rief den Frauen zu, sich in Sicherheit zu bringen und rannte Richtung Eingang der Kirche.

    Wieder wachte sie verschwitzt und irritiert auf, wankte ins Badezimmer und ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen. Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es erst kurz nach Mitternacht war, aber an Schlaf war erstmal nicht zu denken und so setzte sie sich an den Ofen und trank einen Tee. Lange blieb sie so sitzen und dachte über die Träume nach. Hatten sie was zu bedeuten oder lag es an den vielen neuen Eindrücken? Hatte sie in einem früheren Leben am Bau mitgewirkt? Hatten ihre Vorfahren hier gelebt? Sie merkte wieder einmal, dass sie viel zu wenig über ihre Familie und deren Stammbaum wusste. Irgendwann schlief sie im Sessel ein und wachte erst wieder auf, als die Sonne schon hell ins Zimmer schien.

    Nach dem Einkauf im einzigen kleinen Laden und einem üppigen Frühstück beschloss Charlotte zu den Gibsons zu gehen, um mehr über Onkel Willy zu erfahren. „Guten Morgen meine Liebe, wie schön, Sie zu sehen, wurde sie strahlend von Emma begrüßt. Auch Wolter schien sich ehrlich zu freuen und sie nahmen auf der kleinen Veranda vor dem Haus der Gibsons Platz. Nachdem der Tisch schnell mit Kuchen und Kaffee gedeckt wurde, fragte Charlotte: „Ich wollte Sie bitten, mir etwas über meinen Onkel zu erzählen. Leider haben wir uns seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen und ich bedauere sehr, ihn nicht schon viel früher in dieser Idylle besucht zu haben. Ich fühlte mich von der ersten Nacht an seltsam vertraut mit der Gegend. Emma lachte und sagte:

    „Das ist schon komisch, als Ihr Onkel vor zwanzig Jahren hierher kam, sagte er fast das Gleiche. Er war vom ersten Augenblick in die Kathedrale verliebt und hat sie erworben. Aus finanziellen Gründen konnte sie nicht mehr erhalten werden und stand kurz vor dem Abriss. Ihr Onkel war immer der festen Überzeugung, dass seine Vorfahren beim Bau dabei waren, konnte dies aber nie beweisen. Er erzählte von seltsamen Träumen und davon, dass er lange recherchieren und suchen musste, um das Kirchengebäude zu finden, dass er nur aus seinen Träumen und selbst angefertigten Zeichnungen kannte. Da er eine beachtliche Summe im Lotto gewonnen hatte, konnte er sich diesen Traum leisten und er hatte ja auch Erfolg. Er lebte lange Jahre mit seiner späteren Frau Betsy in einem Teil der Kathedrale. Aber nach deren Tod fehlte ihm oft die Kraft, weiter zu sanieren, er wurde depressiv und ging nur noch selten ins Dorf." Emma seufzte, es war ihr anzumerken, dass ihr Onkel Willys Geschichte naheging. Im Dorf hielt man eben ganz anders zusammen als in der Stadt, das wurde Charlotte schlagartig klar. Nun ergriff Wolter das Wort:

    „Dein Onkel – ich darf doch du sagen? Charlotte nickte. „Er hat oft von dir erzählt. Er war untröstlich, wie stur dein Vater war, dass er jeden Kontakt ablehnte. Er hat jahrelang gehofft, dich kennenzulernen, kannte aber deine Adresse nicht. Als es ihm immer schlechter ging, bat er uns, falls du je kommen würdest, dir zu sagen, dass er möchte, dass du sein Erbe fortsetzt und dich um die Sanierung kümmerst. Geld ist leider nicht mehr viel da und es ist eine große Bitte, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein, dass du ein wenig Zeit in der Kathedrale verbringst. Charlotte atmete tief ein. Ihr Onkel schien also die gleichen Träume gehabt zu haben wie sie und auch er hatte ihre Vorfahren damit in Verbindung gebracht. Was hatte all das zu bedeuten? Nach dem dritten Stück Kirschkuchen, der wirklich vorzüglich schmeckte, verabschiedete sie sich und ging nach nachdenklich zurück.

    Matthew sah ihr nach wie sie den Weg entlanglief.

    Zuhause angekommen ging Charlotte das Wagnis ein, einen der beiden Türme zu besteigen, was nicht ganz einfach war da viele Stufen kaputt waren. Mit meinen Stöckelschuhen hätte ich dies nie geschafft, dachte sie schmunzelnd und war froh über die Sportschuhe an ihren Füßen, die ihr, wie sie plötzlich feststellte, auch besser standen. Überhaupt fühlte sich ohne ihre engen Kostüme, ihr Make-up und all den unnützen Kram viel freier und attraktiver, was sicher auch an der frischen Luft und ihren rosigen Wangen lag. Sie war einfach glücklich und das sah man ihr an.

    Oben angekommen, schaute sie voller Ehrfurcht in die Ferne und staunte über die Weite, die sie erblickte. Sie fühlte sich wie im Märchen. Als sie links Richtung Waldrand sah, erblickte sie einen jungen Mann, der lässig an einen Baum lehnte und ihr kurz zuwinkte, bevor er plötzlich verschwand. Für einen kurzen Moment dachte Charlotte, sie hätte es sich nur eingebildet und blinzelte gegen die Sonne, konnte aber niemanden entdecken. Erst jetzt bemerkte sie ihr seltsames Herzklopfen und ein vertrautes und doch unbekanntes Gefühl. Verwirrt drehte sie sich um und verließ den Turm.

    Diesmal freute sie sich auf die Nacht und ihre Träume und konnte kaum einschlafen, so erregt war sie.

    Nachdem die Menschen in die Kathedrale geflüchtet waren, schlossen sie das Tor und bezogen an den Fenstern und Öffnungen Stellung, um sich zu verteidigen. Es wurde ein langer und verlustreicher Kampf, aber am Ende siegten die Dorfbewohner und die Krieger zogen ab. Charlotte sah sich selbst aus der Kathedrale rennen, auf einen verletzten Krieger zu, der blutend am Boden lag. Und obwohl dieser Mann sie soeben noch bekämpft hatte, wusste sie doch, sie würde ihm helfen. Er sah sie schwach mit den schönsten Augen an, die sie je gesehen hatte und lächelte matt. In diesem Augenblick glaubte sie an die Liebe. Sie rief ein paar Männern zu: „Los, schnell, helft mir, ihn in mein Zimmer zu bringen, und bringt mir Wasser, Tücher und Decken!"

    Die Männer zögerten nur kurz und schon waren sie dabei zu helfen. Ein paar Frauen kochten eine stärkende Suppe, andere wuschen seine Wunden und verbanden sie.

    Nach zwei Tagen Pflege schlug der Krieger die Augen auf, lächelte Charlotte, die die ganze Zeit an seinem Bett Wache gehalten hatte, an und flüsterte: „Danke, meine schöne Retterin. Ich stehe tief in deiner Schuld."

    Charlotte schluckte und sagte: „Ich weiß nicht, warum ihr uns angegriffen habt, aber ich möchte nicht mehr sinnlos kämpfen."

    Der Mann schluckte zweimal und sagte schwach: „Ich bin übrigens Matthew und ich verspreche dir, wir werden euch nicht mehr angreifen. Mein Vater begann diesen Krieg und ich sollte nach seinem Tod seinen Kampf gewinnen, aber es wurde mir schnell klar, wie sinnlos meine Soldaten gestorben sind und wie viel Leid wir über so viele Familien gebracht haben."

    „Charlotte", stellte sie sich vor und ehe sie darüber nachdachte, beugte sie sich über ihn und küsste ihn zart auf seine Lippen. Verlegen stand sie auf und verließ eilig das Zimmer, ehe Matthew etwas erwidern konnte.

    Von nun an wurde er von anderen Frauen gepflegt und so sehr er Charlotte auch suchte, sie blieb verschwunden, er bekam einfach keine Auskunft über ihren Verbleib.

    Nach drei weiteren Tagen konnte er die Kathedrale verlassen und trat schweren Herzens seinen Heimweg an. Nur einmal blickte er sich wehmütig um und beschloss, den Leuten im Dorf einen größeren Geldbetrag zu spenden, damit sie sich bessere Werkzeuge zulegen konnten, um schneller voran zu kommen.

    Charlotte sah er nie wieder, konnte sie aber auch nicht vergessen.

    Als Charlotte am Morgen erwachte, lag sie entspannt und zufrieden im Bett und dachte über ihren Traum nach. Wusste ihr Onkel, aus seinen Träumen, von ihr und Matthew, hatte er ihr deswegen die Kathedrale vererbt und wollte, dass sie einige Zeit dort lebte? Sie bereute zum zigsten Male, nicht mit ihm geredet zu haben, doch nun war es zu spät. Während sie langsam aufstand, wurde ihr bewusst, dass sie viel mehr über das geheimnisvolle Pärchen von damals wusste als ihre Träume preisgegeben hatten. Damals konnte Charlotte ihrer Liebe nicht nachgeben, war erschrocken über die Heftigkeit ihrer Sehnsucht und rannte davon, weil ihr Ehemann gerade mal vor einem Jahr einer heimtückischen Krankheit zum Opfer gefallen war und auch wenn es nicht ihre große Liebe war, hatte sie ihn doch geachtet und respektiert und nun fühlte sie sich wie eine Verräterin.

    Langsam dämmerte es Charlotte, dass sie ihre Vergangenheit erlebte und auch wenn es ihr etwas Angst machte, so fühlte es sich doch spannend und richtig an. Sie gehörte hierher, das war deutlich zu spüren.

    Nach dem Frühstück ging sie ein Stück spazieren und machte auf der Brücke halt. Gedankenverloren schaute sie dem Wasser zu, wie es unaufhörlich weiter plätscherte und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sie war so in ihre Welt versunken, dass sie den Mann, der sich neben sie stellte, erst bemerkte, als er leicht ihre Schulter berührte. Erschrocken fuhr sie herum und war erstmal sprachlos, als sie dem Mann ihrer Träume gegenüber stand. Dieser lächelte sie nur geheimnisvoll an und flüsterte schließlich:

    „Ich habe dich so lange gesucht, du glaubst nicht, wie froh ich bin, dich endlich gefunden zu haben."

    Endlich fand auch Charlotte ihre Sprache wieder und stammelte: „Ich kenne dich aus meinen Träumen, die ich erst habe, seit ich hierhergekommen bin. Aber wie kann das sein, woher kommst du so plötzlich und wer bist du wirklich?"

    Er fand sie so verwirrt noch schöner als je zuvor und flüsterte: „Weißt du denn nicht, dass die wahre Liebe den Tod überdauert? Ich konnte dich nie vergessen und wusste, dass ich dich eines Tages finden würde. Meine Suche hat nun endlich ein Ende."

    Matthew machte auf Charlotte sofort einen derart vertrauten Eindruck und sie spürte schon jetzt das unbändige Verlangen, ihn zu berühren, zu küssen und ihn nie mehr loszulassen, dass sie liebevoll seine Hand nahm, um ihn in die Kathedrale zu führen. Sie wusste, dass dies ein Neuanfang war, bei dem sie beide eine Lösung finden würden, ihr Erbe zu retten.

    Karsten Beuchert

    Der Steinmetz

    Franz Faber tauchte aus der bodenlosen Dunkelheit auf und öffnete die Augen. Alle standen sie um ihn herum, die Menschen, mit denen er die letzten Monate zusammengearbeitet hatte: die anderen Steinmetze, die Maurer, die Zimmerleute. Dass auch der Priester und der Medikus anwesend waren, hätte ihm klar sein müssen, wenn seine Gedanken noch klar funktioniert hätten. Sogar der Bauherr schaute auf ihn herab. Den Mienen der Umstehenden und der darin geschriebenen Aussichtslosigkeit entnahm er, welche Schmerzen er wohl spüren müsste. Allein, er fühlte nichts. Nur vage Erinnerungen hatte er an die Momente vor der Dunkelheit: Hoch oben hatte er auf dem Gerüst gestanden, um etwas essenziell Wichtiges zu erledigen. Irgendetwas Bedrohliches war passiert. Und jetzt lag er unten am Boden der Dombaustelle. Etliche Meter musste er gestürzt sein, und bewegungsunfähig, wie er war, konnte er nicht ermitteln, ob er auf Grasboden oder auf Bruchsteinen aufgeschlagen war. Das Einzige, das er bewegen konnte, waren seine Augen, und allein diese Tatsache sprach Bände. Sein Blick verlor den Fokus auf die Menschen und fixierte die Schatten im Hintergrund, während seine Gedanken Monate zurückwanderten ...

    Bei weitem der Jüngste unter den Steinmetzen war er, Franz Faber, vom Naturell eher ein Künstler denn ein Handwerker und aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung vom Bauherrn persönlich eingeladen – und entsprechend misstrauisch von den älteren Kollegen beäugt. Regelmäßig ging der Baumeister durch die Reihen seiner Angestellten und hielt sich dabei nicht zurück, durch Kopfschütteln bis hin zu kritischsten Anmerkungen sein Missfallen an der in seinen Augen unzureichenden Arbeit kundzutun – um dann häufig bei ihm, Franz Faber, stehen zu bleiben und sogar wohlwollend zu verweilen, um ihm bei seinem Werke zuzuschauen. Diese Achtungsbezeugung machte ihn zwar in einer Weise unangreifbar, schloss ihn aber gleichzeitig weitgehend von der verschworenen kollegialen Gemeinschaft aus. Zunehmend fühlte Franz Faber das quälende Alleinsein, zumal er im Zuge dieser Entwicklung in der gesamten Dombauhütte als Außenseiter behandelt wurde – ein Umstand, der durch die Anerkennung seines Lohnherren nur unzureichend kompensiert wurde und der ihn in lange nächtliche einsame Wanderungen trieb. Und in immer tiefere und subtilere Versenkung in die Kunst der Arbeit, die seine Hände verrichteten.

    Waren die von ihm verfertigten Werkstücke schon zu Beginn seiner Tätigkeit herausragend gewesen, so erreichten sie im Laufe der vergehenden Wochen immer höhere Brillanz und fast Perfektion – mit der Folge, dass Franz Faber deutlich kompliziertere und wichtigere Aufgaben übertragen bekam. Vollendetes Ebenmaß kennzeichnete seine Schlusssteine der zu errichtenden Bögen und Gewölbe, und wären sie grün statt steinfarben gewesen – man hätte die floralen Verzierungen, die einige der Werkstücke benötigten, für gewachsen statt gemeißelt halten können.

    Mancher hätte sich in solcher Situation möglicherweise in Hochmut und Arroganz geflüchtet und die herrschaftliche Nähe des Bauherrn gesucht – nicht jedoch Franz Faber. Kaum noch nahm er wahr, was um ihn herum vorging, wenn seine Hände wie in automatischem Fluss jedem Stein das Höchste entlockten, das dieser zu geben bereit war – weder das achtungsvolle Stehenbleiben des Vorgesetzten schien in diesen Situationen Bedeutung zu haben, noch die zunehmend ablehnenden Mienen der Kollegen.

    Der Druck auf die Arbeiter erhöhte sich, als einige von ihnen für den Bau eines Brunnens abgezogen wurden, der kurzfristig in die Pläne der Kathedrale aufgenommen worden war. Eines Tages verweilte der Baumeister noch länger als sonst üblich bei Franz Faber, offensichtlich in Gedanken versunken. Ein paar kurze Erwägungen erlaubte sich der Steinmetz, während seine Hände routiniert weiterarbeiteten – sollte auch er zum Brunnenbau abkommandiert werden? Und das, obwohl etliche Fensterbögen auf ihre Vollendung warteten? Schließlich ging der Baumeister wie üblich ohne ein Wort weiter. Franz Faber atmete auf und setzte die Arbeit an den Scheitelsteinen fort.

    Der Bau schritt voran, doch die Miene des Baumeisters verdüsterte sich immer mehr, wenn er die Ergebnisse seiner Steinarbeiter kontrollierte – kein Wunder, denn die in seinen Augen sowieso unzureichende Qualität litt zusehends unter dem ansteigenden Druck auf die Belegschaft. Der einzige, der in weiterhin zunehmender Brillanz ein vollendetes Meisterstück nach dem anderen ablieferte, war Franz Faber.

    Wieder einmal verharrte der Baumeister bei seinem besten Arbeiter und schaute diesem bei seiner Tätigkeit zu. Diesmal handelte es sich nicht um einen besonders prominenten Stein im Plan der Kathedrale, der bearbeitet wurde, da Franz Faber auch wieder weniger kunstvolle Aufgaben übernehmen musste, damit die gesamte Arbeit geschafft würde. Kein Murren war aus seinem Mund zu vernehmen gewesen, und er bearbeitete auch die unwichtigsten Steine mit einer Sorgfalt, als würde er das Fundament des Bischofssitzes verfertigen. Und siehe – verließ ein solcher Stein die Werkbank des Franz Faber, dann war es, als würde auch diesem jene geometrische Klarheit innewohnen, die dem Bauherrn für die gesamte Kathedrale vorschwebte.

    Der Baumeister wandte sich ab und setzte an, die Reihe der Steinmetze weiter abzuschreiten. Franz Faber fuhr in seinem Werk fort – als plötzlich in seinem Augenwinkel ein Schatten in einem halbfertigen Kathedralenfenster auftauchte, der dort nicht hingehörte. Es gab viel Bewegung auf der Baustelle, ganz abgesehen von den hier arbeitenden Menschen – kopfruckelnde Tauben, hüpfende Krähen und huschende Eichhörnchen. Sie alle warfen Schatten, genau wie die Bussarde, die von Zeit zu Zeit neugierig über der Baustelle kreisten. Und doch, etwas war anders an diesem Schemen, so schnell er auch aufgetaucht und wieder verschwunden war – so ungewöhnlich, dass Franz Faber für einen winzig kleinen Moment abgelenkt wurde. Das Steinbeil traf nicht, wie es sollte, und statt die Furchen der Vorarbeiten zu glätten, schlug es eine neue Scharte in den zu bearbeitenden Stein.

    Franz Faber hielt inne. Etwas Derartiges war ihm seit seinen frühen Gesellentagen nicht passiert. Ungläubig starrte er auf den Stein vor sich, nicht in der Lage, das eben Geschehene zu fassen und einzuordnen, das ihn aus Fluss und Trance seiner perfekten Arbeit gerissen hatte. Minutenlang saß Franz Faber so, paralysiert und unfähig, sich zu rühren. Der Baumeister setzte ungerührt und ob der anderen Steinmetze kopfschüttelnd seinen Weg fort – offensichtlich hatte er den Zwischenfall nicht bemerkt.

    Etwas Hartes prallte an Franz Fabers Kopf und riss ihn aus der Erstarrung. Mit glasigen Augen blickte er sich um – und direkt ins hämisch grinsende Gesicht desjenigen seiner Kollegen, der gerade einen Kiesel nach ihm geworfen hatte und nun auffordernd auf jenen Stein deutete, der vor ihm, Franz Faber, lag und bearbeitet werden wollte. Schwer schluckend machte er sich wieder an die Arbeit, während ein kleiner Blutstropfen aus der Stelle über seiner Schläfe sickerte, an der ihn der Kiesel getroffen hatte.

    Doch so sehr er sich bemühte – die von ihm selbst geschlagene Scharte war einen Deut zu tief, als dass er sie vollständig hätte glätten können, ohne die Passgenauigkeit des Steins zu beeinträchtigen. Vorsichtig schaute er sich um, ob eine weitere Maßregelung seitens eines Kollegen drohen mochte. Doch diese waren inzwischen völlig mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Er, Franz Faber, würde entgegen seinen Prinzipien einen unvollkommenen Stein in den Bau der Kathedrale geben – oder er würde einen neuen für genau diese Stelle behauen müssen. Für die zweite Variante blieb in der aktuellen Situation keine Zeit. Und realistisch betrachtet war der Stein in jedem Fall besser als die durchschnittliche Arbeit, die seine Kollegen ablieferten. Bloß eben nicht vollkommen. Schweren Herzens und mit einem unwohlen Gefühl im Bauch legte er den Stein für die Maurer bereit. Als er ihn auf der Ablage zurechtrückte, fiel die tiefe Abendsonne auf die beschädigte Seite. Einen Moment lang glaubte Franz Faber Asch zu erkennen, die erste Rune, das Zeichen des Anfangs – ein Symbol, das er als gläubiger Christ eigentlich nicht entziffern können durfte, und dessen Kenntnis seinen melancholischen Wanderungen und vor allem seiner Neugier für die geheimnisvollen alten Relikte der Umgebung geschuldet war. Erschrocken wich er zurück, und sicherheitshalber schlug er ein Kreuz. Die Abendsonne traf seine Augen, er blinzelte, und als er wieder klar sehen konnte, zeigte der Stein lediglich die mühsam vertuschten Spuren der beigefügten Scharte. Schwer seufzend begab sich Franz Faber zurück an seine Arbeit und stellte ein paar weitere Steine fertig, bevor er müde sein Tagewerk beendete und sich in einen nicht ganz entspannten Feierabend zurückzog.

    Wider Erwarten schlief er recht gut, und am nächsten Morgen schien alles wie gewohnt. Der Kollege, der den Kiesel geworfen hatte, schien den Vorfall vergessen zu haben und widmete sich seiner Arbeit sowie den üblichen Scherzen unter den Handwerkern. Der Bauherr kam auf seinem Kontrollgang vorbei und verweilte kurz. Nur Franz Faber merkte, dass nicht alles exakt so war wie zuvor: Sein Schlag war minimal zögerlicher, das Auftreffen der Werkzeuge einen Deut ungenauer, sein Vorankommen insgesamt einen Tick langsamer – und den Ergebnissen seiner Arbeit fehlte ein kaum wahrnehmbarer Teil des Leuchtens, das sie über die letzten Wochen ausgezeichnet hatte. Nicht, dass es außer ihm selbst irgendjemand bemerkt hätte – und dennoch hinterließen diese Kleinigkeiten in ihm das zermürbende Gefühl, seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen.

    Ein paar Tage gingen ohne besondere Vorkommnisse ins Land und Franz Faber hoffte auf Rückkehr zu alter Form. Ein weiteres Mal senkte sich die Abendsonne herab, der größte Teil des aktuellen Tageswerks war vollbracht. Einer der letzten zu bearbeitenden Steine lag vor ihm. Ein Sonnenstrahl fiel in sein Auge, und reflexartig blickte er zur Seite und in das halbfertige Fenster der Kathedrale. Da! Dort war er wieder, der Schatten, der dort nicht hingehörte! Mechanisch, als könnten sie nicht aufhören, fuhren seine eigentlich genialen Hände fort, den Stein zu bearbeiten. Halb geblendet, wie er war, sah er nicht, was sie taten, doch seine Ohren verrieten ihm über den Klang ungenauer Schläge, dass es nichts Gutes sein konnte. Seine Augen erholten sich. Der Schatten war verschwunden – wenn er denn jemals wirklich existiert hatte. Zögerlich blickte Franz Faber auf den vor ihm liegenden Stein. Tiefe Kerben verunzierten die Seite, die eigentlich möglichst glatt sein sollte. Es würde eine gute Zeit an Arbeit bedeuten, dies wieder zu korrigieren. Ein weiterer Sonnenstrahl traf den Stein. Franz Faber erstarrte. Klar sah er vor sich drei Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnte, die er aber von den heidnischen Monolithen der Umgebung her kannte. Der Sonnenstrahl erlosch, und auf dem Stein verblieben nichts als verunzierende Kerben. Franz Faber wischte sich über die Augen, blinzelte und betrachtete sein Werkstück genauestens. Keine Runen. Ein weiterer Kreuzschlag, dann machte er sich seufzend an die Arbeit, die Scharten dieses Tages auszubessern – in dem Wissen, dass dies erneut nicht vollständig möglich sein würde, sodass mit Sicherheit kleine Spuren zurückbleiben mussten.

    In der folgenden Nacht begannen die unruhigen Träume, die seine nächtlichen Wanderungen thematisierten – doch fühlte Franz Faber nichts von der Friedlichkeit, die über seinen realen Nachtspaziergängen gelegen hatte. Durch dunkelste Wälder führten ihn seine Träume, vorbei an gierig schmatzenden Mooren und immer wieder durch dichtes dorniges Gestrüpp, wobei er ständig das Gefühl hatte, etwas ganz Bestimmtes zu suchen, das sich seinen Nachforschungen jedoch konsequent entzog. Schließlich brach ein neuer Tag an, und mit ungewohntem Zögern näherte Franz Faber sich seinem Arbeitsplatz. Noch reservierter als sonst erwiderte er die Morgengrüße der Kollegen. Letztlich hatte er noch nie zu unterscheiden gewusst, ob ihm ein Mensch neutral oder feindlich gegenüber stand, oder ob ihm jemand wider Erwarten doch wohlgesonnen sein mochte – was in Gesellschaft von Menschen ein generelles Gefühl der Unsicherheit hinterließ. Aktuell schien ihm seitens der Kollegen eine zunehmende persönliche Feindseligkeit entgegenzuschlagen, und Franz Faber sah sich außerstande zu unterscheiden, ob dies real war oder ob nur die aktuelle Verunsicherung seine Wahrnehmung überlagerte.

    Er nahm seinen Platz unter den Steinmetzen ein, versuchte aber gleichzeitig, so weit wie möglich von seinen Nachbarn abzurücken. Argwöhnisch schielte er zur Seite – und auch nach oben, in Sorge, ob ihm nicht erneut ein merkwürdiger Schatten erscheinen wollte. Doch nichts Ungewöhnliches regte sich.

    Wolken zogen über

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