Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35: Roman
Von Henrik Tikkanen
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Über dieses E-Book
"In echt finnlandschwedischem Geist hatte man sich in einer Festung eingeigelt und die zunehmend unappetitlichere Wirklichkeit ausgesperrt." Hier wächst der mit dem Autor identische Ich-Erzähler auf; Vater Architekt, Mutter Tochter eines Bonbonfabrikanten, Großvater Professor für Kunstgeschichte. Der Roman erzählt "eine gruselige Geschichte über vorzeitigen Tod, Unheil, Unzucht und Schnaps", wie bereits der erste Satz des Buches verspricht.
Henrik Tikkanen beweist dabei seine stilistische Prägnanz und seinen durch und durch grimmigen Witz. "Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35" ist ein Klassiker der schwedischsprachigen Literatur Finnlands, eine schonungslose Abrechnung mit der Oberschicht Helsinkis - und mit dem eigenen Leben.
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Buchvorschau
Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35 - Henrik Tikkanen
ERSTER TEIL
einer Geschichte, die lehrt, dass
wer nicht voraussehen will
und nicht zurücksehen kann
sich vorsehen sollte
DIES IST EINE GRUSELIGE GESCHICHTE über vorzeitigen Tod, Unheil, Unzucht und Schnaps. Sie handelt vom Unglück einer Familie und vom Kampf gegen das Unglück, der den Sinn und die Unmöglichkeit des Lebens darstellt.
In Finnland ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind. Ich beginne die Geschichte in meinem Blickfeld, doch wo ihr Anfang liegt, weiß ich nicht. Genauso wenig wie ich weiß, wie er aussieht. Selbstredend klage ich die Falschen an, ich verzerre und verdrehe alles. Ich winde mich wie ein Wurm, der vom Haken freikommen will.
Am besten wäre es, alles auf das Schicksal zu schieben, das mich in einem unmöglichen Land zur Welt kommen ließ, in dem knapp über drei Millionen Menschen leben, die eine Sprache sprechen, die kein anderer Mensch auf der Welt begreift. Damit nicht genug. In diesem Land sprechen meine Eltern eine andere Sprache, die lediglich ein Zehntel der Bevölkerung versteht. Die Ausdrucksweise meiner Eltern ist darüber hinaus von einer Art, die lediglich ein Hundertstel dieses Zehntels kapiert. Um den Rest des Volkes scheren sie sich ohnehin einen Dreck. Andererseits sind sie großzügig genug, das gesamte russische Volk zu hassen, das ihr nächster Nachbar ist. Selbstverständlich haben sie niemals versucht, Russisch zu lernen, sodass sie nicht ein Wort von dem verstehen, was zweihundert Millionen Menschen sagen und denken, und darauf sind sie stolz.
In diesem Land erblickte ich das Licht der Welt sechs Jahre nach einem glorreichen Krieg, in dem die eine Hälfte des Volkes die andere besiegt hatte. Die Sieger stopften den Besiegten das Maul, und daraufhin war die besiegte Hälfte für zwanzig Jahre stumm. Wer auch nur den bescheidensten intellektuellen Anspruch an das Leben stellte, verzichtete gern darauf, in dieses Kommunikationsvakuum hineingeboren zu werden. Meine Eltern aber waren vor meiner Geburt schon genauso verantwortungslos wie danach. Nachdem sie sich bei meiner Großmutter durch ein barbarisches Weihnachtsessen mit elf Hauptgerichten gefressen hatten, zeugten sie mich ohne einen einzigen Gedanken, wozu sie mich überhaupt haben wollten. Der beste Beweis dafür ist, dass sie ein deutsches Kindermädchen für mich einstellten, welches mir als erste Sprache Deutsch beibrachte.
Ich hatte drei ältere Brüder. Keiner von ihnen sprach Deutsch. Mein Vater hatte in Dresden studiert und konnte Deutsch, hatte mir aber außergewöhnlich wenig zu sagen. Meine Mutter sprach ein ganz leidliches Schuldeutsch, doch war sie selten zu Hause. Mein Vater mochte es nicht, wie das Kindermädchen das R in Fenster verschluckte, wie man es in Berlin tut. Er fand, sein Sohn würde vulgär reden, und darum begann er, mich ironisch auf Französisch Beau zu nennen.
Meine Brüder, die weder Deutsch noch Französisch konnten, machten aus Beau Bobo, und mit diesem Namen, der am besten zu einem Schimpansen passt, wurde ich unter Menschen ausgesetzt, von denen die meisten ein B als P aussprechen. Aus Popo machten sie dann noch Pupu, weil Pupu auf Finnisch Hase bedeutet. Es ist aber nicht leicht, ein Hase unter Menschen zu sein, die sich selbst für Gottes auserwählte Helden halten.
In Finnland also bin ich zur Welt gekommen. Finnland, das einmal Teil des Schwedischen Reiches war, dann Teil des Russischen Reiches und schließlich ein unabhängiger Staat wurde, der versuchte, einen Teil des Russischen Reiches zu erobern, damit aber scheiterte, woraufhin ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung ins Schwedische Reich abwanderte. Die, die zurückblieben, versuchten, sich danach durch Friedensliebe auszuzeichnen, und taten unter der Führung eines glatzköpfigen Präsidenten ihr Bestes, um eine Brücke zwischen Ost und West zu schlagen.
Mein Vater hatte auch eine Glatze, und darum hegte ich tiefes Vertrauen zu diesem Präsidenten. Der Präsident war allerdings ein Mann aus dem Volk, er war in einer Blockhütte zur Welt gekommen und konnte sich selbstverständlich nicht mit meinem Vater messen, obwohl auch er auf seine alten Tage dicke Zigarren zu rauchen begann. Er war der siebte Präsident des Landes, und es galt längst nicht mehr als etwas besonders Erlesenes, Präsident zu sein. In Finnland ist es nämlich Brauch, dass immer nur der Erste groß ist und dass der niemals von einem Nachfolger übertroffen werden kann, wie tüchtig der auch sein mag. Darum ist Finnlands erster Präsident, Ståhlberg, der bedeutendste aller Präsidenten und Finnlands erster großer Dichter, Runeberg, größer als alle anderen Dichter und Finnlands erster großer Läufer, Paavo Nurmi, größer als alle anderen Läufer und Finnlands erster großer Komponist, Sibelius, größer als alle anderen Komponisten und Finnlands erster großer Feldmarschall, Mannerheim, größer als alle anderen Generäle, die jemals einen bengalischen Tiger erschossen haben. Der glatzköpfige Präsident kompensierte den Makel, nicht der Erste gewesen zu sein, indem er sein hohes Amt länger als jeder andere bekleidete. Genau wie Mannerheim lernte er von den Russen, wie man Finnen behandelt, und keiner wagte, ihn abzusetzen oder ihn gegen einen anderen auszutauschen, solange es ihm behagte, Präsident zu bleiben. Die Folge war, dass das Land unter ihm einen ungeahnten Wohlstand erlebte, den viele nicht aushalten konnten, und so rekrutierten sich Scharen obdachloser Alkoholiker und radikaler Revolutionäre auch aus den besten Kreisen. Da kein Feind von außen drohte, musste man sich einen in der Nähe suchen, und Intoleranz und Unduldsamkeit wucherten besonders im Kulturbereich.
Meine Brüder und ich genossen den Vorzug, unsere besten Jahre in diesen stabilen Zeiten zu erleben. Abgesehen von meinem ältesten Bruder natürlich, dessen Leben im Alter von einundzwanzig Jahren im Krieg durch eine Pistolenkugel beendet wurde. Man sollte meinen, wir hätten alle Voraussetzungen gehabt, um glücklich zu werden, aber es ist möglich, dass uns die Fähigkeit zum Glücklichsein abging oder dass wir glücklich waren, ohne es zu merken. Wir standen unter dem Fluch der Familie.
Wann dieser Fluch entstand oder ob es ihn überhaupt gab, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich weiß, dass mein Urgroßvater väterlicherseits sehr intelligent und erfolgreich war und trotzdem in tiefem Unglück endete. Er hatte das bemerkenswerte Talent, gleichzeitig Erfolg zu haben und zu scheitern.
Er wurde auf einem großen Bauernhof oben im nördlichen Savolax geboren, und nachdem er mit der Schule fertig war, bestieg er einen Kahn und ruderte nach Idensalmi, von dort reiste er weiter in die Hauptstadt des Großfürstentums. Nach erhaltenen Fotografien zu urteilen, war er kein besonders stattlicher Mann, er war klein und untersetzt und hatte ein rundes Gesicht mit kleinen Äuglein. Aber Fotos sagen ja nicht alles, und er besaß offenbar noch so einiges andere, denn es gelang ihm etwas sehr Ungewöhnliches: Er heiratete ein Mädchen aus der schwedischen Oberschicht. Ihr Großvater war der Erzbischof, der erste des Landes obendrein, also der einzige, der zählt und den man niemals vergessen wird.
Sie schenkte ihm zwei Kinder und starb danach an Schwindsucht.
Er studierte bis zum Doktor der Philosophie und engagierte sich im Kampf für die finnische Sprache, denn die Lage im Land unter russischer Oberhoheit war so verquer, dass man es zu gar nichts brachte, wenn man kein Schwedisch sprach und seinen Namen nicht schwedisierte. Er tat das nicht; stattdessen gründete er die erste finnische Tageszeitung und verlegte Bücher auf Finnisch, die er in seiner eigenen Druckerei herstellen ließ. Das war eine fantastische Pionierleistung, und er machte sich viele Feinde unter denen, die für dieselbe Sache kämpften.
Sein Haus brannte ab, das Schiff, das Maschinen für seine Druckerei geladen hatte, sank, und als man ihn auch noch beschuldigte, auf Kosten der unwissenden Finnen ein Vermögen zu machen, verzichtete er auf Zeitung und Druckerei und ging ins Irrenhaus, wo er als sehr unglücklicher Mensch gestorben ist. Die Leute gedenken seiner heute noch als des Mannes, der die erste finnischsprachige Tageszeitung gegründet hat, und das ist viel mehr, als der Inhaber eines ganzen Zeitungskonzerns zu sein. Er hat es geschafft, der Erste zu sein, und das wurde sein Unglück.
Mein Großvater war ein glücklicher Mann. Das bezeugen alle, die ihn gekannt haben, einstimmig. Es glückte ihm alles, was er anpackte. Von allem, was hätte schiefgehen können, ließ er die Finger. Es heißt, er hätte der größte Maler unseres Landes werden können, aber er glaubte nicht daran. Er erklärte, er wolle die Masse der mittelmäßigen Maler nicht um einen weiteren vergrößern, und wurde stattdessen Professor für Kunstgeschichte. Natürlich der erste im Land, der einzige, der zählt und nie vergessen wird.
Mit über siebzig wurde er von einem Auto überfahren und damit das erste Verkehrsopfer im Villenvorort Brändö, in dem er wohnte. Es war natürlich ein Unfall, und kaum ein geerbter Familienfluch. Schon eher gehörte dieser Unfall in die Kategorie bahnbrechende Ereignisse oder zu der Fähigkeit, immer als Erster zur Stelle zu sein, die auch zu einem der Familienverhängnisse geworden ist.
Sein Schwiegervater war Oberst und Meisterschütze der russischen Armee. Diese herausragende Eigenschaft könnte einen Teil des Glücks meines Großvaters überschattet haben.
Der Oberst verspürte eine unwiderstehliche Lust zu brillieren, und es reichte ihm nicht, ein besserer Schütze als sonst ein Soldat im riesigen russischen Reich zu sein. Er wollte der Beste auf der ganzen Welt sein, und in Ermangelung lebender Konkurrenten nahm er den Wettstreit mit Toten, ja, sogar mit Scharfschützen auf, die es nie gegeben hat. Er nahm sich vor, Wilhelm Tell zu übertreffen.
Er zwang seine schwangere Ehefrau (von dem armen Ding weiß ich ansonsten nichts), eine kreisrunde Bleischeibe, nur halb so groß wie eine Untertasse, in ihrer ausgestreckten linken Hand hochzuhalten, und dann durchschoss er die Platte aus einer Entfernung von fünfzig Metern. Die Kugel durchschlug die Bleiplatte fast exakt in der Mitte, und der Oberst ließ sie hinter Glas rahmen. Noch im Heim meiner Kindheit hing sie an der Wand.
Meine Großmutter kam einige Monate danach ohne linken Arm zur Welt, und dieses eigenartige Zusammentreffen löste einige Spekulationen aus, die den Obersten nicht kümmerten; er sagte, er sei jederzeit bereit, für einen solchen Meisterschuss seine rechte Hand zu opfern. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass Großmutter und Großvater lieber Großmutters Arm als die Bleiplatte bewahrt hätten, doch andererseits ist es auch denkbar, dass Großvater mit seinem finnischen Namen nie ein so vornehmes schwedisches Mädchen hätte heiraten können, wenn sie nicht diesen unbedeutenden Schönheitsfehler aufgewiesen hätte. Im Übrigen war Großmutter so schön, dass der Arm Großvater nicht viel bedeutete, schließlich hatte er gelernt, die Skulpturen der Antike zu lieben, die weder Arme noch Beine haben.
Großmutter aber muss sich anders gefühlt haben, im Lauf der Jahre isolierte sie sich immer mehr, und ihr Charakter nahm gewisse leicht bizarre Züge an, die vielleicht das eheliche Glück nicht störten, für die Entwicklung ihres einzigen Sohnes aber erhebliche Folgen nach sich zogen. Sie stellte sich völlig überbeschützend an und bat und bettelte, er möge sich nicht unnötig in die Stadt begeben, wo er von herabfallenden Ziegelsteinen erschlagen werden könnte. Aus reinem Trotz schlug er den Weg ein, auf dem es Ziegelsteine am dichtesten hagelt: Er wurde Architekt.
Anschließend jammerte er den Rest seines Lebens darüber, dass er nicht hatte werden dürfen, was er am liebsten geworden wäre: Opernsänger. Aber das war wohl nicht fein genug, sagte er. Er war also vornehm geworden, viel feiner als der Bauernlümmel, der nach Idensalmi gerudert war, und es ist ja