Bedingungsfaktoren für die Teilnahme an nachholender Alphabetisierung: Eine Rekonstruktion von Gelingens- und Misslingensfaktoren aus der Perspektive funktionaler AnalphabetInnen
Von Susanne Ulm
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Über dieses E-Book
Susanne Ulm
Dr. phil. Susanne Ulm, Jg. 1981, studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim. Von 2010 bis 2014 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Kaiserslautern. Seit 2014 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, am Institut für Pädagogik im Bereich Forschung und Entwicklung in Organisationen beschäftigt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Organisationspädagogik, Qualitätsmanagement und -entwicklung, Evaluation sowie Professionalität und Professionalisierung.
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Buchvorschau
Bedingungsfaktoren für die Teilnahme an nachholender Alphabetisierung - Susanne Ulm
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
Im Zeitalter der Wissensgesellschaften, welches nicht nur einen sich ständig beschleunigenden Wandel an Technologien und Informationen mit sich bringt, sondern auch parallel dazu steigende Bildungs- und Ausbildungsniveaus sowie in der Folge wachsende soziale und berufliche Ansprüche an die Gesellschaftsmitglieder, ist die Bereitschaft zum Lebenslangen Lernen zu einer unabdingbaren Notwendigkeit geworden. So müssen immer mehr Wissen und Kompetenzen in immer kürzeren Abständen angeeignet und adäquat angewendet werden, andernfalls drohen beruflicher Abstieg und im schlimmsten Fall soziale Exklusion. Die Bedeutsamkeit von Lernen im Lebenslauf wurde bereits im Jahr 2008 im Innovationskreis Weiterbildung des BMBF thematisiert:
„Die Globalisierung und die Wissensgesellschaft stellen die Menschen vor große Herausforderungen, die durch den demographischen Wandel noch erheblich verstärkt werden: Wissen sowie die Fähigkeit, das erworbene Wissen anzuwenden, müssen durch Lernen im Lebenslauf ständig angepasst und erweitert werden. Nur so können persönliche Orientierung, gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit erhalten und verbessert werden."¹
Diese wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen stellen vor allem bildungsferne Gruppen vor kaum lösbare Probleme – insbesondere jene, die Schwierigkeiten im Bereich der grundlegenden Kulturtechniken wie dem Lesen und Schreiben oder auch dem Rechnen haben, sind davon betroffen. Damit steht das Individuum
„im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Anforderungen (Bildung, Qualifikation, Verwertbarkeit im Berufssystem) und den subjektiven Aneignungs- und Lernprozessen in der es umgebenden Lebenswelt"².
Eine unzureichende Grundbildung, welche die gesellschaftliche Teilhabe bedrohen oder zumindest einschränken kann, wurde von den modernen Industrienationen aufgrund der Einführung der allgemeinen Schulpflicht lange Zeit ausschließlich als ein Problem der Entwicklungsländer betrachtet. In Deutschland begann die zunehmende Beschäftigung mit dieser Thematik erst in den späten 1970er Jahren, als sich vermehrt MuttersprachlerInnen zu Lese- und Rechtschreibkursen anmeldeten, welche von verschiedenen Erwachsenenbildungseinrichtungen insbesondere für MigrantInnen angeboten wurden. Nach einer Welle von Forschungsarbeiten, überwiegend aus dem Kreis engagierter PraktikerInnen, geriet das Analphabetismus-Phänomen jedoch zunehmend in Vergessenheit und rückte erst wieder mit der Ausrufung der UNESCO Weltalphabetisierungsdekade im Jahr 2000 verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Neuere Untersuchungen zum Thema Analphabetismus, wie z.B. die Leo.-Level One Studie³, konnten aufzeigen, dass in Deutschland trotz allgemeiner Schulpflicht schätzungsweise 7,5 Millionen Menschen zu den sogenannten „funktionalen AnalphabetInnen"⁴ zählen, ein Anteil von über 14% an der erwerbsfähigen Bevölkerung. Die Betroffenen sind besonders stark von sozialem Ausschluss, Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Tatsächlich verlassen in Deutschland pro Jahr immer noch durchschnittlich 80.000 SchülerInnen ohne Abschluss die Schule – nicht wenige mit gravierenden Schwächen im schriftsprachlichen Bereich. Diejenigen von ihnen, die überhaupt die Chance einer beruflichen Ausbildung erhalten, stehen vor der kaum bewältigbaren Herausforderung, diese auch erfolgreich abschließen zu können. Zudem bleibt ihnen zumeist ebenso im weiteren Lebensverlauf der Zutritt zu vielfältigen (Fort)Bildungsmöglichkeiten verwehrt. Ihre schlechten Zukunftsaussichten geben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation weiter. Um diesen Betroffenen eine aktive soziale und berufliche Teilhabe zu ermöglichen, ist die Bereitstellung von vielfältigen Möglichkeiten einer nachholenden Alphabetisierung unerlässlich. Die Erwachsenenbildungslandschaft in Deutschland versucht dies in den letzten Jahren verstärkt durch den Ausbau zielgruppengerechter Grundbildungsangebote und die Professionalisierung des erwachsenenpädagogischen Personals zu ermöglichen. Doch trotz der beschriebenen Problematik bei den Betroffenen und der verbesserten erwachsenenpädagogischen Angebotslage ist die Nachfrage nach Grundbildungsangeboten noch immer recht gering. So zeigt sich z.B. in der VHS-Statistik aus dem Arbeitsjahr 2011 lediglich eine deutschlandweite Belegungszahl von weniger als 30.000 Teilnehmenden im Bereich Alphabetisierung/Elementarbildung – gegenüber ca. 7,5 Mio. geschätzter funktionaler AnalphabetInnen eine verschwindend geringe Zahl.⁵ Welche Faktoren das nachholende Lernen dieser Zielgruppe letztendlich entscheidend beeinflussen, liegt bislang noch weitgehend im Dunkeln. Die Alphabetisierungsforschung widmete sich bisher kaum den Bedingungen und Einflussfaktoren von Lernprozessen funktionaler AnalphabetInnen. Eine Vernachlässigung der Lernforschung ist jedoch ebenso in der Erwachsenenbildung allgemein zu beobachten. Auch dort lassen sich bisher nur wenige Arbeiten zum Lernen Erwachsener finden.
1.2 Fragestellung und Zielsetzung
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Problemstellung widmet sich diese Arbeit der wissenschaftlichen Ergründung von Einflussfaktoren für die Aufnahme und Weiterführung nachholender Lernprozesse bei der Gruppe der funktionalen AnalphabetInnen. Die zentralen Ziele sind (1) einen Beitrag zur Theoriebildung auf dem Gebiet der Lernforschung sowie der Alphabetisierungsforschung zu leisten und (2) aus den Untersuchungsergebnissen Handlungsempfehlungen für die Alphabetisierungspraxis abzuleiten.
Rückgebunden an die biographieorientierte Theorie des transitorischen Lernens nach Alheit und den systemisch-konstruktivistischen Ansatz des Emotionslernens nach Arnold soll daher der Versuch unternommen werden, Einflussfaktoren auf individuelle Lernprozesse aus der Perspektive des Lernsubjekts zu rekonstruieren. Dazu sollen Prozesse und Bedingungen beleuchtet werden, die für die Aufnahme von nachholender Alphabetisierung von Bedeutung sein können, wie z.B. biographische Erfahrungen oder aktuelle Lebenslagen Betroffener. Zudem sollen beeinflussende Faktoren identifiziert werden, welche für das Gelingen bzw. die Aufrechterhaltung von nachholender Alphabetisierung förderlich sind. Zu dieser Frage soll in Bezug auf die Theorie des Emotionslernens nach Arnold ermittelt werden, ob und inwiefern vor bzw. innerhalb von Nachlernprozessen individuelle Reflexions- und Transformationsprozesse in Bezug auf Deutungs- und Emotionsmuster stattfinden. Auch geht es um lernbegünstigende und lernhinderliche Einflussfaktoren innerhalb der Lebenswelt der Betroffenen sowie im Alphabetisierungskurs als Nachlernkontext.
Besonders für die Praxis der Alphabetisierung und Grundbildung muss unbedingt eingehender erforscht werden, wie Betroffene bei der Aufnahme von nachholenden Lernprozessen unterstützt und positive Lernerlebnisse ermöglicht werden können, um eine nachhaltige Entwicklung in Richtung Lebenslanges Lernen sicherzustellen.
Letztlich soll durch diese Arbeit die Gesellschaft für das Phänomen Analphabetismus stärker sensibilisiert werden und eine größere Toleranz und Akzeptanz sowie mehr Entgegenkommen gegenüber den Betroffenen erreicht werden.
1.3 Aufbau der Arbeit
Nachdem in diesem Kapitel ein erster Einstieg in die Thematik gegeben werden sollte, werden im nachfolgenden Kapitel grundlegende lerntheoretische Zugänge der Erwachsenenpädagogik vorgestellt und für die Untersuchung überprüfbar gemacht. Als besonders fruchtbar erweisen sich hierbei zwei Theorierichtungen: biographie- und lebensweltorientierte Konzepte, welche Lernprozesse in Abhängigkeit von biographischen Erfahrungen und Lebenslagen betrachten sowie systemisch-konstruktivistische und subjektwissenschaftliche Lerntheorien, die nachhaltiges Lernen als einen subjektgesteuerten, reflexiven und transformativen Prozess definieren. Für die vorliegende Untersuchung soll insbesondere Bezug zu den Theorien des transitorischen Lernens nach Alheit und des Emotionslernen nach Arnold hergestellt werden.
Zur weiteren theoretischen Fundierung der vorliegenden Arbeit sowie zur Erhaltung der Anschlussfähigkeit der Untersuchungsergebnisse soll im dritten Kapitel der Forschungsstand der Alphabetisierung und Grundbildung insbesondere in Bezug auf das Lernen funktionaler AnalphabetInnen dargestellt werden, nachdem zuvor die wichtigsten theoretischen Begrifflichkeiten sowie die geschichtliche Entwicklung der Alphabetisierungsforschung in Deutschland näher beleuchtet wurden. Es zeigt sich, dass bislang nur wenige differenzierte Befunde zu den Lernprozessen funktionaler AnalphabetInnen vorliegen. Zwar lässt sich ein fruchtbarer Erkenntnisfortschritt innerhalb der Teilnehmendenforschung verzeichnen, welche die Aufschichtung negativer biographischer Erfahrungen in den Sozialisationsfeldern Familie und Schule als Verursachungsfaktoren von funktionalem Analphabetismus identifizierte, jedoch gibt es bis zum jetzigen Zeitpunkt nur wenige lerntheoretische Studien sowohl auf dem Gebiet der Alphabetisierungsforschung als auch innerhalb der Erwachsenenbildungsforschung allgemein. Erste Untersuchungen zu diesem Thema stellten spezifische Teihabeorientierungen der Betroffenen als bedeutsam für die Aufnahme von Lernprozessen heraus.
Im vierten Kapitel wird die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden problemzentrierte Leitfadeninterviews mit 22 Alphabetisierungskursteilnehmenden geführt und nach dem Verfah-Verfahren der Grounded Theory nach Strauss und Corbin⁶ ausgewertet. Es zeigt sich, dass die Aufnahme und Aufrechterhaltung von Nachlernprozessen bei funktionalen AnalphabetInnen von vielfältigen biographischen, aber auch innerpsychischen Faktoren und Prozessen beeinflusst ist. So erweisen sich insbesondere „emotionale Einspurungen" als besonders handlungseinschränkend und damit auch als lernhinderlich. Als lernförderlich sind dagegen reflexive und transformative Prozesse im Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen anzusehen. Auch aktuelle lebensweltliche Bedingungen, z.B. das Vorhandensein spezifischer Belastungsfaktoren oder die Unterstützung durch Vertrauenspersonen, wirken sich auf eine Wiederaufnahme und Weiterführung nachholender Alphabetisierung aus. Innerhalb von Alphabetisierungskursen sind für die Teilnehmenden vor allem vertrauensvolle Beziehungen innerhalb Lerngruppe und zu den Lehrenden bedeutsam.
Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse vor dem Hintergrund der theoretischen Basis interpretiert und kritisch diskutiert. Außerdem sollen die Stärken und Schwächen der vorliegenden Arbeit erörtert werden. Zuletzt werden Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung herausgestellt und Handlungsempfehlungen für die Alphabetisierungspraxis gegeben.
¹ BMBF (2008), S. 7.
² Mikula (2009), S. 3.
³ Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke (2011): leo. – Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Presseheft. URL: http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf (Stand: 07.06.2015).
⁴ Ein funktionaler Analphabet bzw. Analphabetin ist eine Person, die „zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch, zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Betroffene Personen sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben. So misslingt etwa auch bei einfachen Beschäftigungen das Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen" (Grotlüschen/Riekmann 2011, S. 2).
⁵ Huntemann, Hella/Reichart, Elisabeth (2012): Volkshochschul-Statistik. 50. Folge, Arbeitsjahr 2011, S. 30. URL: www.die-bonn.de/doks/2012-volkshochschule-statistik-01.pdf (Stand: 07.06.2015).
⁶ Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim.
2 Lerntheoretische Konzepte der Erwachsenenbildung
Die Praxis der Erwachsenenbildung ist seit ihren Anfängen darum bemüht, Erwachsene in ihrem Lernprozess bestmöglich zu unterstützen. Entsprechend sollte auch die empirische Erforschung des Lernens Erwachsener das „Herzstück einer Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung"⁷ sein. Tatsächlich spielt dieses Forschungsgebiet jedoch bislang noch immer eine eher untergeordnete Rolle. Dies kann nach Ludwig und Müller vier Bedingungen zugeschrieben werden⁸: Zum einen ist der „Planungsgedanke innerhalb der Didaktik der Erwachsenenbildung vorherrschend, daher werden bislang überwiegend Untersuchungen zur Lehr- und Teilnehmendenforschung durchgeführt. Zum anderen gelten Lernprozesse in einigen theoretischen Ansätzen (z.B. im Konstruktivismus) als nicht direkt, sondern nur indirekt „über die Inputleistungen der Pädagogen und die Outputleistungen der Lernenden
⁹ beobachtbar, was deren Betrachtung demzufolge unmöglich machen würde. Desweiteren ist die Lernforschung noch immer durch die pädagogische Psychologie und in den letzten Jahren auch verstärkt durch die Neurowissenschaft geprägt, wodurch eigenständige erwachsenenpädagogische Lerntheorien eher an den Rand gedrängt werden. Das erwachsenendidaktische Erkenntnisinteresse versucht außerdem nicht nur durch äußere Faktoren beeinflusste Lernprozesse zu erklären, sondern fragt auch nach ihrer Gestaltbarkeit. Aufgrund der genannten Faktoren besteht noch immer eine breite Kluft zwischen erwachsenenpädagogischer Praxis und wissenschaftlich rückgebundener Lernforschung.¹⁰
Diese Arbeit schließt sich an biographieorientierte und reflexive Lernkonzepte an, die Lernprozesse aus dem Blickwinkel der Lernenden heraus betrachten. Zur Begründung der theoretischen Fundierung soll im Folgenden zunächst ein kritischer Überblick über die traditionellen Theorien und Konzepte der Lernforschung gegeben werden, welche auch die Erwachsenenpädagogik maßgeblich beeinflusst haben. Daran anschließend sollen die in der Erwachsenenbildung sowie speziell in der Erwachsenenalphabetisierung etablierten Ansätze zum Lernen Erwachsener beschrieben werden. Die dargestellten Konzepte bilden die theoretische Grundlage dieser Arbeit und erweisen sich als fruchtbare Ansätze zur Identifizierung der inneren und äußeren Einflussfaktoren auf nachholende Alphabetisierungsprozesse.
2.1 Klassische Lerntheorien in der Kritik
Auf dem Gebiet der Lernforschung gelten der Behaviorismus und der Kognitivismus als die traditionsreichsten theoretischen Konzepte innerhalb der Psychologie sowie angrenzender wissenschaftlicher Disziplinen. Der Behaviorismus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein neues psychologisches Paradigma entwickelt, beherrschte beinahe ein halbes Jahrhundert den wissenschaftlichen Diskurs und war Grundlage für zahlreiche weiterführende kognitions- und lerntheoretische Forschungsarbeiten. In dieser klassischen Lerntheorie wird die Psychologie als exakte Naturwissenschaft verstanden, deren zentrale Ziele die Erklärung beobachtbaren Verhaltens („behavior") und die Untersuchung der Bedingungen von Verhaltensänderungen und deren Kontrolle darstellen.¹¹ Das „Reiz-Reaktions-Modell von Thorndike stellt dabei zusammen mit Pawlows Experimenten zur „Klassischen Konditionierung
das Fundament für die von John B. Watson begründete Lerntheorie dar und erreichte besondere Bekanntheit durch die Arbeiten zur „operanten Konditionierung" von B.F. Skinner.¹² Allen Ansätzen gemeinsam ist die Beobachtung, dass Lernprozesse durch eine Reiz-Reaktions-Kette angestoßen werden, wobei auf bestimmte, von außen gesetzte Reize bestimmte Reaktionen des Rezipienten folgen.
So konnte Iwan P. Pawlow in seinem Ansatz zur „klassischen Konditionierung" nachweisen, dass Lernen insbesondere durch ein zeitlich unmittelbares Aufeinandertreffen verschiedener Reize¹³ ausgelöst werden kann: Wird wiederholt ein zunächst neutraler, für das Individuum unbedeutender Reiz (z.B. ein Glockenton) kurz vor oder nach einem unbedingten, d.h. angeborenen und damit nicht erfahrungsbedingten Reflex (z.B. der Speichelfluss des Hundes beim Anblick von Futter) gesetzt, kann auch der ursprünglich neutrale Reiz diese Reaktion auslösen – der Reiz wurde somit „konditioniert".
Edward L. Thorndike machte in seinen Experimenten zur „instrumentellen Konditionierung die Entdeckung, dass sich Lernen durch ein „trial-and-error
-Prinzip bzw. „Ausprobieren in einem immer gleichen Schema wiederholt: ein Stimulus, d.h. ein äußerer Reiz wie z.B. schwer erreichbares Futter, wirkt auf den Organismus ein, welcher daraufhin in einer bestimmten Art und Weise reagiert, z.B. in dem Versuch, das Futter zu erreichen. Wird in der Folge auf den gleichen Reiz immer die gleiche Reaktion („Response
) gezeigt, ist eine Verknüpfung zwischen Reiz und Reaktion geschaffen worden – nach Thorndike eine „Stimulus-Response (S-R)-Association. Diese Verknüpfung kommt allerdings nur zustande, wenn sie durch eine für den Organismus befriedigende Nachwirkung (z.B. Futter) verstärkt („reinforcement
) wird.
Als einflussreichster und bekanntester Vertreter des Behaviorismus kann B.F. Skinner mit seinem Konzept zur „operanten Konditionierung" genannt werden.¹⁴ Er war, entgegen der anderen Vertreter der behavioristischen Lerntheorie der Ansicht, dass der Mensch nicht erst durch äußere Reize aktiv wird, sondern prinzipiell aktivitätsbereit ist. In seinen Experimenten machte er die Beobachtung, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von erwünschtem Verhalten durch Verstärkung (Belohnung) oder Nichtverstärkung (Ignorieren) erhöht und gleichzeitig nicht erwünschtes Verhalten „gelöscht werden könne. Dieses Konzept des „Lernens am Erfolg
oder „Lernen durch Belohnung bzw. Bestrafung" hatte großen Einfluss auf die Erziehungs- und Unterrichtspraxis der damaligen Zeit.
Bei einer kritischen Betrachtung dieser verhaltenstheoretischen Ansätze fällt auf, dass diese insgesamt auf einem eher schlichten, mechanistischen Menschenbild beharren, das von der Formbarkeit und Passivität der Individuen ausgeht. Die in den Anfängen des Behaviorismus recht extreme Sichtweise, dass das Individuum eine „black box" sei, die lediglich auf von außen kommende Reize reagiert, wird von den heutigen Anhängern der Theorie zwar nicht mehr vertreten, jedoch wird den von außen kommenden Stimuli in Form von Belohnung oder Bestrafung eine tragende Funktion zugeschrieben. Damit steht der Lehrende in diesem Konzept im Vordergrund, indem er Anreize setzt und Feedback gibt. Weiterführende Untersuchungen zur behavioristischen Lerntheorie konnten jedoch zeigen, dass das gewünschte bzw. gelernte Verhalten nicht immer automatisch (z.B. in Anwesenheit einer Lehrkraft) und nachhaltig eintritt. Letztlich können zwar einfache Lernvorgänge mit dieser Theorie recht gut erklärt werden, jedoch sind ihre Grenzen bei komplexeren Lernprozessen schnell erreicht. Kritik wurde beispielsweise auch von Robert Gagné geäußert, der das Reiz-Reaktions-Lernen als nur eine von vielen Lernarten bezeichnete.¹⁵ Er unterschied insgesamt acht Lernarten: das Signal-Lernen, Reiz-Reaktions-Lernen, Lernen motorischer Ketten, Lernen sprachlicher Ketten, Lernen von Unterscheidungen, Begriffsbildung, Regel-Lernen und Problemlösen.
Die anfängliche Vorherrschaft des Behaviorismus wurde durch die „kognitive Wende"¹⁶ in der Mitte des letzten Jahrhunderts beendet. Im Gegensatz zu behavioristischen Lerntheorien wird menschliches Erleben und Verhalten im Kognitivismus nicht durch äußere Reize erklärt, sondern primär über innere, kognitive Prozesse. Als determinierend für Lern- und Handlungsprozesse werden dabei
„(…) nicht mehr allein das Verhältnis von Außenreiz zur Reaktion angesehen, sondern zusätzlich wurden interne Steuerungsmechanismen wie Selbstreflexion, selektive Wahrnehmung, kognitive Strategien, Ideen und Wünsche hinzugenommen"¹⁷.
Die kognitive Perspektive geht davon aus, dass der Mensch zielgerichtet handelt und somit der Zweck im Vordergrund der Handlung steht. Damit wird dem Lernenden erstmals eine aktive Rolle im Lernprozess zugesprochen. Außerdem wird im Kognitivismus nicht nur die Aneignung von Neuem („Assimilation), sondern auch die Anwendung, Restrukturierung und Weiterentwicklung bereits vorhandener kognitiver Strukturen („Akkommodation
) beschrieben.¹⁸
Als bekanntester Vertreter der kognitivistischen Lerntheorie gilt Leon Festinger mit seinem Konzept der „kognitiven Dissonanz".¹⁹ Der zentrale Ausgangspunkt der Theorie ist das grundsätzliche Streben des Menschen nach Harmonie, Konsistenz und Kongruenz in der kognitiven Repräsentation seiner Umwelt und der eigenen Person. Die Unvereinbarkeit zwischen einer aktuellen und einer vergangenen Erfahrung würde dagegen eine kognitive Dissonanz erzeugen, d.h. einen unangenehmen Gefühlszustand, der sich aversiv auswirkt. Das Individuum sei daher motiviert, einen Zustand ohne Dissonanz zu erreichen. Dazu müssten jedoch die entsprechenden Kognitionen miteinander vereinbar gemacht werden, indem entweder Einstellungen (z.B. Überzeugungen, Werte etc.) oder Verhaltensweisen geändert werden, wobei ersteres leichter zu verändern sei als letzteres. Eine dauerhafte Veränderung von Einstellungen und/oder Verhalten kann vor allem durch die Überwindung einer besonders starken Dissonanz, welche eine Bedrohung für das eigene Selbstkonzept darstellen kann, hervorgerufen werden.
Eine weitere einflussreiche kognitivistische Theorie ist die sozial-kognitive Lerntheorie²⁰ nach Albert Bandura. Diese hatte ihre Wurzeln zwar im Behaviorismus, sie entwickelte sich jedoch schnell in Richtung der kognitivistischen Theorieansätze. Bandura ging davon aus, dass Menschen nicht nur aufgrund von Verhaltensanreizen, sondern auch durch Beobachtung und Imitation lernen. Im Gegensatz zu den Ansätzen der klassischen und operanten Konditionierung, in denen Lernen ausnahmslos in Abhängigkeit von Reiz-Reaktions-Verbindungen stattfindet, kann nach dem Konzept des Modelllernens auch bisher unbekanntes Wissen oder Verhalten in kurzer Zeit angeeignet werden. Das relevante Verhalten oder Wissen wird bei anderen Individuen bzw. „Modellen" wahrgenommen, beobachtet und nachgeahmt. Dies geschieht jedoch nur, wenn (1) das Modell eine bedeutsame Person darstellt und (2) positive Konsequenzen erwartet werden. Bereits die erfolgreiche Ausführung des beobachteten Verhaltens kann sich bei der bzw. dem Nachahmenden positiv verstärkend auswirken.
Das Konzept des Kognitiven Lernens²¹ nach Köhler²² basiert dagegen auf der Annahme, dass Wissen mithilfe kognitiver Fähigkeiten wie Imagination oder Introspektion intentional angeeignet und umstrukturiert werden kann. So käme es in der Folge eines „trial-and-error-Verhaltens zu einem sprunghaften Wissenszuwachs, indem ein Sachverhalt oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhang plötzlich erkannt und verstanden wird. Dieses absolute Prinzip bezeichnet Köhler als „Alles-oder-nichts-Prinzip
, da die Vertiefung bzw. Wiederholung des Gelernten bei dieser Lernform keine Bedeutung hat. Stattdessen kommt es beim einsichtigen Lernen zu einem „Aha-Erlebnis", also einer schlagartig veränderten Wahrnehmungsperspektive auf den Lerngegenstand.
Die vorgestellten kognitivistischen Lerntheorien sind im Gegensatz zu verhaltenstheoretischen Konzepten besser geeignet, komplexere Lernprozesse zu erklären, da ihre Betonung auf dem problemlösenden, einsichtsvollen und schlussfolgernden Lernen liegt. Doch obwohl das Individuum selbst stärker berücksichtigt wird, stehen in diesen Ansätzen meist ebenso wie in den behavioristischen Lerntheorien die Lehrenden sowie die didaktische Aufbereitung von Lerninhalten im Vordergrund. Innere Aspekte wie Emotion, Interesse, Selbstbestimmung, aber auch äußere Einflussfaktoren (z.B. kulturelle, gesellschaftliche) auf Lernen werden dagegen kaum berücksichtigt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die traditionellen Theorien des Behaviorismus und des Kognitivismus Lernen als Produkt bzw. als abhängige Variable betrachten, welches sich von außen beliebig steuern und gestalten lässt. Der Lernprozess selbst stellt eine lineare Abfolge dar und gilt als beobachtbar und planbar.²³ Im Fokus stehen daher die Lehrenden, die Lerninhalte sowie das sichtbare, geplante Lernergebnis. So kritisieren auch Faulstich und Ludwig, dass
„in der Lernpsychologie des Mainstreams (…) nach wie vor eine Vorherrschaft eines naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Denkens (existiert), welches Instruktionsansätze und entsprechende instrumentelle Lernarrangements stützt"²⁴.
Von den traditionellen psychologischen Lerntheorien haben sich weitere Theorien abgespalten, welche sich im Zusammenhang mit Lernhandeln insbesondere mit innerpsychischen Einflussfaktoren und Prozessen beschäftigen, z.B. Lernmotivation, Interesse, Volition, Flow-Erleben u.a. Diese betrachten jedoch ebenso wie die weiter oben beschriebenen Ansätze zumeist nur einseitig bestimmte Faktoren, während die vielfältigen bedingenden Aspekte des Lernens sowie ihr komplexes Zusammenspiel dagegen weitgehend unberücksichtigt bleiben.
Die erwachsenenpädagogischen Lerntheorien, welche im Anschluss vorgestellt werden sollen, versuchen sich in einer ganzheitlicheren Sichtweise und nehmen die Lernenden sowie individuelle Lernprozesse stärker in den Fokus.
2.2 Erwachsenenpädagogische Lerntheorien – Von der Vermittlungszur Aneignungslogik
Der erwachsenenpädagogische Diskurs der letzten drei Jahrzehnte legte seinen Fokus bei der Ergründung von Lernprozessen vorrangig auf die Biographieforschung und orientierte sich dabei besonders an den Bildungstheorien der Soziologie, wodurch es zu einer zunehmenden Soziologisierung der Erwachsenenbildungsforschung kam.²⁵ Erst im Zuge der „reflexiven Wende"²⁶ in den 1980er Jahren gewannen auch systemisch-konstruktivistische sowie subjektwissenschaftliche Lerntheorien, welche ihren Blick stärker auf innerpsychische Prozesse im Lernenden selbst richteten, an Auftrieb.
Im Folgenden sollen zunächst aus der Bildungssoziologie entlehnte biographie- und lebensweltorientierte Konzepte von Lernen vorgestellt werden, die sich als fruchtbar zur Beantwortung der Fragestellung der vorliegenden Arbeit erweisen könnten.
2.2.1 Lernen als biographischer und lebensweltbezogener Prozess – bildungssoziologische Lerntheorien
Biographie- und lebensweltorientierte Ansätze bieten konstruktive Einblicke sowohl in formelle als auch in informelle und selbstorganisierte Lernprozesse Erwachsener.²⁷ Ausgehend von der Vorstellung, dass „eine wechselseitige Beziehung zwischen Lern- und Bildungsprozessen einerseits und biographischen Bedingungen und Konstellationen andererseits existiert²⁸, wollen sie einen Beitrag dazu leisten erwachsene Lernende verstärkt als Subjekte in ihrer „Historizität und Autonomie
²⁹ zu betrachten. In Abgrenzung zum Lebenslauf, der den chronologischen Verlauf von Ereignissen innerhalb eines menschlichen Lebens aus objektiver Sicht offenlegt, geht es in der Biographie insbesondere um subjektive, nicht nachprüfbare Erfahrungen von Individuen, die