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Lernen Erwachsener
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eBook374 Seiten4 Stunden

Lernen Erwachsener

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Über dieses E-Book

Erwachsene lernen in einer Vielfalt von Formen und Zusammenhängen. An die Stelle von Einheitsvorstellungen, wie sie früher mit Begriffen wie Volks-, Erwachsenen- oder Weiterbildung verknüpft waren, rückt heute mit der Durchsetzung der Idee des "Lebenslangen Lernens" die Wahrnehmung der Varianz der Lernorte, Lernformen und Lernkontexte. Dadurch geraten auch die herkömmlichen Vorstellungen von Erwachsenheit und von Lernen in Bewegung. Der Band gibt einen Überblick über den Stand der Erkenntnisse zum breiten Feld des Lernens Erwachsener und erläutert die Fragen, die sich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion stellen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Aug. 2018
ISBN9783170344891
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    Buchvorschau

    Lernen Erwachsener - Jörg Dinkelaker

    Literatur

    I   Einführung

    1          Von der Erwachsenenbildung/Weiterbildung zum Lernen Erwachsener

    Der vorliegende Grundriss befasst sich mit den erziehungswissenschaftlichen Zugängen zum Lernen im Erwachsenenalter. Das an verschiedenen Stellen hervorgebrachte, verstreute Wissen über Phänomene des Lernens Erwachsener wird in ihm zusammengestellt, ohne wie bislang üblich bestimmte Formate des institutionalisierten Lernens zum selbstverständlichen Fluchtpunkt dieses Feldes zu erheben. Gegenüber herkömmlichen Einführungen in die Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung ist dies mit einer zweifachen Verschiebung der Perspektive verbunden:

    Üblicherweise steht die Gestaltung von Bildungsveranstaltungen im Mittelpunkt, wenn Fragen des Lernens Erwachsener diskutiert werden. Es geht um Kurse, Trainings und Seminare, Lehrgänge, Workshops und Vorträge. Im vorliegenden Grundriss wird dieses »veranstaltete Lernen« (Tietgens 1986, 24ff) zwar mit berücksichtigt, aber lediglich als ein Format des Umgangs mit Lernen unter mehreren anderen betrachtet. Die Fülle von Einführungen, die das organisierte Lernen in Bildungsveranstaltungen zum Gegenstand haben, ist beträchtlich. Es finden sich Einführungen in die »Erwachsenenbildung« (etwa Wittpoth 2003, Forneck/Wrana 2005, Faulstich/Zeuner 2008, Nolda 2008), in die »Weiterbildung« (Nuissl 2000) oder auch in die »Erwachsenenbildung/Weiterbildung« (Kade/Nittel/Seitter 2007). Diese Überblickswerke unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihren Gegenstandsbestimmungen und Theoriebezügen (Seitter 2005). Eine Gemeinsamkeit haben sie allerdings darin, dass Situationen des Lernens jenseits von Bildungsveranstaltungen entweder gar nicht oder eher am Rande behandelt werden, obwohl andere Formate des Lernens, etwa die mediale Wissensvermittlung, arrangierte Lernstätten, biographische Krisen oder Beratungsgespräche längst selbstverständlich mit zur Bandbreite des institutionalisierten Lernens im Erwachsenenalter zählen.

    Die zweite Verschiebung des Blickfelds ergibt sich daraus, dass Fragen der professionellen Begleitung und Gestaltung des Lernens in diesem Grundriss zwar mit behandelt, dass diese Fragen aber in einem breiteren Kontext und nicht an erster Stelle diskutiert werden. Im Zentrum steht vielmehr zunächst die Frage, wie Lernen in unterschiedlichen sozialen Situationen bedeutsam wird, in denen Personen als Erwachsene angesprochen werden. Behandelt werden die je besonderen prozessualen Logiken, die dem Lernen und dem Erwachsen-Sein in diesen Situationen des Lernens Erwachsener jeweils zugrunde liegen. Erst im Horizont dessen werden dann auch Fragen des pädagogischen Handelns diskutiert. Da es sich gestaltend auf Situationen des Lernens Erwachsener bezieht, vollzieht es sich notwendig innerhalb der situationsspezifischen Logiken des Umgangs mit Lernen. Die Auseinandersetzungen über Ziele und Methoden eines solchen Handelns haben somit eine Kenntnis dieser Logiken zur Voraussetzung. Im Zentrum stehen daher zunächst die Formate des Lernens Erwachsener. Erst in zweiter Linie werden dann auch die Fragen ihrer pädagogischen Gestaltung betrachtet.

    Die bisherige Engführung von Einführungen in das Erwachsenenlernen erstens auf das Format der Bildungsveranstaltung und zweitens auf die professionelle Gestaltung und Begleitung von Lernen hat historische Gründe. Die seit den 1970er Jahren betriebene Etablierung einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin »Erwachsenenbildung« war aufs engste verwoben mit dem Ziel einer Professionalisierung des von ihr untersuchten Feldes. Diese Professionalisierung wurde wiederum lange Zeit mit dem Ausbau und der wissenschaftlichen Fundierung des veranstaltungsförmigen Lernens gleichgesetzt, auch wenn andere Bereiche des Erwachsenenlernens nie völlig aus dem Blick geraten sind. Es ging um die Etablierung von Erwachsenenbildung/Weiterbildung als einem öffentlich verantworteten, systematisch strukturierten Teilbereich des Bildungssystems (Nittel 2000). Die im Zuge dessen vorgenommene Beschränkung auf die Etablierung und Gestaltung von Bildungsveranstaltungen verliert in den letzten Jahren zunehmend ihre Plausibilität. Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden. Drei davon seien an dieser Stelle benannt:

    Ein erster Grund liegt in einer Schwerpunktverlagerung, die das Erziehungs- und Bildungswesen im Ganzen betrifft, also auch die Strukturierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen. Der Fokus der Betrachtung verschiebt sich weg von Aktivitäten des Lehrens und hin zu Prozessen des Lernens. Nicht länger die Gestaltung und Verbesserung der Maßnahmen, die das Lernen herbeiführen sollen, sondern die Qualitäten des Lernens selbst stehen nun im Zentrum des Interesses. Gerade die Erfolge der Professionalisierungsbemühungen der 1970er Jahre haben zu einer Begrenzung der Gestaltungserwartungen auch im Bereich des Lernens Erwachsener geführt (Seitter 2015). Zwar wird weiterhin davon ausgegangen, dass durch erwachsenenpädagogisches Handeln ein wesentlicher Beitrag zum Gelingen des Lernens Erwachsener geleistet werden kann. Das Lernen selbst wird aber als etwas verstanden, was sich im Lebenszusammenhang der Lernenden ereignet und wesentlich durch die Lernenden selbst strukturiert und gestaltet wird. Diese Verschiebung des Blicks weg vom Lehren hin zum Lernen geht einher mit einem gesteigerten Interesse für die Pluralität der Situationen, in denen sich Lernen ereignet. Es zeigt sich, dass die Teilnahme an Bildungsangeboten nur eine von mehreren Möglichkeiten des Lernens im Erwachsenenalter darstellt.

    Ein zweiter Grund der Irritation des veranstaltungs- und professionszentrierten Blicks ergibt sich aus gesellschaftlichen Veränderungen, die jenseits des herkömmlichen Bildungs- und Erziehungswesens stattgefunden haben und als Prozesse der Pädagogisierung sozialer Situationen beschrieben werden. Soziale Situationen, die zuvor gar nicht als Lernsituationen begriffen wurden, werden nun verstärkt unter Lerngesichtspunkten betrachtet und entsprechend gestaltet. Dieser Prozess der Pädagogisierung bislang nicht pädagogisch gerahmter Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wird in der Erziehungswissenschaft als ein Prozess der Entgrenzung oder auch der Universalisierung des Pädagogischen beschrieben (Kade/Lüders/Hornstein 1991). Pädagogische Sicht- und Handlungsweisen werden außerhalb von Bildungsveranstaltungen aufgegriffen und beginnen auch dort das Geschehen mit zu prägen. Es scheint mittlerweile nahezu jederzeit und überall denkbar, dass Personen als Lernende angesprochen und Situationen als Lernsituationen verstanden werden. Eine Beschränkung erziehungswissenschaftlichen Denkens und Beobachtens allein auf das Lernen in Bildungsveranstaltungen wird den veränderten gesellschaftlichen Realitäten nicht länger gerecht. Längst ist der Alltag Erwachsener in Freizeit, Beruf und Familie durch eine Vielfalt lernbedeutsamer Situationen geprägt. Die darin wirksam werdenden Vorstellungen vom Lernen und vom Erwachsen-Sein werden zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.

    Ein dritter Grund für die beschriebene Perspektivenverschiebung ergibt sich aus wissenschaftsinternen Entwicklungen. Im Zuge der Etablierung einer Wissenschaft von der Erwachsenenbildung wurden vermehrt Studien veröffentlicht, die nach der Bedeutung von Lernsituationen im Zusammenhang der Biographien der Lernenden fragen (Maier-Gutheil 2015). Das in diesen Studien entwickelte wissenschaftliche Wissen über das Lernen im Erwachsenenalter lässt sich in eine ausschließlich veranstaltungs- und professionszentrierte Sichtweise nicht sinnvoll integrieren. Es ergibt sich die Frage nach einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen, in dem die verschiedenen Situationen des Lernens sinnvoll voneinander unterschieden und zugleich aufeinander bezogen werden können.

    Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen sowohl im Feld des Lernens Erwachsener als auch in den wissenschaftlichen Sichtweisen auf sie werden lange Zeit gestaltungsprägende Vorstellungen brüchig. Beschreibungsweisen gewinnen an Bedeutung, die es erlauben, einen Überblick über die Pluralität von Lernsituationen zu gewinnen. Die auf diese Pluralität bezogenen Überlegungen sind Gegenstand des vorliegenden Grundrisses. Eingeführt wird in den Stand der sich dynamisch entwickelten Diskussion. Überlegungen zu einer theoretischen Bestimmung des Feldes des institutionalisierten Lernens Erwachsener werden vorgestellt. Die mittlerweile umfangreichen empirischen Befunde hinsichtlich der Strukturen und Prozesse in diesem Feld werden zusammengetragen. Das Lernen Erwachsener erweist sich dabei als eine historisch gewachsene, vielfältig gebrochene gesellschaftliche Realität, an deren Hervorbringung die Wissenschaft selbst wesentlich Anteil hat, die zugleich aber durch Wissenschaft weder durchgängig bestimmt noch vollständig aufgeklärt werden könnte. Vielmehr zeichnet sich das Bild einer polyzentrischen Ordnung des Lernens Erwachsener ab, die durch eine nicht hierarchische Pluralität institutionalisierter Formen und gestaltender Akteure gekennzeichnet ist. Die Darstellung dieses Wissensstandes ist zugleich immer auch eine Darstellung der offenen Fragen und der Beschreibungsprobleme, die sich hinsichtlich des Lernens Erwachsener im Ganzen als auch hinsichtlich bestimmter Formen und Bedeutungskontexte ergeben.

    Die Erschließung der wissenschaftlichen Zugänge zum Feld des Lernens Erwachsener geschieht im Folgenden in zwei Schritten:

    Im ersten Schritt werden die das Feld prägenden zentralen Begriffe problematisiert. Gefragt wird, was es heißt, Personen als Erwachsene zu adressieren und was unter Lernen Teil 2).

    Teil 3).

    Teil 4).

    II   Begriffe und Unterscheidungen

    2          Erwachsene

    Anders als »Lernen« ist der Begriff »Erwachsene« kein zentraler Gegenstand systematischer erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen. Es hat sich eine Kindheits- (vgl. Markefka/Nauck 2001, Honig 2009), Jugend- (vgl. Krüger/Grunert 2002) und Alternsforschung (vgl. Backes/Clemens 2003) etabliert, aber bis heute bleiben die wenigen Beiträge zur Erwachsenen- oder vielleicht besser Erwachsenheitsforschung unverbunden. Während zu den anderen Lebensaltern umfangreiche Diskussionen geführt werden, ja eigene Forschungsgebiete etabliert sind, finden wir zum Erwachsenenalter nur vereinzelte Publikationen, deren gemeinsamer Tenor darin besteht, dass systematische Forschungen zum Erwachsenenbegriff noch ausstehen (vgl. für einen Überblick Stroß 2000, Nittel 2003a, Holm 2011, Dinkelaker/Kade 2013, Wolf 2014).

    Ein Grund für diese Lücke könnte darin liegen, dass der Erwachsene als eine Art Normalform des Menschen verstanden wird, von dem aus andere Formen dann als Vor- bzw. Sonderformen definiert werden. Kinder und Jugendliche sind Heranwachsende, die sich erst noch zum voll ausgeprägten Erwachsenen hin entwickeln (sollen). Eingehend diskutiert werden Fragen des Umgangs mit Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, Milieu oder Behinderung. Dass auch das Erwachsen-Sein eine spezifische Variante des Mensch-Seins darstellt, gerät so aus dem Blick. Die spezifischen Merkmale, die mit dem Erwachsen-Sein verbunden werden, werden in Folge dessen als solche kaum problematisiert.

    Dabei besteht auch hier bei genauerem Hinsehen erheblicher Klärungsbedarf. Dies liegt zum einen daran, dass das Wort »erwachsen« sehr Unterschiedliches bedeuten kann, je nachdem, in welchem Zusammenhang es verwendet wird. In juristischer Hinsicht spielt beispielsweise das Kriterium der Volljährigkeit eine zentrale Rolle, von dem der Status voller Rechte und Pflichten gegenüber dem Gesetz abhängig gemacht wird. In biologischer Hinsicht ist die Geschlechtsreife ein wesentliches Merkmal des erwachsenen Organismus. In ökonomischer Hinsicht spielt die Fähigkeit eine zentrale Rolle, sich an Vertragsgeschäften verlässlich zu beteiligen und für den eigenen Lebensunterhalt und den Angehöriger aufkommen zu können. Politisch bedeutsam ist der Status Erwachsener als selbst- und mitbestimmende Bürger im demokratischen Gemeinwesen. Schon an diesen Beispielen zeigt sich, dass es den Erwachsenen als einheitliches Konstrukt gar nicht gibt, sondern dass wir es vielmehr mit einer Vielzahl sich teilweise überlagernder, teilweise aber auch divergierender Erwachsenenverständnisse zu tun haben. So kann bereits die Frage, mit welchem Alter man eigentlich beginnt, erwachsen zu sein, sehr unterschiedlich beantwortet werden, je nachdem, ob man ein rechtliches, biologisches, ökonomisches, politisches oder pädagogisches Verständnis des Erwachsenen zum Ausgangspunkt nimmt. Hinzu kommt, dass die Verständnisse vom Erwachsen-Sein in den letzten Jahrzehnten – etwa seit Ende der 1960er Jahre – einen tiefgreifenden Wandel erfahren haben und immer noch erfahren. Das bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus vorherrschende Bild des Erwachsenen als einem »Mensch in Mündigkeit und Reife« (Pöggeler 1964) passt immer weniger zu den Lebensrealitäten der sich in einem ständigen Wandel begriffenen »Erwachsenen« in einer sich dynamisch verändernden Welt. Was Erwachsen-Sein ausmacht, wird angesichts der Notwendigkeiten einer Gestaltung dieses Wandels zu einer ebenso drängenden wie ungeklärten Frage.

    Abbildung 1 zeigt die Cover zweier Bücher zum Erwachsenen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Diskussion zum Lernen Erwachsener geschrieben wurden. Das Buch von Hans Pöggeler »Der Mensch in Mündigkeit und Reife« stammt aus dem Jahr 1964. Erwachsene werden in ihm als diejenigen thematisch, deren Entwicklung abgeschlossen ist und die zur Selbst- und Mitbestimmung fähig und berechtigt sind. Im Buch von Ute Holm aus dem Jahr 2011 wird dagegen darauf abgehoben, dass es sich bei Vorstellungen vom Erwachsenen um

    Abb. 1: Wandel der Thematisierung des Erwachsenen (Pöggeler 1964 und Holm 2011)

    Konstruktionen handelt, die abhängig vom Kontext, in dem sie bedeutsam werden, unterschiedlich ausfallen können. Die Bilder, die man (hier: die Erwachsenenbildung) sich vom Erwachsenen macht, stehen nicht länger einheitlich fest, sondern sind plural und einem Wandel unterworfen. In der Gegenüberstellung dieser beiden Bände zur Anthropologie des Erwachsenen schlägt sich exemplarisch eine Entwicklung der Verflüssigung und Dynamisierung des Erwachsenenbildes nieder, von der im Weiteren noch mehrmals die Rede sein wird.

    Die Vorstellung eines ursprünglich festen Erwachsenenverständnisses ist allerdings insofern zu relativieren, als dass die Idee der Erwachsenheit historisch vergleichsweise neu ist:

    »als generalisierte Form eines Bündels von Rechten und Pflichten, die mit einem bestimmten – sozial definierten – Alter beginnen, ist er [der Erwachsene, J.D.] eine moderne Konstruktion« (Seitter 2000, 134).

    Es kennzeichnet die moderne Gesellschaft, dass in ihr das zuvor nur in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen gepflegte Ideal des selbstbestimmten Erwachsenen nun an alle Menschen eines bestimmten Alters unabhängig ihres Standes und ihrer Herkunft herangetragen wird. Dass diese Personen als Erwachsene behandelt werden, ist ein konstitutives Moment der Vergesellschaftung in der Moderne. Der sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts abzeichnende Wandel des Erwachsenen ist insofern Indiz für eine erneute Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, so wie umgekehrt auch davon auszugehen ist, dass weitere gesellschaftliche Veränderungen sich in neuen Verschiebungen des Erwachsenenverständnisses niederschlagen werden.

    Bei der Diskussion des Begriffs des Erwachsenen ist zu berücksichtigen, dass sie untrennbar mit der Unterscheidung zwischen Kindheit und Erwachsenheit verbunden ist. Beide Konzepte verweisen wechselseitig aufeinander, das eine Konzept definiert sich jeweils über die Negation des anderen. Erwachsen wird man, wenn man kein Kind mehr ist und die Kindheit als Lebensphase ist durch die Erwartung des zukünftigen Erwachsen-Seins bestimmt (Zirfas 2004, 15f, Fangmeyer/Mierendorff 2017).

    Im Folgenden werden vier Figuren vorgestellt, über die Erwachsenheit in der Moderne bestimmt wird. In jeder dieser vier Figuren wird die Unterscheidung von Kindheit und Erwachsenheit in einer anderen Weise aufgegriffen:

    Kap. 2.1).

    Kap. 2.2).

    Kap. 2.3).

    Die vierte Figur ist schließlich die des alternden Erwachsenen. In ihr wird betont, dass Erwachsene nicht nur älter sind als Kinder und Jugendliche, sondern dass sie darüber hinaus auch mit fortgesetztem Leben, damit bis zu ihrem Tod, älter werdenKap. 2.4).

    Ausgehend von der Klärung dieser Bestimmungen von Erwachsenheit lassen sich jeweils auch Wandlungsdynamiken nachzeichnen, denen Vorstellungen vom Erwachsenen mittlerweile unterworfen sind. Diese Veränderungen des Erwachsenenverständnisses sind eng mit der gesellschaftlichen Durchsetzung der Erwartung verbunden, dass auch noch im Erwachsenenalter Lernen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens darstellt, und mit der Erwartung, dass es einer systematischen pädagogischen Begleitung auch noch des Lernens Erwachsener bedarf.

    2.1        Selbstbestimmt

    Die Pädagogik der Moderne legitimiert sich in der Phase ihrer Entstehung zunächst über die Zuständigkeit für Vorgänge, in denen aus Kindern Erwachsene werden. Ihre Etablierung als eine öffentlich begründete Praxis ist in der Moderne daher aufs engste mit der Hervorhebung und Ausgestaltung der Unterscheidung von Kindheit und Erwachsenheit verknüpft. Sie konzentriert sich allerdings zunächst nur auf die eine Seite der Unterscheidung, nämlich auf das Kind, das dadurch bestimmt ist, dass es – im Unterschied zum Erwachsenen – erzogen werden soll. Aus dieser Schwerpunktsetzung resultiert ein – bis heute – recht einseitiger Blick, den die Pädagogik auf Erwachsenheit entwickelt hat: die Figur des Erwachsenen wird im Kontext klassischer pädagogischer Programmatiken nie für sich allein und in vollem Umfang zum Gegenstand, sondern immer nur zu einer Seite hin, nämlich im Hinblick auf die Frage, was aus ihrer Bestimmung für die Erziehung von Kindern Abb. 2).

    Abb. 2: Mündigkeit als Moment des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen

    Grundlegend für diese Bestimmungen des Erwachsenen als dem Menschen jenseits der Erziehung ist die anthropologische Prämisse, dass Menschen erzogen werden müssen, um zu dem zu werden, was sie ausmacht. So formuliert Immanuel Kant in seiner Vorlesung über Pädagogik:

    »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung« (Kant 1803, 6).

    Das, was den Menschen ausmacht, entwickelt sich im hier entworfenen Verständnis nicht von selbst, sondern allein dadurch, dass seine Entwicklung zielgerichtet beeinflusst wird. Erst im erzogenen Menschen ist verwirklicht, was als menschliches Potential im Kind lediglich angelegt ist. Erst als Erwachsener kann der Mensch daher zu dem werden, was ihm wesentlich ist. In dieser paradox anmutenden Formulierung Kants zeigt sich ein für die Verhandlung der Figur des Erwachsenen charakteristisches Phänomen. Wenn vom Menschen gesprochen wird, ohne dass eine weitere Spezifikation vorgenommen wird, dann wird stillschweigend angenommen, dass es sich dabei um den erwachsenen Menschen handelt. Er gilt als Normal- und Vollform des menschlichen Daseins. Im Zentrum des Menschseins steht dabei für Kant die Orientierung des eigenen Handelns an vernünftigen Gründen, die »Selbstbestimmung nach selbstgegebenen, universalisierbaren Maximen« (Gutmann 2010, 5).

    Erziehung soll sich entsprechend die Hervorbringung solcher Erwachsener zum Ziel setzen, die diesem Ideal vernünftige Selbstbestimmung gerecht werden. Sie kann allerdings nicht davon ausgehen, dass sie damit vollumfänglich erfolgreich sein wird, laut Kant schon allein deswegen nicht, weil auch die Erzieher von Menschen erzogen wurden, die selbst diesem Ideal nicht voll entsprechen. Kant geht es also mit dem Merkmal der vernunftgebundenen Selbstbestimmung nicht um die Beschreibung real existierender Erwachsener. Die Formulierung des Ideals geschieht vielmehr gerade angesichts der Beobachtung, dass diejenigen, die als Erwachsene adressiert werden, keineswegs immer und überall ihr Handeln an einsichtsvollen, vernünftig begründbaren Regeln orientieren. Wo aber Erziehung gezielt betrieben wird, geschieht dies in der Hoffnung, dass dadurch ein von Generation zu Generation voranschreitender Prozesse des Fortschritts in Gang gesetzt wird, in dem sich das menschliche Potential zum einsichts- und rücksichtsvollen Entscheiden schrittweise entfaltet. Die Aufrechterhaltung dieser Idealerwartung – gerade auch angesichts der Beobachtung, dass sie in der Realität nie vollumfänglich eingelöst wird – ist einer der Kerngedanken der Aufklärung und gehört damit untrennbar zur Programmatik der modernen Gesellschaft. Es kennzeichnet die in ihr lebenden Erwachsenen, dass an sie der Anspruch vernünftiger Selbstbestimmung gerichtet wird und dass davon ausgegangen wird, dass sie (im Unterschied zu Kindern) diesem Anspruch auch gerecht werden können. Die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand bewusster Überlegungen zu machen und dessen Angemessenheit nach eigenen Maßstäben unter Abwägung unterschiedlicher Perspektiven zu beurteilen, fungiert damit als normatives Leitbild (Geißler/Kade 1982) des Erwachsenen auch und gerade dort, wo ihm (immer noch) nicht entsprochen wird.

    In der Figur einer mit dem Eintritt in das Erwachsenenleben endenden Erziehung zur Mündigkeit liegt damit ein unauflösbares Spannungsverhältnis begründet. Einerseits können sich Erwachsene erst als fähig zur Selbstbestimmung erweisen, wo ihnen Selbstbestimmung rückhaltlos zugestanden wird. Diese uneingeschränkt zugestandene Mündigkeit setzt ein Ende erzieherischer Bevormundung voraus. Andererseits entspricht kein realer Erwachsener vollumfänglich dem verfolgten Erwachsenenideal. Dies kann auch gar nicht sein, weil Ideale sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie in der Realität keine vollständige Entsprechung finden können. Sofern das Streben nach dem Ideal aber nicht aufgegeben werden soll, erwächst daraus Notwendigkeit einer fortgesetzten Veränderungsarbeit. Diesem Dilemma wird in der bürgerlichen Pädagogik mit der Idee der Selbstbildung begegnet. Zwar wird davon ausgegangen, dass eine Differenz zwischen dem idealen Erwachsenen und den je realen Erwachsenen fortbesteht. Doch die Verantwortung für den Umgang mit dieser Differenz wird nicht länger einem erziehenden Vormund, sondern sie wird dem Erwachsenen selbst zugemutet. So hält Herbart gleich zu Beginn seiner Umrisse der Pädagogik fest: »Die Festigkeit der Erwachsenen bildet sich innerlich fort und wird dem Erzieher unerreichbar« (Herbart 1841, 5). Das Problem wird dadurch allerdings nicht aufgelöst, sondern lediglich verschoben. Es kommt nun in einer anderen Fassung zum Vorschein, nämlich in der Frage, wie man sich dazu verhält, wenn Erwachsene zu solch einer aufgeklärten Selbstbildung nicht bereit oder nicht in der Lage sind. Die Befähigung zur Selbsterziehung bzw. Selbstbildung wird damit zu einer neuen pädagogischen Aufgabe, zur Aufgabe

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