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Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen: Zur Förderung prekärer Zielgruppen im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung
Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen: Zur Förderung prekärer Zielgruppen im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung
Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen: Zur Förderung prekärer Zielgruppen im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung
eBook557 Seiten5 Stunden

Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen: Zur Förderung prekärer Zielgruppen im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung

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Über dieses E-Book

Das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) steckt voller Herausforderungen; schwierige Schüler, hohe Abbruchquoten und bisweilen überlastete Lehrkräfte. Dass dieser Bildungsgang für die Schüler dennoch eine Chance darstellen kann, die erste Schwelle in das Berufsleben erfolgreich zu meistern, wird in diesem Buch anhand von Gestaltungsempfehlungen aufgezeigt. Mittels einer ausführlichen Zielgruppenanalyse sowie der Komplementaritätstheorie der Bildung als theoretischer Grundlage werden insbesondere makrodidaktische Ansätze erarbeitet, um die Berufsfähigkeit benachteiligter Jugendlicher zu verbessern und deren Persönlichkeitsentwicklung positiv zu beeinflussen. Der Fokus liegt dabei auf der Ausgestaltung der Praxisphasen in Schule und Betrieb sowie der inneren Differenzierung der BVJ-Klasse.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Aug. 2015
ISBN9783739293332
Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen: Zur Förderung prekärer Zielgruppen im Rahmen der schulischen Berufsvorbereitung
Autor

Kristina Porsche

Kristina Porsche, geb. 1980 in Leisnig, ist in der Personalentwicklung eines deutschen Automobilherstellers tätig. Sie studierte und promovierte im Fach Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Technischen Universität Chemnitz.

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    Buchvorschau

    Die erste Schwelle erfolgreich bewältigen - Kristina Porsche

    I EINLEITUNG – AUF DEM WEG IN DIE BERUFSAUSBILDUNG

    Für einige Jugendliche stellt der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in einen beruflichen Bildungsgang eine große Hürde dar. Einer überwältigenden Anzahl von Möglichkeiten stehen diverse Restriktionen gegenüber. Und auf das Versäumnis einer rechtzeitigen Berufsorientierung folgt im ungünstigen Fall der Besuch ungeliebter Alternativen, wie beispielsweise das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) für viele Jugendliche eine darstellt. Jugendlichen, die sich letztlich für jenen Bildungsgang bewerben (müssen), wird unterstellt, die erste Schwelle des Übergangs in den Beruf nicht erfolgreich gemeistert zu haben. Sie befinden sich in einer Übergangsphase an der Schwelle zur Berufsausbildung beziehungsweise zur Erwerbsarbeit. Ein erfolgreicher Übergang bemisst sich demzufolge daran, ob eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufgenommen wird beziehungsweise die berufliche Orientierung sich in der Entscheidung für einen weiterführenden Bildungsgang widerspiegelt.

    Überdies geben gesellschaftliche Aspekte Anlass für eine Betrachtung des Berufsvorbereitungsjahres. Zum einen schrumpft aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland das Fachkräftepotential, woraus sich zukünftig ein Problem für die Wirtschaft sowie für viele soziale Bereiche ergeben wird. Zum anderen bleiben trotz des Überangebots an Ausbildungsplätzen noch immer viele Jugendliche nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht ohne Ausbildung, da sie keinen Schulabschluss erreichen konnten oder ein Hauptschulabschluss für den gewünschten Ausbildungsberuf nicht mehr ausreicht. Im Zuge der Teilnahme am BVJ bietet sich indessen die Chance für die Jugendlichen, durch Anstrengung und gute Leistungen die Misserfolgserfahrungen zu überformen, da die Unternehmen immer häufiger auch Jugendlichen aus dem BVJ eine Chance geben.

    Insgesamt zeigt sich, dass in der schulischen Berufsvorbereitung seit einigen Jahren eine bestimmte Klientel immer stärker vertreten ist, welche hier unter dem Begriff der ‚prekären Zielgruppen‘ gefasst wird, mithin jene Jugendliche, die unter erschwerten Bedingungen, seien sie psychischer oder sozialer Natur, ihre Schullaufbahn trotz, in einigen Fällen akuter, Schulmüdigkeit weiterverfolgen sollen, um die Berufsschulpflicht zu erfüllen. Die Aufgabe des Schülers besteht dabei darin, den Übergang an der ersten Schwelle mit schulischen Mitteln schaffen zu wollen, die des pädagogischen Personals, Hilfen bereitzustellen, um den Übergang zu erleichtern und strukturiert zu begleiten. In der Umsetzung dieser Aufgaben bestehen jedoch didaktische Hindernisse, die einerseits das Ausschöpfen des Potentials der Jugendlichen hemmen, sich jedoch andererseits in der Überforderung der Lehrkräfte zeigen.

    In der Beurteilung der Jugendlichen in berufsvorbereitenden Maßnahmen steht beispielsweise häufig die mangelnde schulische Lernmotivation im Fokus, wohingegen etwaige praktische Begabungen zu selten einbezogen werden. Für die Schüler andererseits zeigt sich in weiteren, insbesondere vollzeitschulischen Bildungsgängen kein zusätzlicher Nutzen beziehungsweise lassen diese keine höhere Lebensqualität erwarten, zumal die Jugendlichen bisher zumeist verinnerlicht haben, dass sie in der Schule ohnehin Versager sind. Zudem sind insbesondere Jugendliche aus Zuwandererfamilien von Schulversagen betroffen, da sie aufgrund von Sprachbarrieren und bisweilen kritischen Lebensereignissen schulische Leistungen nicht abrufen können (vgl. Hurrelmann/ Quenzel 2012: 130 f.).

    Die vielfältigen außerschulischen Probleme, denen einige Schüler des BVJ in den Lebensbereichen ausgesetzt sind, verhindern darüber hinaus überdauernde schulische Anstrengungen, da menschliche Grundbedürfnisse teilweise nicht im notwendigen Maß befriedigt werden und schulische Belange folglich nicht als bedeutend genug eingeschätzt werden (können). Die Integrationsprobleme, die sich dann in privater und beruflicher Hinsicht ergeben, führen überdies zu den Stigmata Bildungsferne und fehlende Ausbildungsreife, mithin gilt der Jugendliche als unvermittelbar und sozial auffällig. Im Umgang mit Behörden und anderen Personen des öffentlichen Lebens wird ihnen ihr Stand in der Gesellschaft und ihre von Misserfolgen geprägte Biographie überdeutlich vor Augen geführt. Dabei sind es gerade diese Effekte, die Jugendliche auf der Suche nach Sicherheit, Anerkennung und Identität, welche sie von wichtigen Bezugspersonen häufig nicht erfahren, illegale Pfade beschreiten lassen.

    Für die Lehrer bedeutet das BVJ insbesondere eine psychische Herausforderung, da diese Klientel nicht dem als normal betrachteten Schülerbild entspricht und sehr viel mehr Aufmerksamkeit verlangt, jedoch auch ein gehöriges Maß an Unruhe- und Aggressionspotential in sich birgt – teils offenbart sich dies in umfangreichen Strafakten –, dem zu entgegnen nur selten Teil der Lehrerausbildung war und ist. Auch methodisch ist ein Umdenken erforderlich, ob der Unterschiede in den Lernvoraussetzungen, die sich in einer BVJ-Klasse zeigen. Folglich ist die Einsatzbereitschaft, im BVJ zu unterrichten entsprechend gering, wiewohl einige Lehrkräfte den Schülern mit sehr viel Elan, Ehrgeiz und Empathie begegnen und dann auch Erfolge erleben.

    Das BVJ steht zudem zuweilen in der Kritik, den Herausforderungen, denen dieser Bildungsgang unterliegt, nicht gerecht werden zu können und als „Sammelbecken" zu dienen (Müller 1983:13), wobei insbesondere hohe Abbruchquoten und eine geringe Übergangsquote in eine Berufsausbildung (vgl. Schumann 2006: 122) Anlass zur Sorge geben. Ist also ein weiteres Pflichtschuljahr kontraproduktiv für die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung prekärer Zielgruppen? Dies muss vehement verneint werden, sind doch gerade Maßnahmen im Übergangswesen von besonderer Bedeutung, um die Entwicklung auch nach Ende der Regelschule weiterhin pädagogisch begleiten zu können. Ziel muss es also vielmehr sein, mit Hilfe didaktischer Überlegungen bezüglich des BVJ eine effizientere Integration der prekären Zielgruppen in eine vollwertige duale Ausbildung zu ermöglichen. Effizienz soll hierbei insbesondere vor dem Hintergrund einer zügigen Eingliederung sowie einer den Eignungen und Neigungen entsprechenden Berufswahl erreicht werden. Die Überlegungen basieren dabei auf den Charakteristika, die die Zielgruppe sowohl in individueller als auch in soziokultureller Hinsicht aufweist. Darauf aufbauend und unter Berücksichtigung der komplementären Theorie der Bildung nach Jongebloed werden schließlich Handlungsempfehlungen für eine Umgestaltung des BVJ entwickelt.

    Der Fokus liegt dabei besonders auf der Ausgestaltung der Praxisphase, da hier der Effekt zwischen Anstrengung und Erfolgserleben vermutlich sehr hoch ist und dies die Selbstwahrnehmung und den Selbstwert positiv zu beeinflussen vermag. Lernen muss sich insbesondere für die BVJ-Schüler spürbar lohnen. Dies ist jedoch nur zu bewerkstelligen, wenn neben den schulischen auch die betrieblichen Rahmenbedingungen für die Praktika in didaktischer Hinsicht verbessert werden.

    In Teil II wird zunächst der theoretische Referenzrahmen der Thematik gezogen, wobei das der Arbeit zugrunde liegende didaktische Modell knapp umrissen wird, um in den nächsten Schritten die für die Bearbeitung herangezogenen theoretischen Ansätze vorzustellen. Für die Zielgruppenanalyse ist insbesondere die Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner von Bedeutung. Darüber hinaus ist das Berufskonzept zu beleuchten, welches in der Berufsvorbereitung als Zieldimension wahrgenommen wird, sowie die schulische Berufsvorbereitung im Sinne des BVJ. Abschließend wird der bildungstheoretische Ansatz der komplementären Theorie der Bildung vorgestellt, welcher in Teil IV hinsichtlich der Zielgruppe zu modifizieren ist und dann gemeinsam mit den herausgestellten Zielgruppencharakteristika als Ausgangspunkt für die didaktischen Schlussfolgerungen dient.

    Teil III ist vollständig der didaktischen Analyse der Zielgruppe gewidmet, wobei sich der Umfang dieses Teils aus der Vielfalt einzubeziehender Faktoren legitimiert. In Anlehnung an Bronfenbrenner werden die Lebensbereiche sowie deren Verknüpfungen auf höheren Systemebenen angereichert um die psychischen und teilweise auch die physischen Voraussetzungen der BVJ-Schüler. Hierfür wurde neben der theoretischen Analyse eine Lehrerbefragung im Freistaat Sachsen organisiert, an der 116 Lehrer und Sozialpädagogen teilnahmen. Darüber hinaus wurden sechs leitfadengestützte Interviews mit Lehrern zweier Berufsschulzentren sowie Hospitationen in zwei BVJ-Klassen durchgeführt. Die Erkenntnisse aus der didaktischen Analyse münden in Teil IV in Schlussfolgerungen, die sich insbesondere auf die Bildungsganggestaltung beziehen, weniger auf die konkrete Unterrichtsdurchführung.

    Die Erarbeitung des Themas ist vorrangig theoriegeleitet und trägt sowohl hermeneutische als auch phänomenologische Züge. Zur Stützung und Hinterfragung der daraus resultierenden Erkenntnisse bedurfte es jedoch zusätzlich einer empirischen Herangehensweise. Das Vorgehen der Datenerhebung wird im den Teil III einleitenden Abschnitt erläutert, da die Ergebnisse der Befragung vor allem für die didaktische Analyse von Bedeutung sind.

    II THEORETISCHER REFERENZRAHMEN

    Der Arbeit werden vier grundlegende theoretische Konzepte sowie die Beschreibung des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) als besonderes Erkenntnisinteresse vorangestellt. Den Ausgangspunkt bildet die Allgemeine Fachoffene Didaktik nach Bank (2013b; Kapitel 1 dieser Arbeit), welche das Gerüst der Argumentation darstellt, denn mittels der Didaktik als Wissenschaft vom Lehren und Lernen (vgl. u.a. Peterßen 2001: 22) kann intentionale Erziehung, in dieser Arbeit am Beispiel des BVJ dargestellt, sinnvoll strukturiert werden. Didaktisches Denken und Handeln umschließt dabei verschiedene wissenschaftliche Methoden der Erkenntnisgewinnung und zieht zudem die Erkenntnisse pädagogischer Bezugsdisziplinen heran, um Lehr-Lernprozesse zu reflektieren und zu verbessern (vgl. ebd.: 22 f.). Das Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik ist die jüngste Weiterentwicklung etablierter didaktischer Modelle und beinhaltet die Komponenten Analyse und Entscheidung, Implementation sowie die Evaluation. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem Analyse, Entscheidung und Evaluation von Bedeutung, die Bank im Entscheidungsmodell als Teilmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik zusammenfasst (vgl. Bank 2013b: 93). Aufgrund der Besonderheiten der Zielgruppe der Jugendlichen in berufsvorbereitenden Bildungsgängen ist eine intensive und differenzierte didaktische Analyse der Bedingungsfelder erforderlich, die in dieser Arbeit anhand der Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner durchgeführt wird (Kapitel 2).

    Darüber hinaus wird das Berufskonzept erläutert (Kapitel 3), denn der Beruf stellt für Jugendliche, auch und vor allem für diejenigen in prekären Lebenslagen, eine didaktische Zielkategorie dar, indem durch diesen eine gesellschaftliche Integration greifbar erscheint. Dafür wird ferner das Zwei-Schwellen-Modell nach Mertens und Parmentier (1988) herangezogen, wodurch die gesellschaftlichen Strukturen bezüglich der Erlangung beruflicher Teilhabe verdeutlicht werden. Für Jugendliche ohne Schulabschluss kommt es dabei an der ersten Schwelle immer wieder zu Problemen. Ein Mittel auf dem Weg in eine Berufsausbildung und somit zur Überquerung der ersten Schwelle stellt das BVJ dar, welches in Kapitel 4 beschrieben wird.

    In allen jenen theoretischen Zugängen ist indessen auch der Begriff der Bildung von Bedeutung, wenngleich dieser nicht immer explizit benannt wird. Aufgrund dessen wird in Kapitel 5 die Komplementaritätstheorie der Bildung nach Jongebloed besprochen, welche auf die Ermöglichung von Bildungsprozessen abzielt und in ihrer Übertragung auf die Zielgruppe für den präskriptiven Teil dieser Arbeit (Teil IV) relevant ist.

    1 Das Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

    Didaktisches Handeln bestimmt den Unterrichtsalltag von Lehrkräften sowie von allen, die professionelle Erziehungshandlungen in institutionalisierten Umgebungen durchführen (vgl. Bank 2013b: 2). Im Kontext des Berufsvorbereitungsjahres betrifft dies die Klassen- und Fachlehrer sowie die Schulsozialarbeiter. Didaktik ist dabei in einem weiten Begriffsverständnis als die Wissenschaft vom Lehren und Lernen zu verstehen (vgl. u.a. Peterßen 2001: 22). Dies umschließt folglich Aspekte des Lehrens, mithin die Themen- und Methodenwahl sowie die Implementation und Evaluation der geplanten Unterrichts- und Beratungssequenzen. Andererseits muss der Lerner mit seinen Voraussetzungen bezüglich der physischen und psychischen Konstitution sowie der sozialen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, um überhaupt Entscheidungen für oder gegen bestimmte Methoden oder curriculare Modelle treffen zu können. Im Zuge dessen ist die Lehrkraft angehalten, auch ihre eigenen Voraussetzungen und deren Einfluss auf das eigene Lehrhandeln zu reflektieren. Demzufolge erfordert die didaktische Planung drei Ebenen der Betrachtung: das (zu planende) Lehrhandeln, das (erwartete) Lernhandeln und die (potentiellen) Lehr-Lern-Interaktionen (vgl. Bank 2013b: 100).

    Weiterhin formuliert Bank bezüglich des didaktischen Handelns zwei Postulate, die auch hier zum Anspruch erhoben werden:

    „Postulat 1: Eine wohlverstandene Didaktik muß helfen, die analytische Grundstruktur erkenntnisorientierten Lernens bewußtzumachen und in gezieltem didaktischen Handeln auszugestalten." (Bank 2013b: 68, im Original mit Hervorhebungen)

    „Postulat 2: Eine wohlverstandene Didaktik muß helfen, praktische Lebensvollzüge systematisch zu reflektieren und Erkenntnisse in die Lebensvollzüge zu transferieren." (ebd.: 69, im Original mit Hervorhebungen)

    Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Bewusstsein um die „analytische Grundstruktur erkenntnisorientierten Lernens" (vgl. ebd.: 68) zielgruppenabhängig ist, worin sich unterschiedliche Handlungsweisen der Lehrkräfte bezüglich verschiedener Bildungsgänge legitimieren. Im zweiten Postulat tritt insbesondere die Bedeutung des Transfers des Gelernten in die Lebenswelt der Lernenden in den Vordergrund. Beide Postulate werden im präskriptiven Teil der Arbeit (Teil IV) nochmals aufgegriffen.

    Die Grundlage für die didaktischen Überlegungen in dieser Arbeit ist das Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik nach Bank (2013b), in welchem jene Aspekte umfassend analysiert werden. Die Bezeichnung des Gesamtmodells ergibt sich dabei aus dem Allgemeinheitsanspruch, das heißt, das Modell soll für alle Lernenden gelten, sowie aus einem geringen Grad an Bestimmtheit, mithin für alle Lehr-Lern-Kontexte (vgl. ebd.: 31¹). In seiner Gesamtheit ist die Allgemeine Fachoffene Didaktik als das aktuell vollständigste didaktische Modell zu betrachten. Kapitel 1.1 beinhaltet zunächst einen Überblick über die Modellstruktur in ihrer zyklischen Grundanlage (vgl. ebd.: 93), wobei vor allem das Entscheidungsmodell betrachtet wird. Im Anschluss daran werden ausgewählte Themen herausgegriffen, die im Hinblick auf die vorliegende Arbeit besonders relevant sind (Kapitel 1.2 bis Kapitel 1.4).

    1.1 Die Grundanlage des Modells

    Bank greift in der Erarbeitung seines Modells auf bereits vorliegende Didaktikmodelle und -ansätze (Berliner Modell, Bildungstheoretischer Zugang, Informationstheoretisches Modell, Curriculumtheorie, Kölner Modell²) sowie Lern-, Transfer- und Kommunikationstheorien zurück und integriert diese in das Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik, welches zwei Teilmodelle beinhaltet: das Entscheidungsmodell und das Implementationsmodell (vgl. Bank 2013b: 4 f.). Während das Entscheidungsmodell vorrangig strukturorientiert ist und zur Planung und Auswertung einer Unterrichtseinheit anleiten soll, liegt der Fokus des Implementationsmodells insbesondere auf den prozessualen Aspekten des Unterrichts, mithin der sinnvollen Artikulation, Fragen der Motivierung und der Bereitstellung des Gelernten sowie der Beachtung von Kommunikationsregeln während des Unterrichts- oder Beratungsprozesses (vgl. ebd.: 4).

    Die Phasen des Gesamtmodells sind Analyse und Entscheidung, Implementation und Evaluation. Da Letztere bereits wieder der Analyse der nächsten Unterrichtseinheit dient, differenziert Bank zwei Teilmodelle, wobei die Evaluation dem Entscheidungsmodell zugeordnet wird (vgl. Abbildung 1).

    Abbildung 1: Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik

    Quelle: vgl. Bank 2012: 4; 2013a: 97.

    Die Analyse umfasst die Zielbestimmung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Ebene der höchsten pädagogischen Ziele wird dabei über Grundwerturteile (GWU) abgebildet, über welche bezüglich des Schulwesens mittels gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse demokratisch abgestimmt wird und die somit nicht von der einzelnen Lehrkraft beschlossen werden (ausführlicher dazu vgl. Bank 2013b: 102 ff.). Dennoch dienen Grundwerturteile als Richtlinie für jegliches pädagogisch-didaktische Handeln und alle nachrangigen Ziele müssen auf diese rückgebunden werden und besitzen folglich instrumentellen Charakter (vgl. ebd.: 101).

    Zwischen den Zielen verschiedener Ebenen sollen mittels eines wissenschaftlich korrekten Zielbestimmungsverfahrens Transparenz und Widerspruchsfreiheit sichergestellt werden. Die einzig mögliche Art der Zielbestimmung ist nach Bank das Verfahren der Abduktion, welches einer deontologischen Modifizierung unterworfen wird, mithin einen normativen Anspruch erhält (vgl. ebd.: 119). In den didaktischen Vorgängermodellen ist die Zielbestimmung hingegen oft nicht nachvollziehbar (vgl. ebd.: 92), wobei die Deduktion von Lehr-Lernzielen von Bank zudem als unzulässiges Schlussverfahren beschrieben wird, da keine logische Folgerung von einem höheren Ziel auf die feineren Modalziele möglich ist. Die Entscheidung für die Verfolgung eines Ziels und damit gegen ein anderes ist nicht logisch herzuleiten (vgl. ebd.: 115 f.).

    Bezüglich der Analyse der Bedingungsfelder sind zwei Abduktionsschritte notwendig, da „ohne hinreichende Kenntnis der individuellen und soziokulturellen… Merkmale keine fundierten Auswahlentscheidungen… zu treffen [sind]" (ebd.: 95). Nachrangige Ziele sind demnach unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen des Lehr-Lern-Kontextes zu bestimmen, wodurch sich eine Ausdifferenzierung verschiedener Zielniveaus ergibt (vgl. ebd.: 116). Ein dritter Abduktionsschritt besteht nach Bank in den Auswahlentscheidungen bezüglich des Themen-, des Aspekt- und des Methodenfeldes, wobei er aufgrund der Vielfalt der Entscheidungen von einem Abduktionsprozess spricht (vgl. ebd.: 149). Die getroffenen Entscheidungen spiegeln sich in einem singulären Curriculum wider, mithin einer zeitlichen oder einer thematischen Unterrichtseinheit (vgl. ebd.: 97). Damit wird das Entscheidungsmodell beschlossen. Jedoch stellt das singuläre Curriculum gleichzeitig die Verbindung zum Implementationsmodell dar, welches die konkrete unterrichtliche Umsetzung dessen umfasst und dem schließlich die Evaluation der Lehr- und Lernhandlungen im Rahmen des Entscheidungsmodells folgt (vgl. ebd.: 94). Die Schritte der unterrichtsspezifischen Entscheidungen sowie der Implementation werden in dieser Arbeit nur vereinzelt angesprochen. Bezüglich des Methodenfeldes ist beispielsweise in Kapitel 13 und 14 die Mäeutik (Aktionsform), in Kapitel 14 zusätzlich die Binnendifferenzierung der BVJ-Klasse (Sozialform) von Bedeutung. Die Evaluation erfolgt in Teil IV auf der Ebene der Rekonstruktion, indem aufgrund der Befunde der didaktischen Analyse (Teil III) Anregungen vor allem für die makrodidaktische Ausgestaltung des BVJ erarbeitet werden, um „getroffene Entscheidungen unter Umständen zu revidieren" und nachfolgenden BVJ-Generationen bessere Rahmenbedingungen zu ermöglichen (ebd.: 7).

    Im Folgenden sollen verschiedene Aspekte des Modells ausführlicher erörtert werden. Hierzu zählen die Zielbestimmung nach der deontologisch modifizierten Abduktion (Kapitel 1.2), die Stufe der Schwierigkeit als Leitgedanke für die Mäeutik (Kapitel 1.3) sowie die Binnendifferenzierung des Unterrichts (Kapitel 1.4). Andere Aspekte, wie die Beschreibung der soziokulturellen und individuellen Voraussetzungen sowie die schulischen Rahmenbedingungen, werden in Teil III, der didaktischen Analyse, umfassend erläutert und finden deshalb hier keine weitere Berücksichtigung.

    1.2 Didaktischer Fokus 1: Die Abduktion als Zielbestimmungsverfahren

    Als Zielbestimmungsverfahren wählt Bank die Abduktion, welche von Peirce neben der Induktion und der Deduktion als drittes Schlussverfahren beschrieben wurde und auch als Hypothese bezeichnet wird, da mittels dieses Schlussverfahrens Hypothesen bezüglich eines beobachteten Phänomens unter Annahme einer bestehenden Regel generiert werden (vgl. Peirce 1878/ 1991: 231 ff.; Bank 2013b: 118). Hypothesen sollen einen Sachverhalt klären, der über die eigene Erfahrung hinausgeht und sind folglich, unter der Voraussetzung, dass die Regel bewährt ist, erkenntniserweiternd (vgl. Bank 2013b: 119). Ein anschauliches Beispiel von Peirce (1878/ 1991: 233) befindet sich in der nachfolgenden Textbox.

    Quelle: vgl. Peirce 1878/ 1991: 233.

    In der Bestimmung von schulischen oder betrieblichen Lehr-Lernzielen muss das ontologische Verfahren nach Peirce jedoch für normative, mithin deontologische³ Zusammenhänge modifiziert werden (vgl. Bank 2013b: 119). Hierfür tritt an die Stelle des Phänomens eine Norm beziehungsweise ein Grundwerturteil im ersten Abduktionsschritt. Unter bestimmten Bedingungen (Regel) können daraus Ziele (Hypothese) entwickelt werden, welche die Norm für weitere nachrangige Ziele darstellen (vgl. ebd.). Der hypothetische Charakter der Ziele zeigt sich darin, dass erst nach der Lehr-Lern-Sequenz abschließend festgestellt werden kann, ob das Ziel für das erwünschte Verhalten geeignet war.

    Die unterrichtlichen Rahmenbedingungen werden im Modell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik in das primäre und das sekundäre Bedingungsfeld unterteilt (vgl. ebd.: 119; Bank 2013a: 97). Mittels der primären Bedingungen werden die Erziehungsziele bestimmt, indem die individuellen und soziokulturellen Voraussetzungen der zu Erziehenden eruiert werden. Nachdem die möglichen Erziehungsziele für die Zielgruppe festgelegt wurden, werden die makrodidaktischen Handlungsbedingungen (sekundäre Bedingungen) analysiert, woraus eine situationsspezifische Lehrintention oder ein Unterrichtsziel herzuleiten ist (vgl. Bank 2013a: 97; siehe oben Abbildung 1). Bank greift dabei zum einen auf die Anlage-Umwelt-Kontroverse zurück und andererseits auf die Makrodidaktik, wie von Braukmann (u.a. 1993) beschrieben.

    In dieser Arbeit wird indessen die Ökologische Theorie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner zugrunde gelegt. Im Grunde erfordert auch diese Herangehensweise zwei Abduktionsschritte, da die psychischen und physischen Voraussetzungen des Individuums bei Bronfenbrenner nicht explizit betrachtet werden. Der situative Rahmen der Schule beziehungsweise des Unterrichts stellt hingegen nach Bronfenbrenners theoretischem Ansatz ein Mikrosystem des Jugendlichen dar und ist folglich neben der familiären Herkunft, der Wohnregion oder dem Freundeskreis (vgl. Bank 2013b: 127 ff.) zunächst zwar den soziokulturellen Voraussetzungen zuzuordnen. Eine Verdichtung des Abduktionsprozesses auf einen Schritt würde indessen zu kurz greifen, weil die Schule zwar in soziokultureller Betrachtung ein Erfahrungsfeld der Schüler darstellt, jedoch muss sie darüber hinaus als Struktureinheit für das Lehrhandeln begriffen werden, sodass die aktuellen und für jede Schule unterschiedlichen makrodidaktischen Rahmenbedingungen, mithin die räumliche, sächliche und personelle Ausstattung der Schule (vgl. ebd.: 143 ff.), eine weitere Zielebene unterhalb der Erziehungsziele verlangen.

    Im Folgenden wird die deontologisch modifizierte Abduktion zunächst beispielhaft hinsichtlich der Bestimmung von Erziehungszielen für BVJ-Schüler aufgezeigt, das heißt unter Berücksichtigung der Zielgruppenspezifika (vgl. ebd.: 123). Trotz des stets vorherrschenden Maßes an Diversität in Schulklassen (vgl. Bank et al. 2011) sollte die Zielgruppe dennoch in mindestens einem Merkmal homogen sein (vgl. Bank 2013b: 123).

    Im zweiten Schritt erfolgt die deontologisch modifizierte Abduktion der Lehrintention aus den bereits abgeleiteten Erziehungszielen (hier am Beispiel von Erziehungsziel (EZ) 1) unter Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen.

    Die abduktiv ermittelten Ziele müssen ferner nach der Durchführung der Unterrichtseinheit auf ihre Effektivität und Effizienz bezüglich der Erreichung höherer Ziele sowie im Vergleich zu anderen Zielen auf derselben Hierarchiestufe überprüft werden (vgl. Bank 2013b: 119). Wurde das Ziel nicht erreicht, muss reflektiert werden, an welcher Stelle der Entscheidungsfindung oder der Implementation es der Revision bedarf (vgl. ebd.).

    Schule und Unterricht werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit dabei nicht bezüglich der Implementation einer konkreten Unterrichtseinheit betrachtet, sondern lediglich in allgemeiner Form als Mikrosystem, in dem Lehrer und Schüler interagieren. Die Untersuchung des Gestaltungspotentials bezüglich der makrodidaktischen Handlungsbedingungen wird ferner nicht von einer Lehrkraft im BVJ vorgenommen, um die nachfolgenden didaktischen Schritte zu planen. Das Lehrhandeln ist jedoch insofern relevant, als es wesentlich zum Erfolg des Lernhandelns beiträgt. Damit erlangen in dieser Arbeit im Hinblick auf das pädagogische Personal insbesondere deren Ausbildung sowie deren Einstellungen zu prekären Zielgruppen an Bedeutung (Kapitel 9.3.2).

    Anhand der Aufarbeitung von Literaturrecherchen, Lehrerbefragungen an sächsischen Berufsschulzentren, Hospitationen in BVJ-Klassen und Lehrerinterviews (Teil III) erfolgt dann in Teil IV eine Rekonstruktion des BVJ im Sinne der Evaluation im Entscheidungsmodell der Allgemeinen Fachoffenen Didaktik. Es wird demnach nicht die einzelne Unterrichtseinheit und deren zugrunde liegendes singuläres Curriculum für die Evaluation herangezogen, sondern eine Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse hinsichtlich des Lehr- und Lernhandelns.

    1.3 Didaktischer Fokus 2: Die Stufe der Schwierigkeit

    Bezüglich der Artikulation des Lernens, insbesondere bei „erzieherisch gelenktem Lernen, verweist Roth auf sechs Stufen, die zu durchlaufen sind, um Lernprozesse durch Lehrhandlungen pädagogisch zu unterstützen (Roth 1960: 395, 402). Grundsätzlich unterscheidet er zwischen funktionalem („naturhaft) und intentionalem („gezieltes Steuern) Lernen (1960: 402). Während beim funktionalen Lernen, welches nicht durch Erzieher und Lehrer gelenkt wird, die Stufen nicht zwingend in einer vorgegebenen Reihenfolge ablaufen, sondern vielmehr wie eine „Zickzacklinie, sollte beim intentionalen Lernen auf eine Stufenabfolge geachtet werden, um den Lernprozess anzuregen und zu begleiten (ebd.). Die Stufenabfolge für schulisches Lernen besteht dabei aus den folgenden Stufen: Motivation, Widerstand (auch: Schwierigkeit), Einsicht (auch: Lösung), Tun, Üben und Bereitstellen (vgl. ebd.: 402 ff.).

    Zur Initiierung eines Lernvorganges sind die Stufe der Motivation und die der Schwierigkeit von besonderer Bedeutung, da es ohne „Widerstandserlebnis" kein sinnvolles Lernen geben kann (Roth 1960: 402). Beide Stufen sind dabei nicht eindeutig voneinander zu trennen, da eine echte, mithin nichtdidaktische Fragestellung des Schülers die Motivation zu deren Lösung häufig beinhaltet (vgl. Bank 2013b: 298). Das Konstrukt der Lernmotivation wird im Weiteren in Kapitel 8.4 vertiefend erläutert. Nach Roth können sich

    „ohne Widerstand keine neuen Kräfte [entfalten]. Das Erleben des Widerstandes, des Nicht-weiter-Kommens, des Sich-ändern-Müssens, des Sich-umstellen-Müssens gehört als notwendiger Bestandteil zum Lerngeschehen. Ja, der Lehrende muß gerade dieses Widerstandserlebnis herbeiführen, wo es sich nicht von selbst aus dem Spannungsgefälle zwischen Ausgangslage und Endziel ergibt. Erst am Widerstand erfahre ich den unmißverständlichen Antrieb, meine Kräfte zu steigern, meine Methoden umzustellen, alle früheren Erfahrungen ins Spiel zu bringen, andere Menschen um Hilfe zu bitten usw. Die richtige individuelle Steuerung und Dosierung des Widerstandes stellt geradezu eine der wirksamsten Lernhilfen dar." (Roth 1960: 402)

    Unter Berücksichtigung dieses Zitates sowie Roths Beschreibung der Stufe der Einsicht, die als überzeugend und echt erfahren werden solle, um der Neugier, welche aus der Stufe der Schwierigkeit erwachsen ist, gerecht zu werden und für die eine aktive Beteiligung der Lernenden von Vorteil sei (vgl. ebd.: 402 f.), bietet sich eine Unterrichtsmethode besonders an: die Mäeutik.

    Die Mäeutik ist eine Form der didaktischen Gesprächsführung (vgl. Bank 2011b: 79 f.), die auf Sokrates zurückgeführt wird (vgl. ebd.: 81) und insbesondere für den Philosophieunterricht nutzbar gemacht wurde (vgl. Nelson 1922/ 2002: 21), thematisch jedoch grundsätzlich universell einsetzbar ist (vgl. Bank 2011b: 80). Sie stellt allgemein betrachtet eine Aktionsform des Unterrichts dar und zielt darauf ab, bestehende Vorurteile der Schüler „zu begründeten Urteilen weiterzuentwickeln (ebd.: 81), mithin Lernvorgänge zu initiieren ohne dabei das zu Vermittelnde, sogenannte „allgemeine Wahrheiten (Nelson 1922/ 2002: 33), bereits als Lösung zu präsentieren und den Schüler als passiven Rezipienten zu betrachten (vgl. Bank 2011b: 81) ⁴.

    „Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann sie nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt." (Nelson 1922/ 2002: 33 f.)

    Der Lehrkraft kommt demnach die Aufgabe zu, die Schüler bewusst und gezielt vor ein Problem zu stellen, das sie vorher nicht als solches betrachtet haben (vgl. ebd.: 39; Bank 2011b: 81), sodass sie gezwungen sind, ihre auf Erfahrungen beruhenden Vorurteile zu hinterfragen und gegebenenfalls zu widerlegen. Nelson konstatiert dazu, dass die sokratische Methode nicht darauf abzielt, die Schüler den Weg ohne Anleitung finden zu lassen, sondern die Lehrer sollen die Schüler in die Selbständigkeit begleiten, bis sie das „Alleingehen wagen (1922/ 2002: 46 f.). Nur so können die Schüler die „Methode der Lösung erkennen (ebd.: 46). Die Steuerung des Lernprozesses dient ferner dem Vorbeugen von Motivationsverlusten und der Förderung der Lernerfolge (vgl. Bank 2011b: 81).

    Für das Gelingen der Mäeutik fasst Bank drei grundlegende Voraussetzungen zusammen: (1) die Logik, vor dem Hintergrund der Widerspruchsfreiheit der (wissenschaftlichen) Sätze sowie der Unmöglichkeit einer Zwischenlösung, (2) eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und (3) die Bereitschaft beider, in einen Diskurs zu treten und Verständnisfragen zuzulassen, da Schüler und Lehrer prinzipiell voneinander lernen können (vgl. ebd.: 84 f.). Der Lehrer muss folglich bereit sein, auch das eigene Wissen als Doxa (vgl. Abbildung 2) auf den Prüfstand zu stellen (vgl. ebd.: 85).

    Da die Mäeutik nicht auf ein Themengebiet begrenzt ist, kann sie als Methode in jedem Unterrichtsfach oder Lernfeld Anwendung finden. Ausgangspunkt ist etwa ein aktuelles Problem, von dem die Gesprächsteilnehmer betroffen sind oder welches sie zumindest nachvollziehen können (vgl. ebd.: 86). Ist das Problem klar herausgestellt (vgl. Nelson 1922/2002: 48 ff.; Bank 2011b: 86), schließt sich die Elenktik an, deren Ziel die „Erkenntnis der Unwissenheit" (Aporie) ist (Bank 2011b: 86) und somit das Erreichen der Stufe der Schwierigkeit. Diese Unwissenheit wird vom Lehrer genutzt, um den Schüler zum Nachdenken zu ermuntern (Protreptik) und eine zumeist vorläufige Erkenntnis (Epistemé) zu erlangen, welche in einem späteren mäeutischen Gespräch wieder zum Diskurs gestellt werden kann (vgl. ebd.: 87). Die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit ist hierbei als Stufe der Schwierigkeit zu betrachten und damit als entscheidender Aspekt, um einen Lernprozess in Gang zu setzen (Bank 2011b: 86). Die gewonnene Erkenntnis der Schüler stellt die Stufe der Einsicht oder auch der Lösung dar, welcher dann die Anwendung, die Übung und der Transfer in die Erfahrungsfelder folgen muss (vgl. Roth 1960: 402 ff.; Bank 2011b: 87).

    Abbildung 2: Ablauf der Mäeutik als didaktische Gesprächsform

    Quelle: vgl. Bank 2011b: 89.

    Der Ablauf eines mäeutischen Gespräches kann also anhand der ersten drei Artikulationsstufen des Lernens nach Roth nachvollzogen werden, wobei das Ergebnis des Gespräches dazu befähigen soll, die anderen drei Stufen selbständig durchzuführen. Des Weiteren weist Bank darauf hin, dass ein mäeutisches Gespräch trotz des vorgegebenen Ablaufschemas nicht in ein zeitliches Korsett gepresst werden kann, da der Weg in die Aporie und später in die Erkenntnis maßgeblich von den je individuellen Voraussetzungen der Schüler geprägt ist (vgl. Bank 2011b: 90).

    Im Folgenden sollen erste Überlegungen unternommen werden, die Mäeutik sinnvoll im BVJ anzuwenden. Das besondere Merkmal der Zielgruppe ist der fehlende Schulabschluss bei gleichzeitiger Schulpflicht und Schulmüdigkeit. Einige der BVJ-Schüler weisen jedoch trotz mangelnder schulischer Lernmotivation großes Interesse an praktischen Tätigkeiten und der Aufnahme einer Berufsausbildung auf. Die Anfangsstruktur besteht folglich in der Annahme: ‚Schule kann ich nicht, Schule brauche ich nicht‘. Mittels des gezielten und gelenkten Einsatzes praktischer Tätigkeiten, vor allem durch Praktika, stellt im Idealfall jeder für sich fest, dass er bestimmte Dinge ohne entsprechende schulische Erkenntnisse praktisch nicht umsetzen kann (Aporie). Sie erkennen die Schwierigkeit, dass das Erlernen eines Berufs unter anderem maßgeblich die Beherrschung grundlegender Kulturtechniken voraussetzt. An dieser Stelle können sowohl die Lehrkräfte als auch die Praktikumsbetreuer ansetzen und den Schüler, im günstigen Fall nun zum schulischen Lernen ermuntert, individuell fördern. Dabei ist auch hier jeder Dogmatismus zu vermeiden, will man den Schülern schulisches Lernen wieder näher bringen.

    Der Zusammenhang zwischen den Artikulationsstufen des Lernens nach Roth und der Mäeutik zeigt sich folglich darin, dass durch verschiedene didaktische Varianten in der Schule sowie die Auslagerung bestimmter Lernprozesse in Praktikumsbetriebe die Stufe der Schwierigkeit während der Ausführung einer beruflichen Aufgabe erreicht wird, die Einsicht jedoch in der Regel in der Schule erfolgt (vgl. Eggers/ Scholz 1998: 243). Mittels der Praxis werden die Schüler demnach zum schulischen Lernen motiviert, da sie die Stufe der Schwierigkeit überwinden wollen, um einer Lösung ihres bestehenden Problems näherzukommen. In den Kapiteln 13 und 14 wird dieser Zusammenhang im Rahmen der Anregungen zur Ausgestaltung des BVJ nochmals besprochen.

    1.4 Didaktischer Fokus 3: Die Binnendifferenzierung des Unterrichts

    Das Konzept der Binnendifferenzierung oder auch der inneren Differenzierung wird in Deutschland seit etwa dreißig Jahren verstärkt diskutiert, wobei es bisher an konkreten Ergebnissen aus der Schulpraxis weitestgehend mangelt (vgl. Trautmann/ Wischer 2008: 168). In didaktischer Hinsicht wird die Binnendifferenzierung des Unterrichts den Sozialformen zugeordnet und beinhaltet alle Unterrichtsmethoden, die nicht mit der gesamten Klasse durchgeführt werden (vgl. Bank 2013b: 190). Die Schüler lernen in Gruppen-, Partner- oder Einzelarbeit (Individualisierung), wobei die verschiedenen Teams nach unterschiedlichen Aspekten zusammengesetzt werden (vgl. ebd.: 192 f.). Demnach kann die Heterogenität oder die Homogenität bei der Gruppenbildung im Vordergrund stehen oder auch die zufällige Zuteilung. Darüber hinaus ist eine aufgabenbezogene Differenzierung denkbar, wobei entweder der gleiche Arbeitsauftrag an alle Gruppen vergeben wird, jede Gruppe einen eigenen Arbeitsauftrag erhält, der dann zum Gesamtverständnis der Thematik beiträgt, oder gänzlich verschiedene Themen bearbeitet werden, die jedoch letztlich im Klassenverband zu diskutieren sind (vgl. ebd.: 193). Bei leistungshomogenen Gruppen besteht außerdem die Möglichkeit, das Thema für die einzelnen Gruppen unterschiedlich stark zu reduzieren beziehungsweise den Grad der Reduktion mit Fortschreiten der Thematik auf verschiedene Weise wieder aufzuheben (vgl. ebd.: 194).

    Vor einer Gruppierung der Schüler sind im Lehrerkollegium beziehungsweise in der eigenen didaktischen Analyse zunächst

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