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Totora
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eBook341 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Jorge Beltrán geht in Las Arenas an der Nordküste Perus dem uralten Handwerk der Totorafischer nach. Sie paddeln ihre wendigen, aus Schilfbinsen gebundenen Boote rittlings auf den fischreichen Pazifik hinaus wie zahlreiche Generationen vor ihnen. Traditionsbewusst und stolz erzielen sie mit archaisch anmutenden Methoden ein karges Einkommen und erfreuen sich ihrer Freiheit und Unabhängigkeit.
Doch die motorisierte Fischerei wird zu einer ernsthaften Konkurrenz. Durch das Überangebot verfallen die Preise an den Märkten. Ihre Existenzen sind bedroht. Als dann das Klimaphänomen El Niño besonders heftig auftritt, bleiben ihre Fänge aus. Ihr uraltes Handwerk steht vor dem Ende.
Jorges Liebe zu Isabel bringt weiteres Ungemach. Ihre Eltern verbieten die Beziehung kategorisch. Sie fühlen sich als Nachkommen der Inka und Opfer der conquista. Für sie ist Jorge Abkömmling der spanischen Invasoren. Jorges Mutter missbilligt die Verbindung aus Gründen, über die sie schweigt. Als Isabel schwanger wird, heiraten die beiden gegen den Willen ihrer Familien. Jorge muss dringend für geregeltes Einkommen sorgen. Sein einfaches Leben steht vor einem dramatischen Einschnitt. Er ist im modernen Peru angekommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum27. Juli 2015
ISBN9783739255620
Totora
Autor

Uwe Geilert

Der Autor lebte sechzehn Jahre im südlichen Afrika und gewann einen Einblick in den Diamantenbergbau. Er lernte Menschen aller Hautfarben, vieler Ethnien, Glaubensbekenntnisse und Überzeugungen kennen. In diesem Roman erzählt er die Schicksale von vier Generationen der Familie Nkumalo. Der Autor lebt heute am Niederrhein.

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    Buchvorschau

    Totora - Uwe Geilert

    Der Anlass

    Vor 500 Jahren stoßen die spanischen Eroberer über den Isthmus von Panama bis an den Pazifik vor. Zehn Jahre später landen sie an der Westküste Südamerikas und unterwerfen das Reich der Inka. Bald darauf gründet die Krone das Vizekönigreich Peru, das sich von Panama bis Feuerland ausdehnt. Trotz Unabhängigkeitsbewegung und der Bildung von Nationalstaaten überdauern Teile der feudalen Strukturen bis in die Gegenwart.

    Vor fünfzig Jahren versucht Peru eine Veränderung des alten Systems, insbesondere des Großgrundbesitzes. Das Militär putscht sich unblutig an die Macht und verkündet unter anderem eine Agrarreform. Seitdem hat sich das Land grundlegend gewandelt.

    Die Erzählung

    Jorge Beltrán geht in Las Arenas an der Nordküste Perus dem uralten Handwerk der Totorafischer nach. Sie paddeln ihre wendigen, aus Schilfbinsen gebundenen Boote rittlings auf den fischreichen Pazifik hinaus wie zahlreiche Generationen vor ihnen. Traditionsbewusst und stolz erzielen sie mit archaisch anmutenden Methoden ein karges Einkommen und erfreuen sich ihrer Freiheit und Unabhängigkeit.

    Doch die motorisierte Fischerei wird zu einer ernsthaften Konkurrenz. Durch das Überangebot verfallen die Preise an den Märkten. Ihre Existenzen sind bedroht. Als dann das Klimaphänomen El Niño besonders heftig auftritt, bleiben ihre Fänge aus. Ihr uraltes Handwerk steht vor dem Ende.

    Jorges Liebe zu Isabel bringt weiteres Ungemach. Ihre Eltern verbieten die Beziehung kategorisch. Sie fühlen sich als Nachkommen der Inka und Opfer der conquista. Für sie ist Jorge Abkömmling der spanischen Invasoren. Jorges Mutter missbilligt die Verbindung aus Gründen, über die sie schweigt. Als Isabel schwanger wird, heiraten die beiden gegen den Willen ihrer Familien. Jorge muss dringend für geregeltes Einkommen sorgen. Sein einfaches Leben steht vor einem dramatischen Einschnitt. Er ist im modernen Peru angekommen.

    Der Autor

    Während eines beruflichen Aufenthalts hat der Autor Peru privat intensiv bereist. Ihn faszinieren die Freundlichkeit der Menschen, die Kulturgeschichte, die Geologie und der Reichtum der Natur. Er trifft auf Reste deutlich kolonialer Strukturen, schroffe soziale Gegensätze, Armut, Hoffnungslosigkeit, Landflucht in die Slumgürtel der Großstädte, aber auch auf die Verklärung des vergangenen Inkareiches. Unter der mittellosen Bevölkerung wächst der Unmut. Widerstand ist vorprogrammiert, eine Spielwiese für politische Populisten und weitsichtige Pioniere. Er wird Zeuge des politischen Umbruchs 1968 und ein Jahr später der peruanischen Agrarreform.

    Sämtliche Handlungen, Charaktere und Dialoge in diesem Buch sind rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind zufällig und unbeabsichtigt. Die Namen von Personen, Firmen, Orten und Straßen wurden teilweise verändert.

    Jorge Beltrán stand auf einem flachen Steinhügel oberhalb der Bucht und suchte mit zusammengekniffenen Augen die Wasserlinie ab. Von hier hatte er einen guten Überblick. Er war groß und kräftig. Sein blonder Haarschopf war vom Meerwasser verkrustet. Wo sein Hemd erst nass geworden und dann wieder getrocknet war, zeigten sich weiße Salzringe. Seine ausgefransten Hosenbeine reichten ihm gerade bis an die Waden. Die Mittagshitze wurde erbarmungslos vom Sand zurückgeworfen. Seine Fußsohlen brannten. Der auflandige Wind hatte eingesetzt. Die über dem Land erhitzte Luft stieg in die Höhe und zog Seeluft an. Fliegende Sandkörner prallten schmerzend gegen seine Beine. Das weiße Schaumband der Wellen blendete seine Augen. Am Horizont berührte der helle Himmel die dunkle scharfe Linie des sanft gekrümmten Ozeans. Mittags, wenn die Sonne hoch stand, wirkte das Wasser schwarz.

    Wieder einmal musste er Raúls kleine Totora suchen. Immer vergaß der faule Bengel, sein Schilfboot hoch genug auf den Strand zu ziehen, damit es die nächste Tide nicht holte. Jorge war zornig auf den zwölf Jahre jüngeren Bruder und brummig auf seine Mutter, weil sie bei Raúl so viel durchgehen ließ. Jorge war zehn gewesen, als der Vater nicht wiederkam. So wuchs Jorge in die Rolle des Brotverdieners hinein, Raúl aber blieb Mutters Nesthäkchen. Jorge fühlte sich wie ein Bursche, der dem jungen Herrn das Spielzeug nachräumen muss.

    Er musste sich beeilen, denn zwei bis drei Stunden würden genügen, um die Totora in der Brandung am Felsen zu Stroh zu zerfetzen. Geld für neues Binsenschilf war nicht da. Sie mussten es bei Bauern im nächsten Flusstal kaufen und nach Las Arenas transportieren, bevor er es mit den anderen Fischern zu einer Totora binden konnte. Die anderen wären nicht erfreut, nur wegen der Vergesslichkeit des verzogenen Jungen Stunden ihrer freien Zeit mit dem Bau einer Kindertotora zu verbringen. Jorge würde seine Kumpel mit einer oder zwei Extraflaschen Bier, besser drei, überzeugen müssen. Welcher Luxus! Eine Totora für ein Kind! Entweder bist du groß genug für eine echte Totora, oder du bist kein Fischer. Aber Mutter bestand darauf, dass Raúl das Handwerk schon früh erlernte. Und das begann nun mal mit dem Reiten auf dem Totora-Pferdchen. Nach Rückkehr vom Meer wurden sie zu dritt oder zu viert aufrecht aneinander gestellt, damit sie austrocknen konnten und das Schilf nicht faulte. Doch die anderen Jungen hatten keine Totoras, die sie mit Raúls bündeln konnten, so ließ der seine gedankenlos am Strand liegen.

    Um seine Augen zu erholen, ließ er sie über die weichen Formen der Sicheldünen gleiten. Die entstanden nicht weit vom Strand im stetigen Passatwind an kleinen Hindernissen, wuchsen langsam und wanderten landeinwärts. Bald wurden Millionen Sandkörnchen vorn hinauf geblasen und rollten hinten wieder hinunter. Sie wurden viele Meter hoch. Die Jungen hatten kleine Stöckchen in den Boden gesteckt, um zu messen wie viele Zentimeter die Düne an jedem Tag vorwärts kam. Es gab nichts Langsameres! Sie wanderten hinauf an die geteerte Fernstraße. Dort hörten sie auf, denn die fanden keine Haftung. Sie wehten als dünner Schleier davon. Die Straße hatten sie zur Zeit seines Großvaters durch den ganzen Kontinent gebaut, von Alaska bis nach Feuerland. Das hatte er ihm erzählt. Denn er hatte sich als Bauarbeiter an der Carretera Panamericana verdingt, damals, als er noch ein junger Kerl war. Der war auch Fischer gewesen, und die ließen keine Gelegenheit aus, sich etwas dazuzuverdienen.

    Jorge nahm die Suche wieder auf. Seine Gedanken schweiften zum Dorf und zu seinem Vater. Die Leute munkelten, er wäre abgehauen, einfach so. Doch er und seine Mutter bestanden darauf, dass sein Vater dort draußen beim Fischen ertrunken war. Jorge glaubte ihr und hielt an seinem Seemannstod fest, weil er es so wollte. Die anderen Fischer sahen das anders und wollten es ihm ausreden. In ihren Augen hatte Jorges Vater die richtige Entscheidung getroffen und ein besseres Leben gesucht und, so hofften sie, auch gefunden. Der hatte den Mut dazu gehabt. Da aber die Beweise fehlten, blieb ein Geheimnis um den Vater. Vielleicht hatte er entdeckt, dass die Mutter mit einem anderen Mann herumgemacht hatte und war deshalb abgehauen. Gerüchte waren schon immer wohlfeil in Las Arenas.

    Die Fischer fuhren immer in Gruppen aufs Meer, wegen der Sicherheit. Keiner der Fischer hatte bemerkt, dass dem Vater etwas zugestoßen war, sie wären ihm sofort zu Hilfe geeilt. Und seine verlassene Totora, seine Ausrüstung und sein Fang wurden nie gefunden. Irgendetwas stimmte nicht, argumentierten sie. Doch Jorge hatte sie jedes Mal hartnäckig zurechtgewiesen, wenn sie an seiner Darstellung zweifelten. Irgendwann waren sie es leid, und es wurde nie wieder darüber gesprochen. Ja, ja, die Fischer aus dem Dorf Las Arenas. Eine merkwürdige Gesellschaft. Und rund herum Sand, Sand, Sand. Überall. Gelb und grau, trocken und unfruchtbar. Daher hatte es seinen Namen.

    Jorge bildete sich ein, sein Vater wäre auch für ihn ertrunken, fühlte sich nicht nur verpflichtet, sondern stolz darauf, die Tradition der Totorafischer fortzusetzen. Es war ein alter, ehrwürdiger Beruf, fand er damals. Er gab ihm Freiheit, aber auch ein Gefühl von Verantwortung gegenüber den Kreaturen des Meeres, und er genoss die wohltuende Geborgenheit in Gemeinschaft mit den anderen Fischern. Sie trafen sich im weichenden Dunkel des frühen Morgens bei ihren aufrecht zusammengestellten Totoras, sie brachten sie zu Wasser, und dann paddelten sie hinaus. Je früher die Frauen mit dem Fang auf dem Markt waren, desto höhere Preise konnten sie fordern. Wenn später die Sonne erst hoch stand und grelle Speere durch die Löcher des rostigen Daches der Markthalle von Virú bohrte und helle Streifen in die stickige Luft zeichnete, wurde es schnell heiß. So heiß, dass der Gestank der Fischabfälle unerträglich wurde, denn die Frauen nahmen den Fisch noch lebend vor den Augen der Kunden aus und ließen die Abfälle in offene Eimer unter den Ständen glitschen.

    Die frühen Kunden waren die besten. Es waren die Köche der besseren Restaurants und die Haushälterinnen der Reichen, die zum Markt geschickt wurden, während sich die Señoras herrichteten oder die Kinder zur Schule chauffierten. Sie suchten sich die besten Stücke heraus und zahlten gute Preise. Wenn diese Kunden gegangen waren, machten die Frauen der Fischer, darunter Jorges Mutter, zwischen dem Morgen und dem Vormittag eine Pause, um sich für die zweite Phase zu stärken. Reihum kaufte eine der Frauen im Café gegenüber eine Runde Espresso und trug das Tablett mit den vielen kleinen Tassen erhobenen Hauptes von Stand zu Stand. Diese Pause war ihnen heilig, denn sie wussten, was danach kam. Die Fischfrauen harrten der Morgenbrise, die bald einsetzen würde, jeden Tag, verlässlich zur selben Stunde. Dann sprang der Wind an. Er kam vom Meer herauf und blies den Mief aus der Halle.

    Danach begann die harte Stunde der Pfennigfuchser, der schlitzohrigen Besitzer billiger Restaurants und der Hausfrauen mit dem kleinen Geldbeutel, die selbst einkaufen mussten. Es begann die Zeit des gnadenlosen Meckerns und harten Feilschens. Denen war nichts gut genug, obwohl sie wussten, wie frisch der Fisch war. Aber sie wussten auch, dass die besten Stücke jetzt verkauft waren und begannen ihre eiserne Jagd nach Schnäppchen.

    »Die Ware muss nach Meer duften, nicht nach Fisch stinken. Nicht so wie eure hier!«

    Das war einer ihrer dämlichsten Sprüche, denn nicht der Fisch stank, sondern der Abfall vom Morgen.

    Jorge konzentrierte sich wieder auf die Suche.

    Condenado rapaz!‹, schnaubte er.

    ›Raúl wird nie ein Fischer werden, dieser verfluchte Lausbub. Wie der mit seinem Boot umgeht, ist nicht einzusehen. Das tut kein richtiger Fischer.‹

    Sie nannten sie caballitos del mar, weil sie auf den Wellen bockten wie ein schlecht gezähmtes Pferd. Doch sie liebten und pflegten sie. Dafür hatte Raúl keinen Draht, das lag ihm nicht. Für ihn war es ein Spielzeug für sein Vergnügen, für Jorge ein Werkzeug zum Geldverdienen. Raúl interessierte sich dagegen für jedes kleine Skelett, jede Muschel, besonders gefärbte Steine. Er bewunderte die Kormorane, wenn sie im Sturzflug mit angelegten Flügeln wie Pfeile ins Meer stürzten und sah ihnen nach, bis sich ihre Blasenspur in der Tiefe verlor. Er zählte die Sekunden bis zum Auftauchen und verglich die Zeiten. Er erkannte die Kormorane an der Farbe ihrer Schnäbel oder an fehlenden Federn in den Schwingen. Für seine sechs Jahre hatte er ganz besondere Interessen.

    Außerdem wurde in Las Arenas über Raúls späte Geburt viel spekuliert, aber hinter vorgehaltener Hand. Mit wem hat seine Mutter ein Verhältnis, fragte man sich. Sein bester Freund Alejandro berichtete, dass auch bei ihm zuhause darüber geredet wurde. Öffentlich wurde nie darüber gesprochen, so als habe man Angst vor dem großen Unbekannten. Ein Fischer kann es nicht sein, die Neigungen Raúls waren der Beweis. Aber Mutter gab den Namen von Raúls Vater nicht preis.

    So sehr Jorge seine Augen zusammenkniff, das Boot war nirgends zu entdecken. Er beschloss zum Wasser zu gehen, um die Bucht systematisch von einem Ende zum anderen abzulaufen. Er musste die verdammte Totora finden. Aus den Augenwinkeln entdeckte er, dass zwischen den Sicheldünen jemand auf das Meer zuging, in der Hitze des Mittags! Niemand hielt sich zu dieser Zeit im Freien auf. Außer man suchte ein Boot wie er. Bald erreichte die Person den nassen Streifen, den die auflaufenden Wellen unterhalb des sonnensatten Sandes erzeugten und kam langsam in seine Richtung. Es musste eine Frau sein. Der Wind presste ihr Kleid an den Körper und ließ es auf der Leeseite heftig flattern. In einer Hand trug sie ihre Sandalen.

    Die hohe Gestalt erinnerte ihn an Isabel Yupanqui. Sie war größer als die anderen Mädchen, hatte helle Haut und nicht das strähnige, blauschwarze Haar und den gedrungenen Körper der Indios. Für ihn war sie ein Ideal, die eine Sorte Frau, von der er träumte. Die Frau, von der er hoffte, sie würde sich eines Tages für ihn entscheiden.

    Die andere Sorte Frauen, von denen er träumte, war für seine Begierden und seine Fantasien. Sie entsprangen den billigen Magazinen, die er selten genug zu Gesicht bekommen hatte, sie waren die Mädchen seiner Nachtträume. Wie oft hatte er sie im Schlummer umarmt, gestreichelt, wild geküsst und dann beim Aufwachen den nassen Fleck im Bett entdeckt.

    Jorge hatte kein Mädchen. Sein Tag war angefüllt mit Arbeit. Für den einzigen Mann in der Familie gab es immer zu tun. Am Wochenende wurde die Totora geflickt, neues Schilf eingezogen und verfaultes entfernt, das Wurfnetz repariert, oder die Speere wurden geschliffen. In seinen Tagträumen wünschte er Isabel als Braut an seiner Seite vor dem Altar, obwohl er die Kirche nur dann besuchte, wenn es unvermeidbar war, wie zu Allerseelen, um seines Vaters zu gedenken oder zu Weihnachten, wegen der feierlichen Stimmung.

    Er war zerrissen zwischen seiner Verliebtheit und der rauen Realität. Sein Verstand sagte ihm, dass sich sein Traum nie erfüllen würde. Die Yupanquis hielten sich für etwas Besseres und machten das in Las Arenas immer wieder deutlich. Geschickt verbreiteten sie, dass sie von den Inkas abstammten, dem letzten Herrschergeschlecht, bevor die Spanier kamen. Mit der Zeit glaubten ihnen das die meisten. Angeblich gingen ihre Vorfahren auf Manco Capac zurück, der einige Jahre nach der Landung Pizarros eine blutige Rebellion gegen die Spanier angezettelt hatte. Doch die nahmen ihn gefangen und brachten ihn um. Geschickt lenkte der alte Yupanqui, Isabels Vater, das Gespräch immer wieder auf dieses Thema. Er hatte sich die Geschichte der Eroberung eingeprägt und glänzte mit seinem Wissensvorsprung. Allmählich sammelte er Gleichgesinnte um sich, die sich einer romantischen Nostalgie hingaben und die Erstellung der alten Ordnung herbeiwünschten, der alten Werte, die sogar das Quetschua zur offiziellen Landessprache erklären wollten.

    Ovidio, einer von Isabels Brüdern musste mitbekommen haben, dass sich zwischen Jorge und Isabel etwas anzubahnen schien. In der Markthalle von Virú hatte er beobachtet, wie Isabel im Gewühl blitzschnell Jorges Hand ergriff und ihn ansah. Ehe Jorge begriff, was geschah, war sie wieder in der Menge verschwunden. Er war wie erstarrt stehengeblieben und hatte einen rostigen Geschmack im Mund gespürt. Wochen später traf Jorge zufällig auf Ovidio und dessen älteren Brüder. Im Vorbeigehen raunte er Jorge hochnäsig und deutlich zu, seine dreckigen, stinkenden Fischerfinger von Isabel zu lassen, sonst würde etwas passieren. Er schien sich im Schutz seines älteren Bruders sehr sicher zu fühlen.

    »Was soll schon passieren, du Hosenpisser«, parierte Jorge.

    Ovidio reagierte mit einer eindeutigen Fingerbewegung quer über den Hals und grinste frech zurück.

    »Rutsch doch über deine Mutter, du Hurensohn. Die ist einsam, seit dein Vater abgehauen ist. Sie wird sich freuen.«

    Das war in Lateinamerika eine Beleidigung zu viel. Den Bruchteil einer Sekunde später lag Ovidio mit blutender Nase am Boden. Der ältere Bruder war so verdutzt, dass er sich zuerst um Ovidio kümmerte. Dieser Jorge schien gut durchtrainiert, und er wollte weiteren Schaden vermeiden. Zudem waren beide Schimpfworte hijo de puta und concha tu madre in einem Atemzug ziemlich starker Tobak. Er beendete den Streit, indem er seinem Bruder aufhalf und ihn von der Szene entfernte. Natürlich sannen sie auf Rache. Ein paar Tage später lauerten sie Jorge auf, dieses Mal zu dritt. Er hatte nicht den Hauch einer Chance und wurde tüchtig verprügelt.

    Jorge suchte Verbündete. Doch er bekam nicht genügend Furchtlose zusammen. Seine Revanche musste warten. Die Yupanquis waren reich und hatten Einfluss in der Ansiedlung. Keiner wollte sich mit ihnen anlegen. Isabels Familie besaß das einzige Steinhaus von Las Arenas. Niemand wusste, womit ihr Vater so viel Geld verdiente, aber es war eben so. Das Haus stand nahe an der Panamericana, die anderen Leute wohnten in Hütten, die sie aus Baumstämmen, Zweigen und Brettern zusammengebaut hatten. Sie standen unterhalb der Straße und deshalb näher zum Meer und den aufrecht abgestellten Totoras. Die kurze Begegnung mit Isabel auf dem Markt hatte sich fest in seinem Kopf eingegraben, und jedes Mal, wenn er an sie dachte, spürte er diesen Geschmack in der Kehle.

    Er ließ die Erinnerung los und kümmerte sich wieder um die Suche nach Raúls verdammter Totora. Er musste sich sputen. Aus seinem Augenwinkel bemerkte er, dass die Frau näher gekommen war. Er drehte seinen Kopf herum. Es war tatsächlich Isabel! Er verlangsamte seine Schritte und ließ sie aufholen, ging einfach weiter und spielte den Gleichgültigen. Die Prügel von ihren drei Brüdern waren nicht vergessen, und er verspürte keine Lust auf Wiederholung. Vielleicht lauerten die Kerle bereits in Überzahl hinter einer Düne. Also gebot er seiner Freude Einhalt und unterdrückte sein Glücksgefühl. Isabel kam mit festen Schritten auf ihn zu und blieb auf gleicher Höhe mit ihm stehen.

    »Hallo Jorge, wo willst du hin?«

    Er hatte einen Kloß im Hals und schwieg.

    »Wenn du wieder einmal Raúls Totora suchst, am Cabo de Lobos habe ich eine treiben sehen. Komm, ich führ dich hin.«

    Sie nickte seitlich mit dem Kopf in die Richtung und lief los. In zwei Metern Abstand ging er neben ihr her.

    »Musst du wieder der Büttel deines Bruders sein?«

    Ihr Necken verdrängte die Angst vor ihren Brüdern. Er lief ins flache Wasser und spritzte sie nass. Lachend lief sie vor ihm weg, und sie lieferten sich eine spielerische Hetzjagd, mal den Strand hinauf, dann wieder durch die flachen Wellen, dass das Wasser durch die Luft perlte. Er jagte sie durch den Sand, blieb aber immer hinter ihr zurück, um ihren Körper und ihre Bewegungen sehen zu können. Keuchend hielt sie ein und setzte sich in den Sand. Endlich war er mit ihr allein und konnte mit ihr reden. Doch plötzlich fand er die Worte nicht mehr, die er sich für diesen Augenblick vorsorglich zurechtgelegt hatte. Er blieb stumm und sah sie mit offenem Mund an. Mit einer überraschenden Frage brach sie sein unbeholfenes Schweigen.

    »Warum bist du eigentlich blond und nicht so schwarzhaarig wie die anderen Jungen? Warum hast du blaue Augen?«

    Jorge zog die Schultern hoch, er hatte keine Erklärung, nur eine vage Erinnerung, dass sein Vater mal sagte, als er noch lebte, er stammte von den Spaniern ab, die Trujillo gegründet hatten. Da wäre ein Beltrán dabei gewesen, in dem war noch Blut von den Westgoten, hatte er gesagt. Das sollen nordische Menschen gewesen sein, die in grauen Vorzeiten auf die iberische Halbinsel gezogen waren. Mehr wusste er nicht.

    »Dann bist du kein Albino?«

    »--«

    Er wusste weder, warum sie das fragte, noch was ein Albino war und drängte zum Aufbruch. Sie gingen nebeneinander im harten, feuchten Sand oberhalb der Wellen. Ihre Hand glitt in seine. Er dachte wieder an die Prügel und blickte sich suchend um, ob ihm ihre Brüder auflauerten. Aber sie hatte seine Gedanken erraten.

    »Meine Brüder sind in der Stadt, um sich für das colegio anzumelden. Sie sollen das Abitur machen, genau wie Vater.«

    ›Ich würde auch gern das Abitur haben‹, dachte er.

    »Wirst du auch zum Colegio gehen?«

    »Gern würde ich, aber meine Eltern sagen, das ist nur was für Jungen. Für die Küchenarbeit und die Kindererziehung braucht man kein Colegio.«

    Schweigend gingen sie weiter. Draußen segelte eine Formation Pelikane in schräger Flugstaffel tief über die Wellen, immer auf der Suche nach etwas Fressbarem und immer elegant der Wellenkontur folgend. Er sah ihnen nach und wünschte, auch so fliegen zu können. Plötzlich trat sie vor ihn und hielt ihn fest. Lange und wortlos sah sie ihm in die Augen, so als wolle sie in ihn hinein sehen, als forschte sie ihn aus.

    Dann sagte sie diesen einen Satz.

    »Jorge Beltrán, ich bin für dich.«

    In seinen Adern raste das Blut, in seinem Kopf war ein Rauschen. Er konnte nicht sprechen, in seinem Hals saß ein Pfropfen. Tausend Gedanken zuckten durch sein Hirn. Noch vorhin war er völlig ohne Hoffnung gewesen, sie jemals für sich gewinnen zu können, und nun diese Erklärung, die klang wie ein Entschluss. Er wollte etwas erwidern, doch sie legte ihren Zeigfinger auf seine Lippen und verschloss seinen Mund.

    »Ich habe alles gesagt.«

    Am Ende der Bucht hing das Schilfboot schräg am Felsen. Mit jedem Auf und Ab der Dünung schabte es kratzend am rauen Stein, war aber zum Glück noch kaum beschädigt. Isabel watete mit ihm in das brusttiefe Wasser und half die kleine Totora zu bergen. Er nahm ihre Hände und küsste ihre Finger. Dann schwang er sich auf das Boot, bis er es rittlings in seiner Gewalt hatte und paddelte durch die Brandung in die ruhige Dünung. Er sah Isabel mit nassem Kleid den Strand hinauf gehen. Er sah ihr nach, bis sie hinter der nächsten Düne verschwunden war.

    Im ausladenden Bogen der Bucht fanden sie eine verborgene Stelle für ihre heimlichen Treffen, weit genug vom Dorf entfernt. Eine Gruppe großer Felsen bot Deckung und Ausblick zugleich. Niemand konnte sich diesem Ort nähern, ohne entdeckt zu werden. Nach jedem Hochwasser blieben Tümpel von Seewasser zurück, die von der Sonne schnell erwärmt wurden. Stein, Sand und Wasser wurden für die nächsten Wochen ihr gehüteter Garten von Eden. So oft sie sich unbemerkt von zuhause fortstehlen konnten, trafen sie sich dort. Sie planschten herum, schworen sich ewige Liebe, oder lagen mit verschränkten Händen im warmen Sand und sahen den Pelikanen zu. Sie fühlten sich losgelöst von der Welt um sie herum, sie wähnten sich auf einer Insel der Glückseligkeit.

    Jorge erzählte ihr vom Fischfang, wie er und die anderen Männer am frühen Morgen mit den Totoras hinaus paddelten, um den Tagesfang an Land zu bringen, wie sie am Nachmittag die Netze reparierten. Er erzählte ihr von den Kormoranen und Robben, die ihnen den Fang streitig machten oder von der Strömung, die sie oft weit hinaus trieb bis zu den Guano-Inseln, auf denen die Vögel nisteten. Er sprach stolz von seinem uralten gefährlichen Handwerk, mit dessen Hilfe sie etwas vom Überfluss der Natur abzweigten, um sich und die Menschen zu ernähren. Zukunftsängste hatte er nicht. Fischer würde es geben, solange es Menschen gab, die Fisch verzehrten. Er war ein guter Fischer. Oft führte er eine Gruppe an die ergiebigen Schwärme heran, denn er konnte ihre Zugrichtung ›lesen‹. Meistens waren sie die ersten, die mit reicher Beute wieder an Land gingen.

    Sie liebkosten sich gegenseitig. Jorge empfand einen unwiderstehlichen Reiz darin, ihren schönen Körper zu diesem kraftvoll rhythmischen Aufbäumen zu bringen. Wenn ihre Erschöpfung gewichen war, beugte sie sich halb über ihn, um ihn zu streicheln und liebevoll zu massieren und beobachtete dann fasziniert seinen Erguss. Sie vermieden, wenn auch mit großer Mühe, es ›zum Äußersten‹ kommen zu lassen. So ging das viele Wochen. Dann stellte sie ihm diese Frage.

    »Jorge, wirst du mir immer treu sein? Wirst du immer für mich sorgen? Und für unsere Kinder?«

    Insgeheim hatte er diese Frage befürchtet und in mehreren Anläufen versucht, sie sich selbst zu beantworten. Ohne Ergebnis. Schließlich hatte er das Thema verdrängt und sich einfach der Vorfreude auf das nächste Stelldichein hingegeben. Was sollte er ihr sagen? Warum fragte sie überhaupt? Nach ihm hätte es ewig so weitergehen können. Jedenfalls im Augenblick. Er hatte genug um die Ohren mit seinem Beruf, seiner Mutter und Raúl.

    Isabel dachte weiter. Irgendwann käme es heraus. Entweder sie würde sich vor ihren Freundinnen verplappern, oder ihre Mutter würde Verdacht schöpfen. Irgendwann wollte sie die Geheimnistuerei beenden, sich offen zu Jorge und ihre Liebe zu ihm bekennen. Sie sehnte sich nach der vollkommenen Vereinigung mit Jorge. Doch zuerst wollte sie seiner sicher sein.

    »Ich begehre deine Nähe, deine Wärme und deine Stimme. Ich brauche deinen Schutz, Jorge, mi amor. Du bist mein Leben. «

    Jorge schwieg nachdenklich. Natürlich würde er für sie sorgen, aber er hatte keinen Plan. Ihre beiden Familien waren tutiefst verfeindet. Für ihn war seine Mutter die größte Hürde. Und die schwierigste.

    Die Unterhaltung mit seiner Mutter bereitete ihm Unbehagen. Über Schlägereien mit Isabels Brüdern machte er sich keine Sorgen. Wenn es um sein Mädchen ging, würden alle seine Fischer hinter ihm stehen, und sie waren in der Mehrzahl. Mit den Fäusten war das Problem also nicht zu lösen. Sein bisher schlichtes Leben war mit einem Schlag hoch kompliziert. Er musste für sich und Isabel eine Hütte bauen, aber Mutter und Raúl weiter versorgen. Isabel müsste ihr angenehmes Steinhaus verlassen und das Leben einer Fischerfrau führen, Fisch ausnehmen und auf dem Markt in Virú verkaufen. Doch der Gedanke Isabel zu verlieren und sie womöglich an der Seite eines Anderen zu sehen war ihm unerträglich.

    »Wir werden beide kämpfen müssen. Aber wir stehen das durch.«

    Sie schmiegte sich ganz fest an ihn. Er küsste ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, seine Hände glitten an ihrem Körper hinunter. Sie ließ geschehen, dass er ihr Kleid abstreifte, und bald lagen sie verschlungen und mit Pazifiksand paniert zwischen den Felsen. Die Zeit stand still, als er sich aufbäumte und dann zur Seite rollte. Das konnte es nicht gewesen sein, was sie sich in ihren Träumen vorgestellt hatte. Mit enttäuschtem Blick suchte sie sein schlafendes Gesicht, dann barg sie ihren Kopf an seiner Schulter.

    Als er aus seinem Schlummer erwachte, fühlte er sie tropfnass auf sich sitzen.

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