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Verlust der Mitte: Historischer Roman
Verlust der Mitte: Historischer Roman
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eBook238 Seiten3 Stunden

Verlust der Mitte: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Stell dir ein Leben vor über hundert Jahren in Zentralamerika vor. Das ist kaum möglich. Wildheit, unberührte Natur, Schönheit, Intrigen, Brutalität, Einfalt. Da hinein versetzt dich die Geschichte von 'Verlust der Mitte'. Unvorstellbar, die Erlebnissen eines jungen Mannes. Unterhaltung pur!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Mai 2017
ISBN9783742788597
Verlust der Mitte: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Verlust der Mitte - Wilfried Schnitzler

    Wilfried Schnitzler

    Verlust der Mitte

    Historischer Roman

    Verlust der Mitte

    Text: Wilfried Schnitzler

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagsbild: Nena Sanchez

    Wandbild im Hafen von Willemstad auf Curacao

    Hauptakteure

    Rufus, Priester in Panama, Costa Rica und Jamaika. Ehemann, Privatier und Buchautor in Honduras. Sein Leben wird von Leidenschaft getrieben.

    Jakob Jung, Gärtner aus Leipzig, den Rufus während der Überfahrt auf der MS Lenau von Le Havre nach New York als 'Koje-über-den-Gang-Nachbar' kennen lernt.

    Maître Paul Barbier, Advokat von Toulouse und Rufus Reisegefährte auf der SS Athos von New York nach Colón in Panama; Insolvenzverwalter der bankrotten Panama-Kanal-Gesellschaft des Grafen Lesseps.

    Manuel Mendoza, Bischof von Panama, der Rufus zum Priester weiht und später nach Costa Rica entsendet.

    Heinrich Grünbaum, Ladeninhaber in Panama-Stadt, der Rufus zu seiner ersten Landpartie im Zweispänner einlädt, ihm einen Panamahut schenkt und eine Schreibmaschine.

    Don Fernando und Doña Rodriguez auf einer Zuckerrohr-Hazienda in Panama, die Rufus mit Grünbaum besucht.

    Bischof Riem, Oberhirte von Costa Rica und Pater Severin Krautwein, sein treuer Gefährte aus dem Vinzentinerorden, die Rufus in seine neue Gemeinde nach Limón schicken.

    Mario, Rufus treuer Gefährte, seine rechte und seine linke Hand und in mancher Hinsicht sogar sein Instinkt und Gewissen, allemal sein bedachter, verständnisvoller Aufpasser und manchmal sogar Ratgeber.

    Don Pedro Almacan Acosta, Alcalde von Limón, gebürtiger Kolumbianer und Rufus Gönner, der für sein Pfarrhaus sorgt und ihm eine Kirche baut.

    Alfons Ponier, der Schulmeister, ein gebildeter Spaniard aus Jamaika, der die Straßenkinder Limóns unterrichtet und Rufus anbietet, ihm Kreol-Jamaikanisch beizubringen.

    Señora Marginette Hudson de Roderick, junge Witwe und heißblütige Kreolin, die Rufus in die Kunst der Liebe einweiht.

    Priester und Captain der Pocomania-Sekte, der Rufus furchtbar verprügeln lässt und ihn mit einem Voodoo-Zauber verhexen will.

    Jezabel oder Bella, wie ihre Freunde sie rufen, Tochter von Shlomo und Abigail Baruch und Ehefrau von Rufus in Trujillo.

    Ariel Cohn de Lara, Rabbi von La Ceiba, der Rufus und Jezabel in Trujillo traut.

    Barry Lavinson, Manager einer Bananenplantage nahe Trujillos, der Rufus die Geschichte der Garifunas erzählt, die ihn überfallen und zusammengeschlagen hatten.

    Bondilla, Rebellengeneral und wiederholt Präsident von Honduras mit seinen drei Compadres, die zusammen einen Regierungsumsturz planen: Floyd, Hasardeur und Söldner, Malkony, Waffenexperte aus dem Burenkrieg in Südafrika und Bram, skrupelloser, amerikanischer Geschäftsmann und zukünftiger Bananenbaron in Honduras.

    Quentin, Abt eines Benediktinerklosters auf Jamaika. Er gibt Rufus nach seinem Schiffbruch Zuflucht und verschafft ihm in Trinity Ville in den Blue Mountains eine neue Pfarre.

    Chief Inspector Ridley mit seinem Assistenten Sergeant Godfrey Morgan, die einen Mord in Trinity Ville aufklären sollen.

    EINS

    Kalter Wind fegte dünnen Regen über den Ausländerkai von Le Havre und ließ die ungeduldig Wartenden frösteln. Die betagte 'Lenau' rüttelte und zerrte an ihren Haltetauen. Matrosen schleppten immer noch voluminöse Kisten, Pakete und Postsäcke unter Deck. Am Heck wurde Kohle für die mächtigen Dampfkessel gebunkert. Aus dem Schlot wälzte sich bereits eine dicke Wolke aus schwarzem, übel riechendem Kohleruß.

    Rufus stand etwas abseits von zwei anderen Gruppen und trippelte von einem Fuß auf den anderen. Er spürte die Kälte bis in die Knochen, nur in seinem Anzug, ohne Kappe und Mantel. Die feinen Damen da drüben hatten sich in mondäne Umhänge gewickelt. Ein Schal unter dem Kinn hielt vorsorglich ihre übergroßen Hüte gegen den Wind fest. Die Herren schützte schicke, eng anliegende Mäntel, mit weißem Schal im Ausschnitt und Glaceehandschuhen, sich nach der neuesten Mode auf einen Silber beknauften Spazierstock stützend, als fürchteten sie umzufallen. Auch die Kinder waren fein herausgeputzt. Elegante Koffer und Taschen stapelten sich um sie herum. Sie gönnten den Leuten keinen Blick, die ins Massenquartier des Zwischendecks ziehen musste. Die waren deutlich ärmlicher gekleidet, beladen mit Rucksäcken, Leinwandbeuteln, Kisten und hölzernen Fässchen.

    Das Läuten der Schiffsglocke ging im einsetzenden Heulen der Sirene unter. Endlich wurde der Landesteg freigegeben, aber eine Reihe Matrosen versperrte immer noch den Aufgang zum Schiff. Man begleitete zuerst die kleine Gruppe Erste-Klasse-Passagiere die Gangway hinauf. Die Reisenden der zweiten Klasse folgten; das waren auch nicht viele. Das Gepäck dieser Herrschaften wurde ihnen beflissentlich hinterher getragen, wogegen man die Habseligkeiten der Reisenden im Zwischendeck vor dem Entern des Schiffes genau inspizierte. Nur was Platz in der eigenen Koje hatte, durfte mitgenommen werden. Die größeren Stücke mussten separat in einem Gepäckraum verstaut werden, der auf See verschlossen und unzugänglich blieb. Entsetzen und Geschimpfe ging durch die Menge, denn die meisten wollten während der Überfahrt an ihr Hab und Gut. Hastig versuchten Betroffene irgendwie umzupacken. Viele waren regelrecht verzweifelt. Aber es gab keine Ausnahmen. Rufus pries seine Umsicht. Er durfte seinen Seesack mit den wenigen Habseligkeiten anstandslos huckepack mit an Bord nehmen.

    Lange, enge und niedere Gänge führten über eine separate Treppe zwei Decks tiefer zur Dritten Klasse, direkt über dem Gepäck- und Maschinenraum. Der Weg zum Junggesellenquartier war gut ausgeschildert. Mit jeder Stufe tiefer in den Schiffsbauch spürte Rufus das vibrierende Stampfen der mächtigen Dampfmaschinen.

    Als er endlich in den Raum vorgedrungen war, aus dem es während der nächsten Tage kaum ein Entrinnen geben würde, gewahrte er vor sich eine ziemlich große, aber nicht geräumige, lukenlose Behausung mit Kojen links und rechts entlang der Wände, doppelstöckig, eine hinter der anderen. Die beiden Reihen wurden durch einen nicht allzu breiten Korridor getrennt. Schon jetzt staute sich dort allerlei Zeug auf dem Boden oder hing an den Seiten der Bettgestelle herunter. Das Durchkommen mit seinem Sack auf dem Rücken gelang Rufus unter dem Gefluche der Gestörten nur mit Mühe. Die Passagiere, die schon von Hamburg kamen, lagen in ihren Kojen und musterten stumm, manche sogar etwas feindselig, den Neuankömmling. Auf den noch leeren Betten lagen Kleidung und andere Gegenstände, die man nun genötigt war, knurrend für die Zugereisten, wegzuräumen.

    Die Nummer 179 auf seinem Ticket war an Rufus' Bettlager deutlich auf einer Blechscheibe eingestanzt und an das Holzgestell einer oberen Koje angenagelt. Glück, denn die obere Etage gab ihm etwa mehr Kopffreiheit, als in der unteren. Er wuchtete den Seesack in seine Koje, die damit schon fast ausgefüllt war.

    »Donnerwetter«, entfuhr es Rufus, »hier ist es aber eng, da ist ja kaum noch Platz für mich selbst.« Er schaute in die Runde und bemerkte quer über den Gang, auf gleicher Höhe mit seiner Schlafstelle, einen jungen Mann auf seiner Matte sitzen, hemdsärmelig; seinen offenen Hosenbund hielten breite Gummiträger. Er schlief ohne Betttuch und Decke auf der befleckten Matratze, wie Rufus mit gerümpfter Nase feststellte. Er musste instinktiv auf Deutsch geschimpft haben, denn sein Gegenüber mit den melancholischen Augen hatte ihn verstanden und nickte nur seufzend. Die Kojen waren tatsächlich schmal. Die Matratze quoll an den Längsseiten über die Bettkanten. Die Lagerstatt glich mehr einem Kanu, in das sich der Körper mitsamt dem Gepäck quetschen sollte.

    Sein Nachbar beobachtete interessiert, wie Rufus versuchte sein Bett einzurichten. Sein mitgebrachtes Leintuch ließ sich einfach nicht über die Matratzenränder spannen. Das sah er letztendlich ein, war bereit, es in der Mulde einfach liegen zu lassen, obwohl ihm das in seiner etwas pedantischen Art ein wenig zuwider war. Mit der mitgebrachten, ausgebreiteten Decke und dem kleinen Kissen wurde es beinahe zu einem richtigen Kuschelbett. Den Seesack legte er quer über das untere Ende der Koje. Seine nicht überdimensionierte Größe erlaubte die Füße darunter zu stecken. An diesem Platz würde er also nicht nur schlafen, sondern in den kommenden Tagen auch logieren.

    Der junge Mann gegenüber langweilte sich mächtig und wartete buchstäblich auf ein Gespräch mit dem Neuankömmling. »Isch bien Jagob Jung.« Sein Sächsisch war unüberhörbar. »Herr Nachbar, wie isch vernähme, sinn se nisch fonn Vrangkreisch?« Er merkte, dass Rufus Schwierigkeiten mit seiner Aussprache hatte und wechselt schnell in ein erträgliches Umgangsdeutsch, so sehr war ihm an einer Unterhaltung gelegen und fuhr fort:

    »Weißt du, ich bin Gärtner und von Leipzig und mit meinem Fräulein Schwester, der Lotte, auf dem Weg nach Amerika.« Dabei deutete Jakob mit dem Daumen zum hinteren Teil des Schiffes, wo die unverheirateten Frauen untergebracht waren. Er verzog dabei sein Gesicht in Bedauern oder Geringschätzung, Rufus konnte das nicht so richtig deuten, aber er mochte sofort Jakobs angenehme, sonore Stimme, die irgendwie zufrieden klang. Allerdings amüsierte er ihn auch. Nicht nur, dass Jakob ihn gleich mit ‚du’ angesprochen hatte, mehr noch seine Eröffnung, nach Amerika zu reisen. Wohin denn sonst? Alle hatten das vor in diesem Schiffsbauch. Jakobs wirre, blonde Haare schienen seit seiner Abreise aus Hamburg von keinem Kamm gestört worden zu sein.

    »Jakob, angenehm deine Bekanntschaft zu machen, du kannst mich Rufus nennen. Du bist ein kluges Kerlchen, ja, ich bin auch Deutscher, habe aber die letzten Monate in Frankreich zugebracht.« Viel mehr wollte er zu diesem Zeitpunkt nicht von sich preisgeben.

    »Dann willst du also auch nach Amerika?«

    Am liebsten hätte Rufus geantwortet: „Ja wohin denn sonst, du Trottel, wenn sich der Kapitän nicht verirren sollte oder wir sonst wie untergehen, dann werden wir wohl alle mit diesem Schiff dort landen.ˮ Aber er verkniff sich lieber diese bissige Bemerkung, letztendlich lagen Tage gemeinsamer Reise auf engstem Raum vor ihnen. Stattdessen erwiderte er weniger spitz: »Wenn wir nicht untergehen oder sich der Kapitän verirrt, dann werden wir wohl alle dort ankommen.« Das war auch nicht gerade viel freundlicher, aber er war wirklich in keiner Unterhaltungslaune, womöglich auch noch über sich zu erzählen, was sein Gegenüber offensichtlich gerne gehabt hätte. Stattdessen schwang sich Rufus in seine, wie er sich einbildete, gemütliche Koje und vergrub sich in seine Matratzenbadewanne. Er tauchte einfach weg. Müde wie er war, wachte er erst wieder durch das fortwährende Beben und Stampfen der Maschinen auf, das durch das ganze Schiff lief. Er zog seine Taschenuhr aus der Westentasche, sein bestes Stück, die ihm zeigte, dass er drei Stunden tiefen Schlafs hinter sich gebracht hatte. In den Raum kam kein Tageslicht, damit blieb die Uhr sein einziger Zeitmesser. Das elektrische Deckenlicht mit den grellen Lampen blendete ein wenig, sobald er die Augen aufgemacht hatte. Vorsichtig über seine Matratzenkante lugend, sah er Jakob immer noch in seiner Koje sitzen. Er hatte seine Socken ausgezogen, seine Füße auf die Bettkante gestemmt und bearbeitete mit den Fingern eingehend jeden Zwischenraum seiner Zehen. Rufus konnte seine Augen nicht von diesen Füßen wenden. So große, knochige Zehe hatte er noch nie gesehen. Er schätzte, die nahmen mindestens ein Drittel von Jakobs Füßen ein, hatten furchtbar lange Glieder, getrennt durch herausstehende Knöchel, am Ende mit langen braunen Nägel. So intensiv, wie Jakob zwischen seinen Zehen herumfummelte, mochte man meinen, er würde immer noch Gärtnererde herausgraben.

    Rufus krabbelte zum Fußende seines Bettes, wühlte in seinem Seesack und fand die Äpfel und das Brot, das er vor seiner Abreise eingepackt hatte. Er brach ein Stück herunter, das zusammen mit einem Apfel sein Abendbrot werden sollte. Dabei bemerkte er Jakobs hungrige Augen und konnte nicht anders, als ihm einen seiner kostbaren Äpfel über den Gang zu reichen. Jakobs Hand war schneller ausgestreckt, als Rufus den Apfel loslassen konnte. Es fielen keine Worte, aber Jakobs Blick bot Freundschaft an, viel, viel mehr als nur Dankbarkeit.

    Pünktlich um 10 Uhr ging das Licht aus, wie an jedem nächsten Abend um diese Zeit. Er hörte Jakob in der Dunkelheit herzhaft in den Apfel beißen. Auch er hatte Muße, den Rest seines Apfels und die Brotkante zu genießen. Leise wünschte er Jakob einen guten Schlaf, was der in seiner angenehm dunklen Stimme erwiderte. Die Nacht verging sehr ruhig. Es war erstaunlich friedlich. Das Schnarchen blieb in Grenzen, wahrscheinlich, weil für alle im Zwischendeck der Alkohol verboten war. Ab und zu schlurfte jemand durch den engen Korridor, tastete sich an den Betten entlang, um den Abtritt zu finden. Die Raumtemperatur und der Mief blieben erträglich, trotz der vielen Insassen. Die großen Ventilatoren waren zwar geräuschvoll, verbreiteten aber viel Frischluft.

    Sobald die Glühbirne am nächsten Morgen um 6 Uhr wieder zu leuchten begann, erwachte auch das Leben, wie in einem Hühnerstall. Rufus hatte, wie alle, in seinen Kleidern geschlafen, andere sogar mit Mantel und Hut oder Kappe auf dem Kopf. Die Cleveren liefen schnell zur Toilette und zum Waschplatz. Für die vielen Insassen gab es davon zu wenig, und schon bald begann ein Meutern unter den Wartenden. Zum Glück hatte es Rufus nicht eilig. Stattdessen machte er sich mit seinem Blechnapf und Teesäckchen auf die Suche nach der Kombüse. Er fand sie mittschiffs zwischen dem Quartier für die Familien und seiner Behausung. Dort gab es auch einen winzigen Essraum mit ein paar grob gezimmerten Tischen und Bänken. Alles sah sehr provisorisch aus.

    Zu seinem Entsetzen herrschte ein riesiger Andrang in der Küche, ein echtes Tohuwabohu aus Menschen und Essgeschirr. Körper an Körper standen Frauen mit Kochgefäßen in Händen. In einem Herd loderte bereits ein Feuer. Rufus beobachtete eine Weile leicht irritiert das Treiben, wie die Weibsleute sich schubsten und mit den Ellbogen versuchten, ihre Pfanne oder Topf auf die heiße Platte zu stellen, obwohl überhaupt kein Fleckchen mehr frei war. Ein Mann bemühte sich mit einem Korb voller Holzscheite einen Weg zum Herd zu bahnen. Nach einigem Zögern, er war ja keine Konkurrenz an der Herdplatte, wurde er durchgelassen. Rufus erkannte seine Chance, dicht hinter den Mann gedrängt, sich mit nach vorne zum Wasserkessel zu schieben. Er kümmerte sich nicht um das Gemaule, goss rasch heißes Wasser in sein Gefäß, verbrannte sich beinahe die Hände, umschloss mit seinem Taschentuch den heißen Becher und versuchte so schnell wie möglich den lauten Raum wieder zu verlassen. Wenigstens hatte er jetzt seinen heißen Tee. Er plante später, sobald in der Küche die Betriebsamkeit abgeebbt war, sich Pellkartoffeln zu kochen.

    ZWEI

    Irgendwann während des Tages tauchte in der Kabine der Quartiermeister auf, baute sich, mit den Armen in die Hüften gestützt, wichtigtuerisch im Mittelgang auf und verkündete mit lauter, alles übertönender Stimme: »Männer, alle mal herhören, ich sag’s nur einmal. Also, in diesem Raum herrscht Alkoholverbot, kein Tabak, keine Karten, keine Würfel. Es ist verboten, eure Kleider zu waschen und hier im Raum zum Trocknen aufzuhängen. Keine Waffen! Wer welche hat, abgeben! Er bekommt sie bei der Ankunft wieder zurück. Einer meiner Leute wird nachprüfen, dass alle meine Anordnungen befolgt werden, sonst ···· .« Er ließ offen, was er mit „sonstˮ meinte. Aber er war noch nicht am Ende:

    »Ich erwarte, dass ihr jeden zweiten Tag den Boden mit Wasser und Seife schrubbt. Teilt euch selbst dafür ein. Das gilt auch für die Toiletten und den Waschraum. Fragt nach Eimer und Putzzeug.«

    Er war auf dem Weg nach oben, als er sich noch einmal umdrehte. »Ach ja, wir haben eure Kojen alle vor dem Ablegen von einem Kammerjäger säubern lassen. Wir sind ein reinliches und komfortables Schiff. Sollte es Läuse, Flöhe oder Wanzen geben, sind die von euch; dann habt ihr das mit euch selbst auszumachen. Findet den Übeltäter. Und da wäre noch etwas ganz Wichtiges. Vor einigen Wochen war auf einem anderen Postdampfer mitten auf dem Atlantik Cholera ausgebrochen. Ich kann euch versichern, das ist eine verdammt ekelige Krankheit, eine ganz schlimme, ansteckende Seuche. Ihr müsst unbedingt melden, wenn einer von euch nicht mehr von der Latrine weg kommt und kotzt. Das hat nichts mit Seekrankheit zu tun. Also alles Auffällige sofort an den Kapitän!«

    In der Nacht wachte Rufus auf. Das Schiff rollte bedenklich. Instinktiv hielten seine Hände links und rechts die Matratze umklammert. Er verkroch und presste sich in die weiche Mulde seiner Matratze und fühlte sich plötzlich in seinem gewöhnungsbedürftigen Bett einigermaßen geborgen. Die Dunkelheit verstärkte die empfundene Bedrohung. Um ihn herum hörte er Stöhnen und Jammern. Ein unerträglicher Gestank verbreitete sich im Raum. Er konnte sich denken, woher der kam. Ihm war zwar auch mulmig, aber offensichtlich rebellierte sein Magen weniger mit dem bisschen Brot, dem einen Apfel und Tee und Wasser.

    Die See beruhigte sich während des nächsten Tages wieder einigermaßen, aber die meisten Kabineninsassen blieben in den Kojen, umgeben von ihrer nächtlichen 'Orgie'. Die es am übelsten getroffen hatte, waren so apathisch, dass sie das Desaster um sich herum kaum wahrnahmen. Die Übrigen hatten um so mehr darunter zu leiden.

    Ein Matrose schaute in den Raum und stellte zwei große Eimer mit Sägespänen an die Tür. »Stinkt ja fürchterlich hier! Raus aus eurer Bütt und verteilt das Holzmehl auf dem Boden und am besten auch gleich in eurer Koje. Wenn alles aufgesaugt ist, fegt den Müll zusammenfegen. Ist ein probates Mittel, das könnt ihr mir glauben! Wenn ihr auch noch Kalk zum Desinfizieren braucht, um den Gestank schneller weg zu bekommen, dann meldet euch.« Damit drehte er sich breitbeinig um und überließ sie ihrer Misere.

    Am Heck des Schiffes gab es ein paar Meter, wo man ins Freie treten und frische Luft schnappen konnte. Von einem Promenadendeck war keine Rede. Aber man entkam dem Mief für eine Weile. Rufus trat nach draußen und musste sich sofort an der Reling festklammern, so heftig hob und senkte sich das Schiff. Der Wind schien aus allen Richtungen zu blasen. An den Masten blähten sich die Segel und halfen Kohle sparen. Rufus atmete tief ein und aus und beobachtete die hohen Wellen, die sich im Kielwasser hinter dem Schiff aufbäumten. Unbemerkt war jemand hinter ihn getreten und legte den Arm um seine Schultern. Eine solche Vertrautheit war Rufus nicht gewohnt. Er drehte sich abrupt um, es war Jakob. Er hatte einen Regenmantel an und eine ausladende Kappe fest über die Ohren gezogen. Damit war er besser für das Wetter gerüstet als Rufus, der sich zitternd gegen den Wind stemmte.

    »Du solltest lieber wieder reinkommen, sonst kriegst du noch eine Lungenentzündung. Hast du nichts Wärmeres dabei?« Rufus war noch immer nicht bereit, seinem neuen Bekannten zu eröffnen, dass er eigentlich auf dem Weg in die Tropen war und überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte, dass es zwischen Abreise und Ankunft auch brachial kalt werden konnte.

    »Komm,

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