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Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht
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eBook357 Seiten4 Stunden

Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht

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Über dieses E-Book

Heute legt sich kulturelle – durch Kunst (und Gefühl) in die Gesellschaft hineingetragene – Verblödung wie Mehltau über stets gefühlssüchtigere Menschen, zumal wenn sie ihre gefühlsfundierten (besonderen) Interessen für verallgemeinerungsfähig halten und es verstehen, jene Interessen in ein paar schöne Sprachfiguren zu kleiden. Die Regel ist zunehmend die: wenn Kunst über soziale Realität redet, redet sie über subjektive Befindlichkeiten (aus Band 2, S. 23).
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Juni 2015
ISBN9783739272498
Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht
Autor

Franz Witsch

Franz Witsch, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

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    Buchvorschau

    Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2 - Franz Witsch

    Heute legt sich kulturelle – durch Kunst (und Gefühl) in die Gesellschaft hineingetragene – Verblödung wie Mehltau über stets gefühlssüchtigere Menschen, zumal wenn sie ihre gefühlsfundierten (besonderen) Interessen für verallgemeinerungsfähig halten und es verstehen, jene Interessen in ein paar schöne Sprachfiguren zu kleiden. Die Regel ist zunehmend die: wenn Kunst über soziale Realität redet, redet sie über subjektive Befindlichkeiten (aus Band 2, S. 23).

    Franz Witsch, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

    Inhalt

    7. Kommunikation unter Verdacht (2004/2005)

    7.1 (D01) Versuch einer Annäherung an Jürgen Habermas

    7.2 (D02) Zeichen, Sprache, Moral

    7.3 (D03) Sind Gefühle dumm

    7.3.1 Subjekt-Objekt-Dualismus

    7.3.2 Kierkegaard versus Heidegger

    7.3.3 Die Kantsche Vernunftkritik und Der Untergang mit Bruno Ganz

    7.3.4 Joachim Fest und Der Untergang

    7.3.5 Brot und Spiele

    7.3.6 Ich fühle, also bin ich

    7.4 (D04) Über den Gefühlsfetisch

    7.5 (D05) Ich glaube, also bin ich (Kierkegaard)

    7.6 (D07) Zur Moralphilosophie von Habermas und Theunissen

    7.6.1 Glaube und Wissen

    7.6.2 Habermas 1: Trennung von Moral und Ethik

    7.6.3 Moral und Gesellschaft

    7.6.4 Theunissen 1: Selbstsein in Weltlosigkeit durch Liebe

    7.6.5 Theunissen 2: Zeit als Realitätsprinzip

    7.6.6 Der Philosoph Heidegger

    7.6.7 Habermas 2: Verständigung als Realitätsprinzip

    7.6.8 Heideggers Sein und Zeit

    7.6.9 Der Jude der Moderne

    7.7 (D08) Edgar Reitz: Heimat-Mythos

    7.8 (D06) Vom Primat der Charakterlosigkeit

    7.9 (D09) Kritik der instrumentellen Vernunft

    8. Filmbesprechungen und eine Romanbesprechung (2006/2007)

    8.1 (F01; E1) Mr. Brooks. Der Mörder in dir

    8.2 (F02; E2) Ein fliehendes Pferd

    8.3 (F04; E4) Geheime Staatsaffären

    8.4 (F05; E5) Gabrielle

    8.5 (F06; E6) Lemming

    8.6 (F07; E7) Ein Lied für Argyris

    8.7 (F08; E8) Hostel 2

    8.8 (F09; E9) Thomas Harlan – Wandersplitter

    8.9 (F03; E3) Tag der Jagd, Romanbesprechung

    9. Vorträge (2013/2015)

    9.1 Sozialintegration und Lernen

    9.2 Mentale Voraussetzungen einer Militarisierung sozialökonomischer Strukturen

    Anhang

    Namensregister

    Abkürzungen, siehe Band 1 (MP1)

    7. Kommunikation unter Verdacht

    7.1 (D01) Versuch einer Annäherung an Jürgen Habermas (08/2004)

    Was? Da beschäftigt sich schon wieder einer mit Kommunikation, einem Thema, das schon tausend mal hin und hergedreht wurde, im Grunde seit es reflektierende Menschen gibt, und nun soll das ein weiteres mal aufgewärmt werden? Ist da nicht schon alles gesagt? Philosophen von Welt wie Habermas haben ein Leben lang über Kommunikation nachgedacht und zusammen mit denen, die sich mit ihm als Autor beschäftigen, ganze Bücherwände beschmiert. Nun, was soll mich das bekümmern? Für mich ist allein das subjektive Gefühl relevant, dass etwas fehlt, noch nicht alles gesagt, und wenn doch, dann weiß ich nichts davon. Ich beschäftige mich mit Habermas aus der Perspektive profaner Wirklichkeit, am universitären Diskurs vorbei; ich nehme mir ein Recht auf Profanität heraus, lasse indes das Eingebundensein in profane Wirklichkeit einfließen in wissenschaftliche Diskurse, scheue auch den umgekehrten Weg nicht: Wissenschaft zu profanisieren, an normale Wirklichkeit heranzuführen.

    Habermas selbst scheut nicht davor zurück, seine Theorie in einem lebensweltlichen Kontext zu sehen – bei allem Unverständnis, das seiner Theorie entgegenschlägt. Doch die Einbindung wissenschaftlicher Theorie in lebensweltliche Interessen hört sich bei ihm wie ein Lippenbekenntnis an; man kann das nur schwer aus seiner Art Theorie zu entwickeln herauslesen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass er sehr schwer verständlich, also nicht einfach schreibt; eher damit, dass seine Art zu thematisieren und sich auszudrücken ganz und gar nicht einfachen Lebenswirklichkeiten nachempfunden ist. Da gibt es zwei zentrale Begriffe: Systemwelt und Lebenswelt, die einander in dialektischer Verstrickung gegenüber stehen. Sie sind ganz sinnig an die marx’sche Denkfigur angelehnt, in der sich Kapital und Arbeit unversöhnlich gegenüberstehen, schwierig, ihnen Leben einzuhauchen in der Diktion eines wissenschaftlichen Diskurses, der sich, hier ganz und gar nicht an Marx angelehnt, noch nie gern aus dem Fenster hing und wenn, dann nur mit weitgespannten Sicherheitsnetzen und doppeltem Boden. Hinzu kommt: seine Formulierungen sind oft unsinnig kompliziert, gefallen sich in Wiederholungen in unwesentlichen sprachlichen Variationen und setzen gleichwohl viel voraus, als gebe es beim Schreiben nur wenig Platz und keine Zeit. So etwas zu lesen, ist über weite Strecken nur anstrengend.

    Nehmen wir den sprachanalytischen, bzw. den formalsemantischen Zugang zur Philosophie, der in Habermas’ TKH eine große Rolle spielt. Wer hat schon von Haus aus einen Zugang zu Tugendhats sprachphilosophischen Überlegungen, die zum Teil unverständlich und verwirrend dargestellt sind. An einer Stelle seines eigenen Werkes fragt Habermas selbst, wohin das alles führen soll und gibt er der analytischen Theorie dann doch einen nicht nachvollziehbar großen Raum, nicht nachvollziehbar deshalb, weil sie trotz des großen Raumes nicht verständlich, v.a. unnötig kompliziert eingebunden ist in den Kontext performativer Praxis kommunikativen Handelns. Vielleicht sind es ja die sprachanalytischen Rezeptionsbemühungen, die Habermas’ theoretische Bemühungen nicht nachvollziehbar überfrachten. Damit sei nicht gesagt, dass Sprachanalyse ohne kommunikationstheoretischen Stellenwert ist. Nur muss nachvollziehbar sein, worin dieser besteht. Ich glaube, dass deshalb die wenigsten einen hinreichenden Zugang zu Habermas finden oder mit ihm nachhaltig etwas anfangen können oder wollen. Viele sind mit Kritik zu schnell bei der Hand. Ich möchte, bei aller Kritik, seine Verdienste nicht in Frage stellen, zumal Begreifen eine relative Angelegenheit ist und viel mit Glauben und Einbildung zu tun hat, mit Annäherung an und kennen lernen wollen von Personen.

    Profanität und Einfachheit werden in ihrer Komplexität und Relevanz unterschätzt. Man sagt: der einfache Bürger versteht nicht, habe keine Kenntnis. Es gebe ein Vermittlungs-, ein Informationsproblem, z.B. bei der Einführung der Hartz-Gesetze, die nachhaltig, trotz Nachbesserung, vom einfachen Bürger nicht angenommen werden. Nun, man setzt eine Rationalität voraus, wie sie aus der Perspektive von abhängigen Menschen gerade nicht rational ist und unterschlägt profanes Instinktverhalten, das auf die Wahrung der eigenen Würde zielt. Sie besteht in der Realisierung eines eigenverantwortlichen Zugriffs auf Lebensgestaltung. Da besitzt selbst das alte Mütterchen mit kleiner Rente einen gesunden Instinkt, wenn es sich schämt, beim Sozialamt betteln zu müssen, um dort von irgendeinem Amtmann auf soziale Bedürftigkeit hin seziert zu werden. Jüngere Menschen werden wütend, wenn ihre intimen Verhältnisse von Sozialdetektiven ausgespäht werden, wenn z.B. Verdacht auf (eheähnliche) Lebensgemeinschaft besteht; die in einem gemeinsamen Bett, Konto, etc. zum Ausdruck kommen soll, woran der Staat den Grad von Bedürftigkeit bemisst. Damit sind Verletzlichkeit der Wohnung und Würde im Namen des Eigentums zu etwas geworden, das per Gesetz angetastet wird. Solche Gesetze sind zusammen mit ihren Durchführungsbestimmungen unverschämt. Instinkte lehnen es ab, auf das Kleingedruckte zu schielen und verweigern sich, um letzte Reste von Ich-Wahrnehmung zu bewahren. Das greise Mütterchen weiß genau, was das ist. Es schämt sich und hat Recht. Das wird bösartig verkannt von Menschen der politischen Elite und der veröffentlichten Meinung. Und der wissenschaftliche Diskurs tut ein Übriges, indem er diese Ignoranz mit viel Pose wissenschaftlich absichert, dabei unentwegt auf Kleingedrucktes verweist, darüber das Naheliegende, das Profane, das einfache Bedürfnis unterschlägt und überhaupt sich nicht wenig einbildet auf einen differenzierten Zugang zur angeblich, ach so komplexen sozialen und ökonomischen Wirklichkeit. Ja, der Bürger versteht nicht. Es steht zu befürchten, dass wir ihn Volk noch ganz anders werden kennen lernen.

    Bisweilen verstehen sich Theoretiker selbst kaum, verlieren selbst den Überblick, wie z.B. Tugendhat und sein sprachanalytischer Zugang zur Philosophie zeigen. Dazu lasse man sich einige Formulierungen von ihm auf der Zunge zergehen. Das folgende Beispiel soll nichts beweisen, nur einen ersten Eindruck vermitteln, wobei ich dem Leser des folgenden Zitats nahe lege, keinen Versuch zu machen, etwas verstehen zu wollen. Es gibt nichts zu verstehen. Man raune, einem Medizinmann gleich, die folgenden Zeichenfolgen einfach nur vor sich hin und staune:

    Wenn ich im Wahrnehmungsbereich von jemandem einen assertorischen Satz p verwende, dessen Regeln er kennt, weiß er, dass ich behaupte, dass p. Wenn ich jedoch Anlass habe zu beabsichtigen, dass der andere weiß, dass ich behaupte, dass p, habe ich immer auch Anlass zu beabsichtigen, dass er meint, dass ich ernsthaft behaupte, dass p, und das heißt, dass ich meine, dass p. Ich kann freilich nicht erreichen, dass er weiß, dass ich meine, dass p; da jedoch meistens jemand, der behauptet, dass p, auch meint, dass p, hat mein Partner, wenn er weiß, dass ich behaupte, dass p, auch einen Grund zu meinen (wenn auch keinen ausreichenden Grund zu wissen), dass ich meine, dass p.(TUE-VSP,277)

    Tugendhat will uns doch nicht etwa sagen, dass etwas zu meinen nicht das gleiche ist wie etwas zu wissen? Mein Gott, da ist einer ganz weit weg. Vielleicht gar nicht mehr in normale Wirklichkeit zurückholbar. Ich möchte das nicht weiter kommentieren. Nur eins: Habermas wird wissen, warum er diesem Wirrkopf so viel Raum in seinem Hauptwerk TKH eingeräumt hat. Es gibt sie halt wie auch vieles andere, und das scheint Grund genug, dass man darüber ausgiebig palavert. Vielleicht will Habermas auch nur alle einbeziehen in seine Konsens-Soße. Alle sollen sie helfen: Max Weber, Wiener und Frankfurter Schule, Durkheim, Mead, Parsons, Luhmann, Lukacs, Hegel, Heidegger, Marx, aber auch die Frauenbewegung, Anti-AKW-Bewegung. Wir sind doch alle irgendwie Menschen, irgendwie wertvoll, mit einem angestammten Recht, dass man sich um uns bekümmert. Und Habermas ist kommunikativ überall aktiv, in China, den USA sowieso, aber auch bei den Ayatollahs im Iran. Schließlich muss es zu jeder Theorie auch eine entsprechende Praxis geben.

    Trotzdem, es ist kein Beinbruch, wenn man nicht alles versteht, wenn Menschen alles unnötig verkomplizieren, sich missverständlich ausdrücken oder benehmen. Wer alles versteht und immer nachvollziehbar handelt, hat auch keine Fragen mehr. Menschen werden oft erst sympathisch, wenn man sie scheitern sieht. Ich erlebe Habermas wie ein lebendes Fossil, einen Vertreter aus fernen Zeiten, der sich immer noch merkwürdig einmischt und mitreden will, wo und mit wem auch immer. Er ist z.B. bei den Ayatollahs im Iran zu finden, um mit ihnen über Menschenrechte zu diskutieren, natürlich völlig vergeblich. Will er damit etwas beweisen? Doch nicht etwa seine Theorie? Ich fürchte, genau so ist er gestrickt. Oftmals wird zwanghaft verkannt, dass Theorie selbst immer auch wesentlich eine Sache von Praxis ist und zwar unmittelbar. Abgesehen davon ist soziale Praxis im Umkreis mächtiger Staatsmänner oder -frauen sehr einseitig ausgebildet, gibt es nichts, was im Nachhinein hergestellt, bezüglich gemacht oder praktisch gelebt werden müsste (ein Zeichen hinter dem Zeichen). Der frühe Marx deutet das an, wenn er sich bei mächtigen Menschen dafür, dass er denkt, nicht entschuldigt und sagt: Die Theorie werde zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreife. Und die sollte man nicht mit obrigkeitsstaatlicher Macht verwechseln oder darauf reduzieren. Warum auch soll Praxis besorgt machen, z.B. wenn ein paar geistliche Fundis nicht hören wollen? Merkwürdig, dass Habermas von Menschen etwas erwartet, die Öffentlichkeit dazu missbrauchen, ihre Macht, oder was sie dafür halten, zu stärken und dabei vor nichts zurückschrecken. Auch Menschen der veröffentlichten Meinung unseres Kulturkreises verdienen ihren Lebensunterhalt mit Öffentlichkeit und haben deshalb etwas zu verlieren. Und denken und verhalten sich entsprechend – ähnlich den Menschen, die Arbeit verlieren können und deshalb schleimscheißen. Das ist normal. Merkwürdig ist, dass so etwas Naheliegendes nicht Gegenstand von sozialer und ökonomischer Theorie. Viele ahnen leider nur, dass da etwas nicht stimmt; auch Habermas; auch er arbeitet mit unerhörten Instinkten; und reagiert zuweilen verbittert und frustriert. Das passiert, wenn man nicht gewahrt, dass Verbitterung einhergeht mit der Fähigkeit, naheliegende Erwartungsdispositionen hinter Abstraktionen zu verstecken, weil sie einfach nichts zu suchen haben in einem sterilen wissenschaftlichen Diskurs. Da tun sich wie bei unserem greisen Mütterchen Schamgrenzen auf. Und überhaupt: zurechenbare Erwartungshaltungen sind in unserer optimismusgesteuerten Welt nicht gut gelitten. Genauso wenig wie Karlheinz Filipps Buch Misericordia Bohemiae.(FIK-MBO) Dort setzt er sich mit dem Leid von Vertriebenen auseinander, als einer, der Vertreibung am eigenen Leib erfahren musste. Überhaupt wenn Menschen Moral und Bedürftigkeit zurechenbar formulieren, reagieren angesprochene Menschen merkwürdig schmallippig. Betretenes Schweigen. Sie sind es nicht gewohnt, dass Erwartungshaltungen: Bedürftigkeit und Moral, zurechenbar formuliert werden.

    Nehmen wir ein Beispiel aus der politischen Praxis: Oskar Lafontaines hektische Flucht aus der offiziellen Politik, seinen Rücktritt von allen Ämtern, weil er die Regierungspolitik nicht mehr mitvertreten wollte. Da nimmt sich jemand das Recht heraus, Moral zurechenbar zu formulieren. Eine Ungeheuerlichkeit. Die erste geistlose Bemerkung dazu ließ nicht lange auf sich warten. Sie stammte ausgerechnet von Günter Grass, unserem frischgebackenen Nobelpreisträger. Als wolle er sich als Teilnehmer für eine der vielen nachmittäglichen Psychotalkshows empfehlen, pöbelte er drauflos: Lafontaine solle die Schnauze halten und Rotwein in der Toskana trinken. Rotwein und Nobelpreis schienen Grass zu Kopf gestiegen zu sein. Er besaß kein Gespür dafür, dass es geschmacklos ist, jemanden zu treten, der sich gerade selbst in den Dreck gestoßen hat, weil er sich als ein Gescheiterter an der politischen Realität empfand. Was ist daran so schlimm, wenn man daraus die Konsequenzen zieht? Ist Oskar dafür zuständig, Grass politisch glücklich zu machen, damit er in Ruhe schreiben kann? Unbegreiflich, wie er, ein profilierter Denker, sich so besinnungslos gehen lässt und dabei jedes mitmenschliche Empfinden vermissen lässt. Erschreckend, dass man sich vor Menschen wie Grass in acht nehmen muss.

    Habermas zeigt in seiner Theorie kaum zurechenbar moralisches Engagement, und wenn, nur sehr indirekt. Nicht Personen agieren konfliktträchtig und moralisch fragwürdig, sondern Begriffe und Abstraktionen wie System- und Lebenswelt führen einen anonymen Kampf gegeneinander und miteinander. Dann ist jeder oder alles gemeint, also niemand; alles entschuldigt, wenn man alles versteht. Das hat was mit einem Bedürfnis nach geistiger Kontrolle persönlichen Lebens zu tun, wie wir das schon bei unserem greisen Mütterchen erwähnten. Zurechenbarkeit stört und passt deswegen in keine Theorie. Verbitterung und Frustration riechen danach, dass da einer an Wirklichkeit scheitert, und das rechnet man dann nicht nur der Person zu, sondern auch dem, was die Person in seinem Werk absondert: seiner Theorie und nicht selten auch seinem geistigen Zustand. Personale Praxis und Theorie sind dann in einem gescheitert. Also ist man vorsichtig und verhalten, was aber letztlich darauf hinausläuft, Theorie gegenüber Kritik zu immunisieren.

    Es gibt einen Text von Habermas, in dem Verbitterung offen zutage tritt. Es war gar eine öffentliche Rede, eine Laudatio auf Alexander Kluge anlässlich der Verleihung des Lessingpreises unter der Überschrift: Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Da schreibt Habermas in einer Art und Weise, die ihn menschlich erscheinen lässt – wie ein Gescheiterter. Und dann hebt er Menschliches durch seine Art, Realität zu kontrollieren, wieder auf. Doch hören wir ihn zunächst im Original:

    Es gibt gute Gründe, einen solchen Intellektuellen auszuzeichnen, erst recht zu einem Zeitpunkt, wo Intellektuelle Intellektuellen zum Vorwurf machen, dass sie sich mit dem Zustand der Welt, schön wie er ist, immer noch nicht abfinden wollen. Biermann und Sarah Kirsch haben natürlich ein gutes Recht, die zur Rede zu stellen, mit denen sie eine gemeinsame Geschichte geteilt haben. Aber in dem Eifer, mit dem die Hiesigen den Intellektuellen in der DDR die Rechnung aufmachen, steckt ja nicht nur, jedenfalls nicht in jedem Falle, die moralische Empfindlichkeit gegenüber einem Stillhalten, das von Komplizenschaft in der Tat kaum zu unterscheiden ist. In diesem Eifer (...) verrät sich auch noch etwas von der guten alten deutschen Ranküne gegen den transzendierenden Gedanken, der an der Realität gescheitert ist. Nicht nur ihr Stillhalten wird den Intellektuellen dort angekreidet. Den Intellektuellen hier dienen sie auch als Reizattrappen – als Stellvertreter für alle, die sich je für etwas engagiert haben, das übers juste milieu hinausging und eine Wendung zum Besseren versprach. Der Stalinismus soll nun auf seine wahren Wurzeln zurückgeführt werden: auf die utopische Regung, die das Einverständnis behindert. Endlich soll Schluss sein mit den Projektemachern und Besserwissern. Die Traumtänzer werden ins Private zurückgepfiffen. Die Dichter sollen wieder dichten, die Denker denken, die Forscher forschen, die Staatsmänner Staat machen – am besten mit Kirchengeläut. Niemand soll niemandem hineinreden dürfen. Kein Dafür- oder Dagegensein: der Code selbst soll aus dem Verkehr gezogen werden. Kluge pflege, so Habermas weiter, einen Code, der , und das zeichne ihn aus, eben nicht so leicht zu knacken sei, weil er nicht ins Schema passe.(HAJ-NMR,138f).

    Beim Lesen legen sich Verdachtsmomente wie Mehltau über mein Gemüt: Es ist doch nicht schon ein Wert an sich, gar ein Zeichen von kritischem Potential, nicht ins Schema zu passen, wenn man ein paar Merkwürdigkeiten nach außen kehrt, ein wenig verrückt ist? Sozusagen Krankheit als Ziel und als das wahrhaft Gesunde zu sehen, weil so authentisch, wie das in den 70er Jahren Mode wurde und bald darauf zum Getue gerann? So etwas gedeiht abseits von sozialen Konflikten in kommunikativen Räumen, die unter Arten- und Naturschutz stehen.

    Der sprachliche Kniff, der Menschliches zurücknimmt und Kontrolle herstellt, liegt im schwammigen und vieldeutigen Begriff Code verborgen: was soll bei Kluge verschlüsselt sein? Doch nicht etwa Gesellschaftskritik? Er ist ein lieber Märchenonkel, der in vielen Interviews schöne Geschichten erzählt und Menschen in Interviews animiert, sie zu erzählen. Mitnichten sind hier wirkliche und schon gar nicht böse Kritiker am Werk, noch viel weniger scharfsinnige Analytiker fragwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Oder wie soll man es einordnen, wenn Oskar Negt eine Stunde über Hegel und Heidegger redet? Als unbequem und kritisch? Als interessant, mehr nicht, aber das muss nicht wenig sein. Nur mit Kritik an der Gesellschaft, d.h. mit einer konfliktträchtigen, weil personal zurechenbaren Moral hat es nichts zu tun; zumal wenn da zwei Menschen reden, die sich die ganze Zeit bauchpinseln. Ein grandioses Missverständnis. Es ist nicht schlimm, wenn sich Menschen wohl fühlen oder es sich schön machen. Oder ist Kritik vielleicht besonders radikal, wenn man sie codiert, so dass es keiner merkt, wenn sie in der Gesellschaft ganz im Geheimen am Werke ist, quasi in der Gesellschaft als Geist hinterhältig ihr Unwesen treibt, bis wir eines Tages die ideale Gesellschaft als Weihnachtsgeschenk auf dem Geschenkteller haben? Und keiner hat so recht was gemerkt? Klar, jeder zu laute Ton, jede zu ungebärdig formulierte Bedürftigkeit könnten den guten Geist wie ein scheues Reh vertreiben, und dann haben wir den Salat. Alles verdorben, alles bleibt wie es ist. Dumm gelaufen. Keiner lernt dazu.

    Was mich am Textausschnitt besonders frappiert, ist die Verbitterung, die hier zum Ausbruch kommt, fast wie man das von enttäuschten Liebhabern kennt, die es nicht verwinden, dass ihre Liebe nicht so funktioniert wie sie sich das vorstellen oder immer gewünscht haben. Habermas wundert sich, dass Menschen so sind wie sie sind und nicht auf ihn hören wollen, v.a. die Intellektuellen seinem Hauptwerk TKH nicht die Bedeutung beimessen, die es verdient. Der eine ignoriert es, der andere liest es gar nicht erst oder nicht verständig. Oder man gefällt sich in einer melancholisch-depressiven Philosophie des ohne mich, wie sich Habermas in einem Spiegel-Interview über einen Kollegen ausließ. Dabei spricht er hier selbst depressiv; wobei die Tendenz einer Erwartungshaltung, die nebulös im Unbestimmten verweilt, unzufrieden stimmt: Ross und Reiter werden nicht benannt. So kennen wir das aus einer der letzten Ansprachen von Ex-Bundespräsident Rau, in der er den Menschen, v.a. der Politik, die Leviten las. Dabei müssten die solchen Reden andächtig lauschenden Politiker, insbesondere die der ersten Sitzreihe, sich zurechenbar angesprochen fühlen. Sie tun es aber nicht. Ja, sie geben ihrem Präsidenten sogar Recht, aber nur wie man einem Priester Recht gibt, der einem in der Beichte die Absolution erteilt. Einmal muss alles gesagt werden. Und dann ist es für eine Zeitlang wieder gut. Aber gesagt werden sollte es schon mal an heiliger Stätte, einem kommunikativen Raum abseits profan-politischer Praxis. Ja, Religion und regelmäßig beichten gehen ist auch Menschen der ersten Reihe ein Herzensanliegen.

    Nun, die Vermutung oder die These, dass hier ein profilierter Vertreter eines weltweit wissenschaftlichen Diskurses verbittert ist, ist durchaus plausibel in einer Welt, die verzweifelt und todkrank danieder liegt, um ihr Überleben ringt und diesem Kampf aller Wahrscheinlichkeit nach bald nicht mehr in ausreichendem Maße gewachsen sein wird. Da kann ein Mensch, der diese Welt als Wissenschaftler ein Stück mit repräsentiert, sich selbst nur als gescheitert empfinden, wenn auch nur aus uneingestandener Verzweiflung heraus.

    7.2 (D02) Zeichen, Sprache, Moral (08/2004)

    Was das Verhältnis von menschlicher Praxis und Theorie betrifft, so stehen sich da nicht zwei Dinge gegenüber, die man säuberlich voneinander trennen könnte. Denken ist immer auch praktisch und scheitert oft genug, wenn man Naheliegendes zwangsneurotisch übersieht, geschweige denn formuliert, z.B. Erwartungshaltungen, die Denken und Theorie mental einfärben. Habermas scheint in seinem Werk arg damit beschäftigt, den sprachanalytischen Zugang zur Philosophie geistig zu kontrollieren (Theorie), um Sprachphilosophen zu beeindrucken (Praxis). Jemanden loben, um ihn an sich zu ziehen. So haben es schon die alten Römer in ihren öffentlichen Reden versucht. Dabei gelingt es ihm ganz offensichtlich, der Sprachanalyse ein bestimmtes Maß an Plausibilität zuzugestehen, vielleicht ja um deren Vertreter einzubinden in sein umfangreiches Konzept von Lebensweltrationalisierung, für eine geistige Realität gemeinsamer Geltungsansprüche mit möglichst vielen Philosophen. Eine solche Perspektive ist legitim und menschlich. Und natürlich darf man Sprachanalytiker Tugendhat einen Zugang zu gemeinsamen Interessen nicht von vornherein absprechen oder ihm diesen verweigern. Interessen formuliert er nachvollziehbar mit Hilfe der Geschichte. Ahnen zu befragen hat etwas Unwiderstehliches an sich. Irgendwann verwandeln sie sich in Götter, mutmaßte Nietzsche. Tugendhat bezieht sich auf eine lange philosophische Tradition, die zurückblickt bis in die aristotelische Philosophie, sogar weiter bis hin zur parmenidischen Philosophie, von der Heidegger angetan war, weil in ihr eine Seinsontologie sichtbar werde, die das Sein zum alles ausfüllenden Prinzip stilisiert: Etwas, das nicht ist, sei schlechthin nicht vorstellbar. Auch der Mensch sei unfähig, sich als nicht existent zu begreifen. Hinter dem Sein als Seiendes gibt es das eigentliche, alles umfassende Sein, das alles ausfüllt. So was begreife der heutige, vom wirklichen Sein entwurzelte Mensch nicht mehr. Die alten Griechen dagegen waren noch ganz nah am Sein. Heute kann man das nur noch ahnend erfühlen, dass etwas aus der Vergangenheit zu uns spricht, so wie nur die empfindlichsten Messgeräte so etwas wie ein Echo des Urknalls zu vernehmen in der Lage sind. Heidegger ist hier ein ausgewiesener Spezialist. Doch hören wir dazu ein paar Worte von Parmenides aus seiner Lehre vom Sein:

    Nötig ist zu sagen, dass nur das Seiende ist (...) Denn es ist unmöglich, dass dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes (...) Aber nur noch eine Weg-Kunde bleibt dann, dass IST ist (...) weil ungeboren, ist es auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel (...) Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen? Wie woher sein Heranwachsen? Auch nicht sein Heranwachsen aus dem Nichtseienden werde ich dir gestatten auszusprechen und zu denken. Denn unaussprechbar und undenkbar ist, dass Nicht-IST ist. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, später oder früher mit dem Nichts beginnend zu entstehen? So muss es also ganz und gar sein oder überhaupt nicht.(VOK-GP1,201f).

    Wie dem auch sei. Wenn es keine naheliegenden Gemeinsamkeiten gibt, murmele man einfach ontologisierend vor sich hin: es gehe ihm, so Tugendhat, um nichts weniger als um die Erneuerung der Seins-Ontologie. Diese hält er nur auf rein formalsemantischem Weg für erneuerbar. Mit dem zeichentheoretischen Ansatz seien alle vor ihm nicht richtig zurechtgekommen. Heideggers Seinslehre, der Tugendhat sein Werk gewidmet hat, ziele wenigstens auf wegweisende Fragen. Es ist nur immer die eine gleiche Frage, die weniger raunend, vielmehr ganz konkret wissen will: was ist der Gegenstand allen Seins? Wobei, und diese Eingrenzung kann man als weiteren, konkretisierenden Fortschritt sehen, das menschliche und nicht irgendein Sein im Vordergrund steht.

    Also: wo fängt der Mensch an? Dort, wo er Ich sagt? Nur Ich zu sagen, ergibt keinen Sinn. Dann schon eher Ich bin. Was bedeutet es, in der Lage zu sein, Ich bin zu sagen? Wieso ergibt der Satz Ich bin einen Sinn ohne jede weitere prädikative Ergänzung. Wie kann oder muss man das verstehen? Was bedeutet es, Existenz als solche zu formulieren ohne prädikative Ergänzung – für Aristoteles nur eingeschränkt plausibel: Seiendes ist alles und jedes, weil es von jedem sinnvoll ist zu sagen: es ist.

    Aristoteles konnte nicht verständlich machen, so Tugendhat, wodurch sich die formalen Begriffe von den gegenstandsbezogenen Begriffen unterscheiden würden. Er versteht das Wort ist als Ist eines Seienden im Sinne

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