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Politische Psychologie und die Verteidigung der Gesellschaft
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eBook781 Seiten7 Stunden

Politische Psychologie und die Verteidigung der Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Wie fressen sich Angst, Verfolgungen von Minderheiten und der Einfluss kollektivistischer Doktrinen durch die Geschichte?
Le Bon behandelt dies an den Ereignissen seiner Zeit (1911) und zieht in altbekannter Art und Weise allgemeingültige Schlussfolgerungen, die ohne weiteres auf die heutige Zeit übertragbar sind. Wie entstehen in einem Staat Gesetze? Darf man Elemente einer Zivilisation oder gar eine ganze Zivilisation einer anderen überstülpen? Welche Erfahrungen wurden damit während der Kolonialzeit gemacht? Wie wehrt man sich gegen außer Rand und Band geratene regierende Idioten und ihren Terror, gegen Syndikate (Vorform der Gewerkschaften), Sozialisten und Philanthropen? "Es war immer das Absinken des Charakters und nicht der Intelligenz, das große Völker aus der Geschichte verschwinden ließ" könnte ein einziger Satz von ihm lauten, der dieses Buch zusammenfasst – und, wie sollte es bei einem Le Bon anders sein – demnächst für etliche Völker zutreffen könnte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Nov. 2022
ISBN9783347779006
Politische Psychologie und die Verteidigung der Gesellschaft
Autor

Gustave Le Bon

Gustave Le Bon lebte von 1841 bis 1931 und wurde weltberühmt mit seinem Werk "Psychologie der Massen", mit dem er einen Standard in der Massenpsychologie setzte.

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    Buchvorschau

    Politische Psychologie und die Verteidigung der Gesellschaft - Gustave Le Bon

    Vorwort

    In diesem Buch wird unter anderem eines behandelt: Der Unterschied zwischen Glaube/Überzeugungen/Meinungen und Wissen/Vernunft.

    Deshalb möchte ich zu Beginn aus philosophischer Sicht und zusammenfassend darauf eingehen.

    Für Le Bon leitet sich die große Mehrheit unserer Handlungen aus Glaube/Meinungen/Überzeugungen ab. Glaube/Meinungen/Überzeugungen haben Gefühle als Grundlage und letztere bestehen aus gewohnheitsmäßigen Beweggründen. Er schreibt dazu auf S. 131: „Diese Faktoren der Überredung richten sich ausschließlich an die Gefühle und somit an die gewohnheitsmäßigen Beweggründe unseres Verhaltens. Sie haben wenig Wirkung auf den Verstand und wären daher für den Lehrer, der eine Demonstration gibt, oder den Wissenschaftler, der ein Experiment vorstellt, nutzlos. Letztere versuchen Wissen zu etablieren, nicht Überzeugungen. Wissen und Überzeugungen sind stark unterschiedlich. Platon hat dies vor einiger Zeit beobachtet und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht auf die gleiche Weise aufgebaut sind. Alle Menschen erwerben leicht Überzeugungen. Nur sehr wenige steigen zum Wissen auf. Wissen impliziert Demonstrationen und Schlussfolgerungen. Überzeugungen erfordern weder das eine noch das andere. Die Grammatik der Überredung, deren wesentliche Elemente ich gerade kurz zusammengefasst habe, kann nur dazu verwendet werden, Meinungen oder Überzeugungen zu erzeugen, die Gefühle als Grundlage haben. Aus diesen Meinungen und Überzeugungen leitet sich die große Mehrheit unserer Handlungen ab. Wer ihnen zur Auferstehung verhilft, ist unser Meister."

    Der Trias Glaube/Meinungen/Überzeugungen stehen also Wissen/Vernunft gegenüber. Diese sind dann über die Bildung auf folgende Weise verknüpft: „Bildung ist die Kunst, das Bewusste ins Unbewusste zu bringen. (S. 111) Damit schließt sich der Kreis. Der Mensch, besonders als „unbeschriebene Tafel, als Kind und junger Mensch, erwirbt Glaube/Meinungen/Überzeugungen und Wissen/Vernunft durch seine Kultur. Erstere „wandern dabei ins Unbewusste und stellen als Gefühle die Handlungsmotive dar. Letztere findet man im Bewussten. Ihr Verhältnis ist bei den meisten Menschen 20 zu 80 (ein von mir geschätztes Verhältnis). Durch die Bildung nun geht das mit der Vernunft erworbene Wissen in den Bereich Glaube/Meinungen/Überzeugungen über und bestimmt dort unsere unbewussten Handlungen. Natürlich können Handlungen auch direkt aus dem Bewussten erfolgen, doch würde dies die Leichtigkeit unseres Handelns stark beeinträchtigen. „Gedächtnis und sinnliche Urteilskraft empfangen vom Willensentschluß einen ‚Eindruck’; unter ihrer Leitung, oder auch unmittelbar, nimmt die sinnliche Strebekraft eine bestimmte Richtung und setzt das Nerven- und Muskelsystem in Bewegung; habituelle, durch Übung gewonnene Dispositionen dieser Kräfte befestigen die Zielsicherheit solcher, dem Geiste kaum zum Bewußtsein kommenden Vorgänge. So vollzieht sich ein großer Teil unseres Lebens und Schaffens, auch des sittlichen, fast automatisch, ohne daß eine stets erneuerte sittliche Überlegung den natürlichen, leichten Gang des Handelns unterbricht. Und doch ist der also Tätige nicht, wie der Träumende, im Banne des psychologischen Mechanismus, sondern er kann jeden Augenblick eingreifen und dem Kräftespiel eine neue Richtung und Anpassung geben (Joseph Mausbach, Grundlage und Ausbildung des Charakters, S. 76).

    Die Gesamtheit der Gefühle, also die Summe aller Glaube/Meinungen/Überzeugungen, bezeichnet Le Bon als Charakter: „Die Gefühle, die in ihrer Gesamtheit den Charakter […] ausmachen, …" (S. 321) und kann meiner Ansicht nach mit dem Habitus¹ des Thomas von Aquin gleichgesetzt werden.

    Noch eine kurze Bemerkung zu Lateinern und Angelsachen.

    Der Lateiner ist dadurch gekennzeichnet, dass er mehr außengelenkt, während der Angelsachse mehr innengelenkt ist. Der Lateiner schreit nach Führung, der Angelsachse ist Meister seiner selbst. Er orientiert sich am Staat, der Angelsachse an sich selbst. Bei Lateinern strebt deshalb die Herrschaft des Staates einem Maximum zu und die Initiative des Einzelnen erreicht ein Minimum während bei den Angelsachsen die Eigeninitiative herausragende Bedeutung hat und deshalb der Umfang des Staates gering ist. Lateiner sind folglich prädestiniert für einen Sozialismus. In der Psychologie des Sozialismus schreibt Le Bon dazu:

    S. 114: „Kurz gesagt, der Engländer versucht, seine Söhne zu gut gerüsteten Männern auf Lebenszeit zu machen, die in der Lage sind, sich selbst zu leiten und diese ewige Vormundschaft aufzugeben, der die Lateiner nicht entkommen können."

    S. 126: „Der Etatismus ist die einzige politische Partei der Lateiner. […] Die Lateiner scheinen sehr in die Gleichheit verliebt zu sein und sind doch sehr eifersüchtig auf alle Überlegenheiten obwohl man leicht unter diesem offensichtlichen Bedürfnis nach Gleichheit einen intensiven Durst nach Ungleichheit entdeckt. Sie können niemanden über sich ertragen, weil sie gerne alle unter sich sehen würden. Sie widmen einen großen Teil ihrer Zeit dazu, Titel und Auszeichnungen zu bekommen, die es ihnen ermöglichen, ihre Verachtung für diejenigen zu zeigen, die sie nicht erhalten haben. Von unten nach oben ist Neid, Verachtung von oben nach unten.

    Wenn auch ihr Bedürfnis nach Ungleichheit sehr hoch ist, ihr Bedürfnis nach Freiheit ist sehr gering. Sobald sie diese besitzen, versuchen sie, sie in die Hände eines Meisters zu legen, um eine Richtung und Regel zu haben, ohne die sie nicht leben können. Sie haben in der Geschichte nur dann eine wichtige Rolle gespielt, wenn sie große Menschen an ihrer Spitze hatten, und deshalb suchen sie aus diesem Grund immer nach ihnen.

    Sie waren zu jeder Zeit große Redner, Freunde von Ausschweifungen und Beredsamkeit. Wenig mit Fakten beschäftigt lieben sie Ideen, solange sie einfach, allgemein und in guter Sprache präsentiert werden. Worte der Logik waren schon immer die schrecklichsten Feinde der lateinischen Völker."

    Jost Wunderlich

    Politische Psychologie

    und die Verteidigung der Gesellschaft

    Gustave Le Bon

    Die Vernunft führt zur Wissenschaft.

    Gefühle und Glauben bestimmen die Geschichte.

    Zielsetzung und Methode

    Politische Psychologie

    Das erste Zeichen des Fortschritts in einer Wissenschaft ist das Aufgeben der einfachen Erklärungen, mit denen sie begann. Was anfangs leicht zu verstehen schien, stellt sich in der Folge als sehr schwierig zu erklären heraus.

    Die Untersuchungen, die sich auf die Entwicklung des Lebens von Nationen beziehen, sind demselben Gesetz unterworfen. Nachdem sie versucht haben, alles zu interpretieren, sehen die Historiker jetzt, dass sie oft über Illusionen dissertierten, die ihrem Geist entsprangen.

    Gesellschaftliche Phänomene erscheinen heute als äußerst komplizierte, streng hierarchische Mechanismen, bei denen Einfachheit kaum zu beobachten ist. Die Entwicklung von Völkern ist so komplex wie die von Lebewesen.

    Die Wissenschaft ist immer noch auf der Suche nach den Gesetzen, die die Veränderungen von Arten bestimmen und ihre aufeinanderfolgenden Formen bedingen. Auch die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung sind kaum bekannt. Nur wenige werden diskutiert.

    Da die Analyse der verschiedenen Elemente, deren Gesamtheit eine Gesellschaft ausmacht, die Phase der vagen Verallgemeinerungen und mutmaßlichen Behauptungen noch nicht verlassen hat, ist die Vorstellung der Dinge, mit der sich der Theoretiker beim Unbekannten zufriedengeben muss, noch sehr bruchstückhaft. Im Gewirr der Bedürfnisse, die den Lebensweg eines Menschen bestimmen, wählt er diejenigen aus, die ihm in den Sinn kommen und vernachlässigt die anderen. Deshalb schienen die Erzählungen über die Taten von Herrschern und insbesondere über ihre Schlachten das einzige Interesse der Geschichte zu sein. Alles, was die Existenz von Völkern betraf, wurde bis vor kurzem verachtet oder ignoriert.

    Die Wissenschaft begnügt sich nicht mehr mit den pauschalen Antworten, die einst auf die „Warum"-Fragen gegeben wurden, die sich auf allen Seiten auftürmen und mit denen das politische Leben der Nationen gefüllt ist. Warum tauchten plötzlich so viele Völker aus dem Nichts auf und erfüllten die Welt mit dem Lärm ihrer Größe? Warum sind sie dann in so tiefe Vergessenheit geraten, dass jahrhundertelang alles über sie übergangen wurde? Wie werden Götter, Institutionen, Sprachen und Künste geboren, entwickeln sich und sterben? Bestimmen sie die menschlichen Gesellschaften, oder werden sie im Gegenteil durch sie bestimmt? Warum konnten sich manche Glaubensrichtungen wie der Islamismus fast augenblicklich durchsetzen, während andere Jahrhunderte brauchten, um sich zu etablieren? Warum hat derselbe Islamismus die politische Macht, die ihn unterstützte, überlebt und sich immer noch ausgebreitet, während andere Religionen wie das Christentum und der Buddhismus scheinbar untergehen und ihr Ende erreichen?

    Auf all diese „Warums" und noch viele andere fehlte es nie an Antworten. Wir ähneln einem Kind, das immer Antworten sucht. Doch diejenigen Erklärungen, die eine sehr junge Wissenschaft zufriedenstellen, werden in ihrem fortgeschrittenen Alter nicht mehr akzeptiert.

    Die Zeit, in der die Götter die Geschichte lenkten, ist vorbei. Die wohlwollende Vorsehung, die unsere unsicheren Schritte führte und unsere Fehler korrigierte, ist ohne Wiederkehr verschwunden. Sich selbst überlassen, muss der Mensch allein im beängstigenden Chaos der unbekannten Kräfte zurechtkommen. Es ist diese immer größer werdende Herrschaft über die Natur, die das Wort Fortschritt bezeichnet.

    Die Natur zu beherrschen ist nicht genug. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, muss der Mensch lernen, sich zu beherrschen und sich den gemeinsamen Gesetzen zu unterwerfen. Es ist die Aufgabe der Herrscher der Nationen, diese Gesetze zu erlassen und ihnen Beachtung zu verschaffen.

    Das Wissen, wie man Menschen effektiv regiert, also die politische Psychologie, war schon immer ein schwieriges Problem. Das gilt umso mehr heute, wo neue wirtschaftliche Notwendigkeiten, entstanden aus wissenschaftlichem und industriellem Fortschritt, schwer auf den Völkern lasten und sich dem Einfluss ihrer Regierungen entziehen.

    Die politische Psychologie nimmt an der oben genannten Unsicherheit der Sozialwissenschaften teil. Sie muss jedoch mit ihrem jetzigen Kenntnisstand ausreichen, denn die Ereignisse drängen und warten nicht. Die Entscheidungen, die diese Ereignisse nach sich ziehen, sind oft von erheblicher Bedeutung, denn die Folgen eines Fehlers können Generationen überdauern. Das Jahrhundert, das unserem vorausging, bietet viele Beispiele.

    Die wichtigsten Regeln der Regierung von Menschen sind diejenigen, die sich auf das Handeln beziehen. Wann soll man handeln, wie soll man handeln und in welchen Grenzen soll man handeln? Die Antwort auf diese Fragen bildet die gesamte Kunst der Politik.

    Eine sorgfältige Analyse der politischen Fehlentscheidungen, die überall in der Geschichte zu finden sind, zeigt, dass sie im Allgemeinen durch psychologische Irrwege verursacht wurden.

    Künste und Wissenschaften unterliegen bestimmten Regeln, die nicht ungestraft verletzt werden können. Diese gelten auch für die Regierung von Menschen. Das Aufdecken dieser Regeln ist zweifellos sehr schwierig, da bisher nur sehr wenige klar formuliert wurden.

    Die einzige bekannte wahre Abhandlung über politische Psychologie wurde vor mehr als vier Jahrhunderten von einem berühmten Florentiner veröffentlicht, dessen Werk ihn unsterblich machte.

    Der luxuriöse Marmor, der seinen ewigen Schlaf schützt, befindet sich unter den Gewölben der berühmten Kirche Santa Croce in Florenz. Dieses Pantheon der Pracht Italiens enthält prächtige Denkmäler für die Männer, die es groß gemacht haben – Michelangelo, Galileo, Dante, usw. Die Verdienste dieser Halbgötter des Denkens sind dort in goldenen Buchstaben eingraviert.

    In dieser Galerie der illustren Schatten gibt es kaum ein Grabmal, auf dem lange Inschriften für nötig gehalten wurden. Nur ein einziger Hinweis findet sich:

    MACHIAVELLI, 1527

    Tanto nomini nullum par elogium

    (Kein Lob entspricht einem solchen Namen)

    Das Werk, das seinem Autor ein so glorreiches und kurzes Epitaph einbrachte, ist das kleine Bändchen mit dem Titel „Der Fürst", auf das ich vorhin schon hingewiesen habe. Darin formulierte der berühmte Schriftsteller präzise Regeln über die Kunst, die Menschen seiner Zeit zu regieren.

    Wohlgemerkt: Aus seiner Zeit und nicht aus einer anderen. Weil man diese wesentliche Bedingung vergessen hatte, wurde das anfangs so bewunderte Buch später, als sich Ideen und Sitten weiterentwickelt hatten und es aufhörte, die Bedürfnisse der neuen Zeit widerzuspiegeln, verschrien.

    Damit wurde Machiavelli machiavellistisch.

    Der bedeutende Psychologe mit seinem Sinn für Realität suchte nicht das Beste, sondern nur das Mögliche. Um sein Genie zu verstehen, müssen wir in jene geniale und perverse Zeit zurückgehen, als das Leben anderer wenig zählte und es als ganz natürlich galt, seinen eigenen Wein mitzubringen, um nicht vergiftet zu werden, wenn man zum Abendessen im Haus eines Kardinals oder einfach bei einem Freund war. Die Politik jener Zeit mit den Vorstellungen unserer Zeit zu beurteilen, wäre ebenso unlogisch wie der Versuch, die Kreuzzüge, die Religionskriege und die Bartholomäusnacht² im Lichte heutiger Vorstellungen zu deuten.

    Machiavelli war kein bloßer Theoretiker. Durch seine Funktionen war er tief in die aktive Politik seines Landes eingebunden und hatte unter den Unstimmigkeiten gelitten, die die italienischen Republiken erschütterten, welche sich damals inmitten eines syndikalistischen Regimes befanden und ständig von blutigsten Unruhen durchzogen wurden. 1502 hatte er gesehen, wie Florenz auf die Schaffung eines Gonfalonats³ auf Lebenszeit zurückgeführt wurde, was nichts anderes als eine tatsächliche immerwährende Diktatur war, mit anderen Worten: reiner Caesarismus⁴. Diese letzte Regierungsform schien ihm eine verhängnisvolle Variante der Anarchie zu sein, die Volksregierungen immer hervorgebracht haben. Er irrte sich kaum, denn alle italienischen Republiken endeten, ebenso wie die athenischen und römischen Republiken, in gleicher Weise.

    Die meisten der von Machiavelli gelehrten Regeln zur Kunst der Menschenführung sind längst unbrauchbar geworden, und doch sind vier Jahrhunderte über den Staub dieses großen Toten hinweggezogen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, sein Werk zu erneuern.

    Die politische Psychologie, oder die Wissenschaft des Regierens, ist dermaßen notwendig, weil Staatsmänner nicht ohne sie auskommen: In Ermangelung formulierter Gesetze sind die Impulse des Augenblicks und ein paar sehr summarische traditionelle Regeln ihre einzigen Leitlinien.

    Solche Verhalten führen oft zu kostspieligen Fehlern. Napoleon, der die Psychologie der Franzosen sehr gut kannte, wusste nichts über die der Russen und Spanier. Diese Unwissenheit stürzte ihn in Kriege, in denen sein ganzes Genie als Eroberer an einem nie vermuteten Patriotismus der Gegner scheiterte, den keine Gewalt hätte überwinden können. Sehr schlecht beraten, häufte das Erbe seines Namens auf der Krim, in Mexiko, in Italien und andernorts sehr schwere psychologische Fehler an, die uns schließlich eine neue Invasion einbrachten.

    Große Menschenkenner sind notwendigerweise große Psychologen. Ohne Bismarcks tiefe Kenntnis der Mentalität von Individuen und Völkern hätte die Überlegenheit der deutschen Armeen sicher nicht ausgereicht, um die deutsche Einheit zu begründen.

    Die politische Psychologie besteht aus weiteren Disziplinen. Die wichtigsten sind die Individualpsychologie, die Massenpsychologie und schließlich die Rassenpsychologie.

    Die Lehrer an unseren Schulen halten dieses Wissen offensichtlich für wenig nützlich, da es in keinem ihrer Lehrpläne vorkommt. An der Hochschule für Politikwissenschaft scheint man seine Existenz sogar zu ignorieren. Ist es nicht seltsam, dass man einen „Doktortitel in Politikwissenschaft" erhalten kann, ohne jemals von dem Wissen gehört zu haben, das die wahre Grundlage der Politik ist?

    Da ein paar traditionelle Vorstellungen das einzige psychologische Gepäck mittelmäßiger Staatsmänner darstellen, stehen sie völlig orientierungslos vor bestimmten neuen Problemen, deren Lösung nicht in der Routine zu finden sind. Da die wechselnden Impulse der Parteien zu ihren Leitfäden werden, sind die Fehler, die gemacht werden, zahllos.

    Solch eine Liste wäre sehr lang, selbst wenn sie sich nur auf die letzten Jahre beschränken würde. Es war ein psychologisch gefährlicher Irrtum, Kirche und Staat zu trennen, da dadurch dem Klerus eine Unabhängigkeit und Macht eingeräumt wurde, die der katholischste unserer Könige niemals geduldet hätte. Ein psychologisch fundamentaler Irrtum sind unsere Erziehungsmethoden, die sich so sehr von denen unterscheiden, die Deutschland zu seinem ganzen wissenschaftlichen, industriellen und wirtschaftlichen Fortschritt geführt haben. Es war ein psychologischer Irrtum, die Ideen der Assimilation zu verwirklichen, denen unsere Kolonien nun ihre Dekadenz verdanken. Es war ein psychologischer Irrtum, die Apachen, die früher auf spezielle Bataillone ihresgleichen beschränkt waren und daher ihr Kontakt niemanden beeinflussen konnte, in die Armee aufzunehmen. Auch die Kapitulation der Regierung beim ersten Postarbeiterstreik war ein schwerer psychologischer Fehler. Weitere psychologische Irrtümer sind eine große Anzahl unserer sogenannten humanitären Gesetze. Die utopische Hoffnung, Gesellschaften durch Dekrete umgestalten zu können, und der Glaube, ein Volk könne sich dem Einfluss seiner Vergangenheit völlig entziehen, sind immer psychologische Irrtümer.

    Die Kräfte, die das Handeln eines Volkes bestimmen, sind sicherlich komplex: natürliche Kräfte, wirtschaftliche Kräfte, historische Kräfte, politische Kräfte usw. Sie bewirken letztlich eine bestimmte Ausrichtung unseres Denkens und damit auch unseres Verhaltens. Diese unterschiedlichen Kräfte werden aber schließlich in psychologische Kräfte zusammengeführt. Es sind diese letzten, auf die sich alle anderen zurückführen lassen.

    Schwierigkeiten zwischen Völkern sind manchmal so gravierend, dass sie nur mit Kanonenfeuer gelöst werden können. Es gilt dann nur noch das Recht des Stärkeren. Dieser Art waren die Streitigkeiten zwischen Preußen und Österreich, zwischen Transvaal und England, zwischen Japan und Russland. Wenn es jedoch um zweitrangige Fragen geht, können psychologische Einflüsse, die geschickt eingesetzt werden, manchmal militärische Argumente ersetzen. Nur ein an Macht weit überlegener Gegner kann sie ignorieren. Er wird mit dem Schwert um sich schlagen, wie es Napoleon und Bismarck taten; die Gegner können nur schweigen und auf die Stunde der Rache warten, die immer ertönt.

    Niemand scheint heute stark genug zu sein, diese summarischen Verfahren anzuwenden. Die Verstrickungen der Allianzen erlauben es keinem Souverän mehr, so zu sprechen, als sei er der einzige Herr. Das Abenteuer Marokko hat die Völker gelehrt, welches Schicksal sie erwartet, wenn sie nicht wissen, wie sie ihre Schwächen vereinen können, um sich zu verteidigen.

    Es finden also zwischen mehr oder weniger gleichstarken Kräften die Diskussionen über Probleme statt, die durch alltägliche Vorfälle entstehen. Dann kommt die Psychologie ins Spiel und das Vorgehen der Diplomaten kann entscheidend werden.

    Es besteht jedoch kein Zweifel, dass dieses Vorgehen heute nicht mehr das ist, was es einmal war. Informiert durch Telegrafen, Telefon und Zeitungen, diskutiert die Öffentlichkeit eifrig über jedes politische Ereignis, während die Diplomaten gemächlich ihre obskuren Notizen austauschen. In der Vergangenheit daran gewöhnt, im Verborgenen zu verhandeln, müssen sie nun im Lichte des Tages diskutieren und der Meinung folgen, anstatt ihr vorauszugehen.

    Und doch hat ihre zu Unrecht vernachlässigte Rolle noch einen gewissen Nutzen. Die jüngsten Ereignisse haben dies deutlich gemacht.

    Einige wichtige Fragen wurden tatsächlich durch diplomatische Interventionen gelöst. Die Bombardierung englischer Fischereischiffe durch russische Kriegsschiffe zu Beginn des Krieges mit Japan, die Casablanca-Affäre, der österreichisch-russische Streit um Serbien etc. Wenn wir am Vorabend des Jahres 1870 auch nur Diplomaten besessen hätten, die weniger als die entsetzlichste Mittelmäßigkeit aufwiesen, so wäre der Krieg so hinausgezögert worden, dass wir in der Zwischenzeit Allianzen hätten vorbereiten können, anstatt die vom Feind vorgegebene Zeit dafür nutzen zu müssen.

    Es ist erneut die politische Psychologie, die lehrt, wie man die täglichen Probleme lösen sollte: Unterscheiden, wann man nachgeben oder sich gegen populäre Forderungen wehren sollte. Abhängig von ihrem Temperament geben Staatsmänner stets nach oder leisten ständig Widerstand: ein verabscheuungswürdiges Verhalten. Je nach den Umständen muss man wissen, ob man sich zu wehren oder nachzugeben hat. Kein Teil der politischen Psychologie ist schwieriger und die Folgen von Fehlern sind gravierender. Die Französische Revolution hätte vielleicht vermieden werden, zumindest aber abgemildert werden können, wenn zur Zeit der Agrar- und Finanzkrise von 1788, die das Elend der arbeitenden Klassen durch Hungersnot und Arbeitslosigkeit vergrößert hatte, die aristokratische Klasse sich nicht hartnäckig der steuerlichen Gleichstellung verweigert hätte.

    Das Ergebnis war ein intensiver Hass auf die privilegierten Klassen und die Unruhen, die zum Zerfall einer langen Geschichte führten.

    Betroffen darüber, dass es keine einschlägigen Werke zur politischen Psychologie gibt, habe ich immer gehofft, dass diese Lücke geschlossen wird.

    Nachdem ich mich zehn Jahre lang fast ausschließlich mit physikalischen Experimenten beschäftigt hatte, aus denen mein Buch über die Entwicklung der Materie hervorging, wurde diese Forschung zu kostspielig, um sie fortzusetzen. Ich musste sie aufgeben und habe mich damit abgefunden, mein altes Studium wieder aufzunehmen. In dem Wunsch, die in einigen meiner früheren Arbeiten dargelegten Prinzipien auf die Politik anzuwenden, bat ich meinen bedeutenden Freund, Professor Ribot, mir die kürzlich erschienenen Abhandlungen über politische Psychologie aufzuzählen. Seine Antwort ließ mich begreifen, dass es keine gab. Mein Erstaunen war das gleiche wie vor 15 Jahren, als ich das Studium der Massenpsychologie begann und ebenfalls herausfand, dass es keine Abhandlung zu diesem Thema gab.

    Es ist natürlich nicht so, dass es jemals einen Mangel an politischen Aufsätzen gegeben hätte. Im Gegenteil, seit Aristoteles und Platon gibt es sie in Hülle und Fülle, aber ihre Autoren waren in der Regel Theoretiker, entfremdet von den Realitäten ihrer Zeit und kannten nur den schimärenhaften⁵, aus Träumen geborenen Menschen. Weder die Psychologie noch die Kunst des Regierens hat mit diesen etwas zu tun.

    Das Fehlen klassischer Werke zu diesem Thema und die Nichtexistenz von Lehrstühlen zu diesem Gebiet beweisen, dass seine Nützlichkeit nicht gesehen wird. Daher ist es notwendig, sie zu demonstrieren. Dies wird eines der Ziele dieses Buches sein.

    Die politische Psychologie baut, wie ich schon sagte, auf Erkenntnissen der Individualpsychologie, der Psychologie der Massen, der Völker und schließlich auf den Lehren der Geschichte auf. Einige dieser Unterpunkte sind bereits bekannt, aber sie sind nicht das eigentliche Bauwerk.

    Beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens kann Politik nur eine tägliche Anpassung des Verhaltens an Notwendigkeiten sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Notwendigkeiten tatsächlich der Vernunft entspringen. Die ererbten Vorurteile eines Volkes und seine religiösen Überzeugungen können von der Vernunft für absurd erklärt werden, aber ein wahrer Staatsmann wird niemals versuchen, sie zu bekämpfen, da er weiß, dass er dies nicht zweckdienlich tun kann. Nur Theoretiker, in Unkenntnis der Realitäten, glauben, dass die reine Vernunft die Welt regieren und die Menschen verwandeln wird. Tatsächlich bereitet die Intelligenz nur langsam diejenigen Veränderungen vor, die auf lange Sicht unsere Seelen verwandeln, da ihre unmittelbare Wirkung sehr schwach ist. Nur sehr wenige Dinge können dadurch auf die Schnelle verändert werden.

    Die politische Psychologie befindet sich, wie gesagt, noch im Alter der Unsicherheit. Dennoch entstehen jeden Tag neue (oft empirische, aber dennoch sehr sichere) Regeln. Nicht indem wir sie formulieren, können wir ihren Wert beweisen, sondern indem wir die Folgen ihrer Ignoranz aufzeigen. Dies wird ein weiteres der Ziele sein, die ich zu erreichen suche.

    Die Verdeutlichung der Prinzipien, die mir als Leitfaden gedient haben, würde Ausführungen erfordern, die der Umfang dieses Buches nicht zulässt. Sie sind ausführlich in meinen früheren Arbeiten zu finden.

    In diesem Buch habe ich mich fast ausschließlich darauf beschränkt, die feststellbaren Regeln der politischen Psychologie auf das Zeitgeschehen anzuwenden. Selbst bei diesem sehr begrenzten Zeitraum war das Thema noch so umfangreich, dass ich mich oft mit summarischen Angaben begnügen musste. Die Rolle der politischen Psychologie in der Geschichte der Völker zu untersuchen, in der Bildung ihrer Glaubensvorstellungen und ihrer Überzeugungen sowie in den kriegerischen Kämpfen, die alle das Gerüst ihrer Vergangenheit bilden, hätte mehrere Bände erfordert.

    Da ich mich mit eher trockenen Themen beschäftigen muss, die den Leser abschrecken und seine Aufmerksamkeit leicht überfordern können, habe ich versucht, allzu didaktische Formen zu vermeiden. Seriöse Vorschläge profitieren oft davon, in einem weniger strengen Rahmen präsentiert zu werden.

    Ein Kapitel dieses Buches ist der Beschreibung der Überzeugungsfaktoren gewidmet und zeigt die bedeutende Rolle der Wiederholung. Es war die Gewissheit ihrer Nützlichkeit, die mich dazu veranlasste, dieselben Dinge in leicht veränderter Form gelegentlich zu wiederholen. Ich bedaure, dass die begrenzte Seitenzahl dieses Buchs mich daran gehindert hat, dies öfter zu tun. Napoleon hat nicht übertrieben, als er sagte, dass die Wiederholung die Hauptfigur der Rhetorik ist. Zumindest kann man sagen, dass es sich um eine der aktivsten Faktoren bei Überzeugungen handelt.

    Alle großen Staatsmänner waren sich ihrer Macht bewusst. Durch unzählige Wiederholungen gelang es dem deutschen Kaiser, seine Untertanen von der Notwendigkeit der für den Bau einer großen Kriegsflotte notwendigen Opfer zu überzeugen. Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Theodor Roosevelt, schrieb zu Recht: „Alle großen fundamentalen Wahrheiten neigen dazu, abgedroschen zu klingen, und dennoch, so abgedroschen sie auch sein mögen, sie müssen immer und immer wiederholt werden."

    Wenn Wiederholungen notwendig sind, um schon bekannte Wahrheiten zu verbreiten, wie viel mehr ist dann nötig, damit neue Wahrheiten akzeptiert werden? Ich habe dies mehr als einmal erfahren. Die Apostel, die im Laufe der Zeitalter unsere Vorstellungen und Überzeugungen veränderten, schafften dies nur durch unaufhörliche Wiederholungen.

    Das liegt daran, dass sich der tatsächliche Mechanismus der Überzeugungen grundlegend von dem unterscheidet, der in Büchern gelehrt wird. Die Vernunft ist sehr nützlich für wissenschaftliche Beweise, aber sie spielt nur eine sehr kleine Rolle bei der Entstehung unserer Überzeugungen. Ideen setzen sich nicht durch ihre Richtigkeit durch; sie werden erst dann angenommen, wenn sie durch den doppelten Mechanismus von Wiederholung und Übertragung⁸ in jene Regionen des Unbewussten eingedrungen sind, in denen die beweglichen Motive, die unser Verhalten erzeugen, ausgearbeitet werden. Überzeugen besteht nicht einfach darin, die Richtigkeit eines Sachverhalts zu beweisen, sondern Menschen dazu zu bringen, nach diesem Sachverhalt zu handeln.

    Wirtschaftliche Notwendigkeiten und politische Theorien

    Die Bilder, die durch Schilderungen im Geist erzeugt werden, hinterlassen einen mittelmäßigen Eindruck, und deshalb sind die Unterschiede zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nie klar.

    Abstrakte Dinge lassen sich nur durch den Vergleich mit bereits empfundenen konkreten Eindrücken anschaulich darstellen. Jeder, der eine Schlacht oder einen Schiffsuntergang gesehen hat, wird immer von der Schilderung ähnlicher Ereignisse beeindruckt sein.

    Diese Darstellung der Vergangenheit durch einen konkreten Vergleich wurde mir eines Tages durch folgende Umstände sehr eindringlich vor Augen geführt:

    Die Gelegenheit eines Ausflugs hatte mich dazu gebracht, mit dem Automobil die Brücke über den Fluss zu überqueren, der die alte Stadt Huy in Belgien in zwei Ortschaften teilt. Der Nebel war so dicht, dass ich anhalten musste. Ich stieg aus und lehnte mich gegen die Brüstung.

    Unter der dicken Nebeldecke, die alles einhüllte, konnte man imposante, monumentale Massen erahnen. Das war das Unbekannte für mich. Ich wartete also darauf, dass diese zum Vorschein kommen.

    Plötzlich löste ein klarer Sonnenstrahl die Wolken auf, und in einer unerwarteten Vision erschienen, getrennt durch den Fluss, zwei Welten, zwei Ausdrucksformen der Menschheit, die sich gegenüberstanden, und die auf den ersten Blick bedrohlich, unversöhnlich und schrecklich wirkten.

    Am linken Ufer erschien eine Ansammlung von antiken Gebäuden.

    Über allem thronte eine gigantische Burg mit starren Linien und eine majestätische Kathedrale, deren glühende Frömmigkeit vieler Generationen über Jahrhunderte hinweg langsam ihre Konturen geschmückt hatte.

    Am rechten Ufer, gegenüber dieser großen Architektur eines anderen Zeitalters, kamen die traurigen und kahlen Mauern einer riesigen Fabrik aus grauen Ziegeln hervor, die von hohen Schornsteinen und deren mit Flammen durchsetzten schwarzen Rauchschwaden überragt wurde.

    In regelmäßigen Abständen öffnet sich ein Tor und ebnet den Weg für ausgedehnte Theorien zotteliger, schweißbedeckter Männer mit gequältem Blick und finsteren Augen. Als Söhne von Vorfahren, die von Göttern und Königen beherrscht wurden, hatten sie nur die Herren gewechselt, um Diener des Eisens zu werden.

    Und es waren in der Tat zwei Welten, zwei Zivilisationen in der Gegenwart, die unterschiedlichen Motiven gehorchten und von unterschiedlichen Hoffnungen beseelt waren. Auf der einen Seite eine Vergangenheit, die bereits tot ist, deren Willen wir aber noch unterworfen sind, und auf der anderen Seite eine Gegenwart, die voller Geheimnisse ist und eine unbekannte Zukunft in sich trägt.

    Diese beiden Welten haben immer existiert und waren immer verfeindet, aber ähnliche Gefühle und ein gemeinsamer Glaube haben oft die Kluft überbrückt, die sie trennte. Heute sind Glaube und Gefühle verschwunden, übrig geblieben ist nur die atavistische Feindschaft der Armen gegen die Reichen. Allmählich von den Glaubensvorstellungen und sozialen Bindungen der Vergangenheit befreit, erweisen sich die modernen Arbeiter als zunehmend aggressiv und unterdrückerisch und bedrohen die Zivilisationen mit kollektiven Tyranneien, die womöglich den schlimmsten Despoten nachtrauern lassen. Sie sprechen als Herren zu den Gesetzgebern, die ihnen sklavisch schmeicheln und sich jeder ihrer Launen unterwerfen. Das Gewicht der Mehrheit versucht jeden Tag mehr und mehr, die Bedeutung der Intelligenz zu ersetzen.

    Das politische Leben ist eine Anpassung der Gefühle des Menschen an die ihn umgebende Umwelt. Diese Gefühle variieren wenig, denn die menschliche Natur ändert sich nur sehr langsam, während sich die moderne Umwelt durch den ständigen Fortschritt von Wissenschaft und Industrie schnell verändert.

    Wenn sich die äußere Umgebung zu schnell ändert, ist die Anpassung schwierig, und das Ergebnis ist die heute zu beobachtende allumfassende Ruhelosigkeit. Die Natur des Menschen mit den Notwendigkeiten aller Art in Einklang zu bringen, die ihn umgeben und über die er keine Kontrolle hat, stellt ein immer größeres und schwierigeres Problem dar.

    Die antike Welt und die moderne Welt unterscheiden sich grundlegend in ihrem Denken und ihrer Lebensweise. Die neuen Elemente, die uns führen, entstammen weder dem abstrakten Denken, noch schwanken sie mit unseren Hoffnungen oder unseren logischen Vorstellungen. Sie sind das Ergebnis von Notwendigkeiten, denen wir unterliegen, die wir aber nicht selbst erschaffen haben.

    Das gegenwärtige Zeitalter unterscheidet sich nicht durch Rivalitäten und Kämpfe von den Zeitaltern, die ihm vorausgingen, denn diese letzteren werden aus Leidenschaften geboren, die sich kaum ändern. Der eigentliche Unterschied liegt vor allem in der Ungleichheit der Faktoren, die die Menschen heute formen. Es ist dieser wesentliche Punkt, den ich nun versuchen werde darzustellen.

    Die tatsächlichen Kennzeichen dieses Jahrhunderts sind: erstens, die Ersetzung der Macht der Könige und Gesetze durch wirtschaftliche Faktoren. Zweitens, die Verflechtung von Interessen zwischen Völkern, die einst getrennt waren und keine Beziehungen zueinander hatten.

    Dieses letzte Phänomen eines relativ neuen Ursprungs ist von erheblicher Bedeutung. Die Völker sind nicht mehr derart isoliert wie in der Vergangenheit und von Handelsbeziehungen abgeschnitten. Sie alle leben einer vom anderen und könnten ohne einander nicht überleben. England würde schnell in eine Hungersnot geraten, wenn es von einer Mauer umgeben wäre, die den Import von Lebensmitteln verhindert, die es von außen bezieht und mit anderen Waren bezahlt.

    Diese neuen Existenzbedingungen machen es möglich, vorauszusehen, dass durch die großen industriellen und kommerziellen Uhrwerke, die das Leben der Nationen umgestalten, Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite geschaffen wird und der Einfluss der Regierungen, der einst so bedeutend war, jeden Tag schwächer wird. Von ihrer eigenen Ohnmacht überzeugt, folgen diese Regierungen den Bewegungen und lenken sie nicht mehr. Die ökonomischen Kräfte sind die wahren Herren und diktieren den Willen des Volkes, dem man sich kaum entziehen kann.

    Vor sechzig Jahren (1850) war ein Souverän noch mächtig genug, den freien Handel in seinem Land zu dekretieren. Keiner würde heute wagen, das zu versuchen. Ob die von den meisten Ökonomen angeprangerte Protektion gut oder schlecht ist, spielt dabei keine Rolle. Es wird auf den Volkswillen der momentanen Stunde reagiert, und diese Stunde ist von Notwendigkeiten umgeben, die für Staatsmänner zu überwältigend sind, um viel an die Zukunft zu denken.

    Sie haben dabei oft Illusionen über die Folgen ihres Handelns. Diese fügsamen Oberhäupter von sehr unentschlossenen Armeen gehorchen immer und dirigieren nicht mehr.

    In einer Sitzung am 11. März 1910 versicherte Monsieur Méline dem Senat, dass der Freihandel die englische Landwirtschaft ruiniert habe, deren Weizenproduktion in einem halben Jahrhundert um mehr als die Hälfte zurückgegangen sei, während Frankreich, das 1892 ein Nahrungsmitteldefizit von 695 Millionen hatte, unter einem System von Schutzzöllen dieses Defizit durch einen Überschuss von 5 Millionen ersetzen konnte, wodurch es möglich wurde, Weizen zu exportieren, anstatt ihn zu importieren. Der berühmte Ökonom führt die 700 Millionen-Differenz natürlich auf die Schutzzölle zurück, deren Apostel er war.

    Man kann aber mit Sicherheit sagen, dass kein Gesetz seit Anbeginn der Welt eine solch produzierende Kraft hatte. Tatsächlich ist die vermehrte landwirtschaftliche Produktion nur das Ergebnis des immensen wissenschaftlichen Fortschritts einer Landwirtschaft, die sich sehr gefährdet sah.

    Und wenn die Engländer nicht den gleichen Fortschritt machten, dann nicht deshalb, weil der Freihandel sie daran gehindert hat, die ausländische Konkurrenz zu bekämpfen, sondern weil sie es für viel einträglicher hielten, industrielle Produkte herzustellen, aus deren Verkauf sie mehr Geld einnehmen, als sie für den Kauf ihres benötigten Weizens brauchen.

    Ob ein protektionistisches System nützlich oder schädlich ist, soll hier nicht betrachtet werden. In der heutigen Politik, und genau das wollte ich zeigen, geht es nicht darum, das Beste zu suchen, sondern nur das Machbare. Heutzutage wäre kein Despot stark genug, das wiederhole ich, um einem Land, das dies nicht will, Freihandel oder Protektionismus aufzuzwingen. Wenn Menschen sich irren, ist das schade für sie. Ihre Erfahrung wird es ihnen mitteilen. Ein paar geniale Menschen schaffen es manchmal, unterstützt durch die Umstände, stromaufwärts zu schwimmen, doch war ihre Anzahl schon immer sehr gering.

    Das Gesagte zeigt, wie sehr sich die Faktoren der heutigen Zeit von denen der Vergangenheit unterscheiden und gibt eine Vorstellung davon, wie wenig Einfluss politische Entwicklungstheorien auf die Völker haben. Mit dem Fortschritt der Wissenschaft, der Industrie und der internationalen Beziehungen sind unsichtbare, aber allmächtige Herren geboren worden, denen die Völker und sogar ihre Souveräne gehorchen müssen.

    Die wirtschaftlichen Elemente im Leben der Völker sind also Notwendigkeiten, denen sie sich anpassen müssen, da sie ihnen nicht entkommen können. Zu diesen natürlichen Notwendigkeiten kommen andere, sehr künstliche hinzu, die politische Theoretiker und die ihnen folgenden Regierungen zu schaffen versuchen. Wir wollen nun ihre Rolle untersuchen.

    Trotz aller Ressourcen in ihren Labors ist es den Biologen noch nie gelungen, eine einzige lebende Art zu transformieren.⁹ Die wenigen äußeren Veränderungen, die die Züchterkunst zu schaffen vermag, sind ohne Dauer und Nachhaltigkeit.

    Ist es einfacher, eine soziale Organisation zu transformieren als ein Lebewesen? Die bejahende Antwort auf diese Frage hat mehr als ein Jahrhundert lang unsere gesamte Politik bestimmt und tut es immer noch.

    Die Möglichkeit, Gesellschaften durch neue Institutionen umzugestalten, erschien den Revolutionären aller Zeiten, insbesondere denen unserer großen Revolution, immer offensichtlich. Für Sozialisten scheint sie ebenso möglich zu sein. Sie alle streben danach, Gesellschaften nach Plänen, die von der reinen Vernunft diktiert werden, neu aufzubauen.

    Aber je weiter die Wissenschaft voranschreitet, desto mehr widerspricht sie dieser Doktrin. Mit Hilfe der Biologie, der Psychologie und der Geschichte zeigt sie, dass unsere Grenzen der Einwirkung auf eine Gesellschaft sehr begrenzt sind, dass tiefgreifende Transformationen niemals ohne Mithilfe der Zeit erreicht werden, dass Institutionen die äußere Hülle einer inneren Seele sind. Sie sind eine Art Kleidungsstück, das sich einer inneren Form anpassen kann, aber nicht in der Lage ist, sie zu schaffen, und deshalb können Institutionen, die für ein Volk hervorragend sind, für ein anderes abstoßend sein. Weit davon entfernt, der Ausgangspunkt einer politischen Entwicklung zu sein, ist eine Institution einfach das Ende dieser Entwicklung.

    Sicherlich ist der Einfluss von Institutionen und Menschen auf Ereignisse nicht gleich null. Die Geschichte zeigt dies auf jeder Seite, aber sie übertreibt ihre Macht und verkennt, dass sie meist das Ergebnis einer langen Vergangenheit sind. Wenn sie nicht im richtigen Moment eingreifen, ist ihr Handeln einfach genauso destruktiv wie das von Eroberern.

    Der Glaube, dass man die Seele eines Volkes verändern kann, indem man seine Institutionen und Gesetze ändert, ist ein Dogma geblieben, mit dem wir uns in diesem Buch häufig auseinandersetzen und zu dem wir bald zurückkehren werden.

    Die lateinischen Völker haben sich von dieser Vorstellung noch nicht befreit, und das macht ihre Schwäche aus. Ihre Illusionen in die Macht der Institutionen haben uns die blutigste Revolution der Geschichte, den gewaltsamen Tod von mehreren Millionen Menschen, die tiefgreifende Dekadenz aller unserer Kolonien und den drohenden Vormarsch des Sozialismus gebracht.

    Nichts hat dieses schreckliche Dogma erschüttern können, und wir hören nicht auf, es jeden Tag konsequent auf die unglücklichen Einheimischen anzuwenden, die uns in die Hände gefallen sind und die wir so zu Hass und Aufruhr bringen.

    Die Zeitungen haben kürzlich ein neues Beispiel für diese weit verbreitete Blindheit geliefert, indem sie einige Auszüge aus einem Rundschreiben des Gouverneurs der Elfenbeinküste an seine Verwaltungsbeamten wiedergegeben haben. Das Endergebnis war der Aufstand des Landes, das Massaker an mehreren Offizieren und die sehr kostspielige Notwendigkeit, zahlreiche Truppen aus der Metropole¹⁰ zu schicken, um die Ordnung wiederherzustellen. Hätten die Engländer oder die Holländer ihre Kolonien nach solchen Prinzipien regiert, wären sie längst verloren gewesen.

    Dieses Dokument, von dem ich die wichtigsten Passagen wiedergebe, zeigt deutlich unsere nicht reduzierbare Unfähigkeit, zu verstehen, dass die Seele eines Volkes nicht mit Dekreten umgewandelt werden kann und dass Institutionen, die für ein Volk hervorragend sind, für ein anderes sehr schlecht sein können und zudem immer unanwendbar sind.

    „Es wird notwendig sein", schrieb dieser Gouverneur, „dass unsere Untertanen auch gegen ihren Willen vorankommen.¹¹ […] Es bedarf der Autorität, das zu erreichen, was der Überzeugungsarbeit versagt blieb.¹² […] Wir werden die Mentalität der Schwarzen komplett ändern müssen, um uns verständlich zu machen.¹³ […] Was ich nicht möchte ist, dass wir eine Sensibilität ohne Ergebnis an den Tag legen. Auch wenn wir die Wünsche der Einheimischen von Anfang an nicht zu berücksichtigen scheinen, ist es wichtig, dass wir ohne Schwäche dem einzigen Weg folgen, der uns wahrscheinlich zum Ziel führt.¹⁴ […] Ich glaube keineswegs, dass wir die Folgen unseres Handelns fürchten müssen, selbst wenn es gegen Gepflogenheiten verstößt, die bestenfalls so aussehen, dass sie gegen jeden Fortschritt sind."

    Es ist nicht die Mentalität der Schwarzen, die dringend geändert werden muss (wenn es nach unserem Willen ginge), sondern die Mentalität der Administratoren, die willens sind, die vorhergehenden Zeilen zu unterschreiben.

    Was die Illusion des tapferen Gouverneurs angeht, der „die Folgen seines Handelns nicht fürchten muss", so haben ihm die Ereignisse eine harte Lektion erteilt, die ihm leider kaum nützen wird. Es lag schon immer in der Natur eines Glaubens, dass er nicht durch Beobachtung, Argumentation oder Erfahrung verändert werden kann. Politische Überzeugungen haben die gleiche Hartnäckigkeit wie religiöse Dogmen, obwohl sie nicht

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