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Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft
Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft
Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft
eBook902 Seiten11 Stunden

Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft

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Über dieses E-Book

Diese Studie ist eine grundlegende Arbeit zur Intersektionalität die sich von der bisherigen deutschsprachigen Forschung insbesondere (selbst-)kritisch absetzt und damit der Intersektionalität eine neue Ausrichtung als feministisch-antirassistische Migrationsforschung gibt. Der gängige Antirassismus bleibt dagegen als der patriarchale Bruder der Intersektionalität zurück.

Diese theoretische Neuausrichtung wird hier durch eine Aufarbeitung und Reflexion der gesellschaftlichen Position und Positionierung von türkeistämmigen Migrantinnen in Deutschland und Frankreich im Generationenverlauf hergestellt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Juli 2023
ISBN9783757875763
Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft
Autor

Sakine Subaşi-Piltz

Sakine Subaşi-Piltz ist mit drei Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert. Aufgewachsen und zur Schule gegangen ist sie in Schleswig-Holstein, in Henstedt-Ulzburg. Nach dem Abitur folgte das Pädagogik-Studium, das sie an der Uni Vechta in Niedersachsen absolvierte. Danach hat sie Philosophie, Ethnologie und Deutsch, Mathe und Kunst auf Lehramt studiert. Ethnologie und Lehramt hat sie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main studiert. An der Goethe Universität wurde sie schließlich auch in Erziehungswissenschaften promoviert. Sie lebt in Frankfurt am Main.

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    Buchvorschau

    Die Dialektik des Antirassismus und die Herausbildung feministischer Selbstkonzepte in der Migrationsgesellschaft - Sakine Subaşi-Piltz

    Danke, Theo!

    Für Elif

    Inhalt

    Editorische Vorbemerkung

    Vorwort: Die Dialektik des Antirassismus und Intersektionalität als gesellschaftliche (Selbst-)Positionierung

    Einleitung

    Emanzipation durch Biographiearbeit. Dieter Baacke und das Interesse an Lebensgeschichten

    Die Entstehung dieses Buches

    Geschichten erschließen und verstehen

    Identität und Diversität versus Gleichheit und Emanzipation

    Pädagogische Haltung in der Migrationsgesellschaft

    Rassismus verstehen, um ihm antirassistisch begegnen zu können

    Nicht der Antisemitismus der Nazis, aber ist der Antisemitismus des 19. Jahrhundert - am Vorabend der Shoah - mit dem Rassismus gegenüber Muslimen heute vergleichbar?

    Zentrismus als Antirassismus

    Die theoretischen Grundlagen dieses Zentrismus

    Säkularität, Religionsfreiheit und Antirassismus

    Der zentristische Antirassismus und das Kopftuch

    Männliche Herrschaft

    Ein Blick auf den akademischen Antirassismus in der Migrations- und Gender- und Frauenforschung

    Die Intersektionalität im Verhältnis zum zentristischen Antirassismus

    Die Intersektionalität neu denken. Oder: Wie geht feministische Migrationsforschung?

    Intersektionalität und die Unterschiede zwischen Frauen

    Türkeistämmige Frauen in Deutschland

    Die rassifizierte Frau und die ehrbare Frau

    Der zentristische Antirassismus der Intersektionalitätsdebatte

    Die Biologie im zentristischen Antirassismus

    Literatur- und Quellenverzeichnis

    Die Herausbildung von feministischen Selbstkonzepten europäischer, türkeistämmiger, muslimischer Frauen im Generationenverlauf – mit Blick auf die BRD und Frankreich

    Einleitung

    1. Epistemische Ausgangssituation – Antimuslimischer Rassismus in der BRD

    1.1 Privilegienbewusstsein in der antirassistischen Arbeit

    1.2 Rassismusbegriff in dieser Arbeit

    Grundzüge des Rassismus

    Diskurs der Abwertung

    Privilegierung der Unmarkierten

    Vorurteile, Verschwörungstheorien, Phantasien – alles ist erlaubt!

    Rassismus als ein Problem von hegemonialen Mehrheitsgesellschaften

    Rassismus hat ein Geschlecht

    1.3 Sprechen und Repräsentation

    1.4 Selbstpositionierung zwischen Repräsentation und Widerstand

    2. Transdisziplinärer Rahmen dieser Arbeit – Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

    2.1 Spezifische Einführung in das Thema - feministische Selbstkonzepte unter türkeistämmigen, muslimischen Frauen im Generationenverlauf

    Die Generationenfrage in dieser Untersuchung - Generation, Erziehung, Migration

    Stand der (Kopftuch-)Forschung

    2.2 Forschungsdesign

    2.3 Forschungsfragen

    3. Methodologie

    3.1 Der Blick auf die BRD und Frankreich - Analysehorizont

    3.2 Intersectionality aus dem amerikanischen Kontext

    3.3 Kritische Anmerkungen zur deutschsprachigen Intersektionalitätsdebatte

    3.4 Über Rassismus sprechen – statt über Rasse

    3.5 Intersektionalität heißt: Feminismen und Antirassismen dekolonisieren

    3.6 Die Probleme der deutschsprachigen Intersektionalitätsdebatte als ein Vakuum für die scheinbar abhanden gekommene Kategorie Frau?

    4. Das Wie der Intersektionalität – Methodisches Vorgehen in dieser Untersuchung

    4.1 Subjekte der Migrationsforschung

    4.2 Exkurs: Weihnachten in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft

    4.3 Datenerhebung

    4.4 Datenaufbereitung

    5. Ethnographische Fallanalyse, Fall 1: Allgemeiner Einblick in das Material

    5.1 Codierung der Feldnotizen im Kontext meiner Interviewpartnerin

    5.2 Das Interview

    5.3 Bedeutungseinheiten und Kategorien im Interview

    5.4 Interview in der dichten Beschreibung

    5.5 Zusammenfassung zentraler Ergebnisse in ihrer Ambivalenz

    5.6 Abschließende Analyse ihrer Selbstpositionierung

    6. Ethnographische Fallanalyse, Fall 2: Allgemeiner Einblick

    6.1 Vorgehensweise im Feld

    6.2 Vorgehensweise bei der Interpretation und Analyse

    6.3 Allgemeiner Einblick in das Text-Material

    6.4 Generationenfrage bei meiner Interviewpartnerin

    6.5 Codierung und Kategorisierung der Feldnotizen im Kontext des Falles „Melek"

    6.6 Das ethnographische Gespräch mit Melek - übersetzt, transkribiert und in einer dichten Beschreibung mit Blick auf Intersektionalitätskategorien analysiert und interpretiert

    Subjekt, Hingabe und Normativität

    Sündenhierarchie im Islam – Religion, Geschlecht und Sexualität

    Kapital, Geschlecht, Rassismus

    Kapital, Geschlecht, Rassismus im Kontext von Frauen(lohn)arbeit (Europa)

    Kapital, Bildung, Geschlecht, Rassismus

    Rassismus, Geschlecht, Religion

    Zweiter Teil des Interviews nach einer Unterbrechung:

    6.7 Fazit: Emanzipation und Subjektivität

    Die Triade: Außereheliche Sexualität, Alkohol und das Glücksspiel

    7. Epilog

    Literatur- und Quellenverzeichnis

    Editorische Vorbemerkung

    Die ab Seite → gedruckte Arbeit „Die Herausbildung von feministischen Selbstkonzepten europäischer, türkeistämmiger, muslimischer Frauen im Generationenverlauf - mit Blick auf die BRD und Frankreich wurde 2015 als Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht und erfolgreich verteidigt. Ich danke Herrn Prof. Micha Brumlik für die langjährige Begleitung dieses Projekts und sein wohlwollendes Gutachten. Für die vorliegende Buchpublikation wurden das Inhaltsverzeichnis angepasst, ein Name, der bis dahin nicht anonymisiert war, nachträglich anonymisiert, sowie manche Rechtschreib- und Zeichenfehler korrigiert. Ansonsten liegt die Arbeit unverändert vor. Dem Text vorangestellt ist ein neues Vorwort mit dem Titel „Die Dialektik des Antirassismus und Intersektionalität als gesellschaftliche (Selbst-)Positionierung, das 2023 verfasst wurde und hier erstmalig erscheint. Die Veröffentlichung einer redigierten Fassung von Teilen dieses Werks ist in Planung.

    Sakine Subașı-Piltz

    Frankfurt am Main im Juni 2023

    Vorwort:

    Die Dialektik des Antirassismus und Intersektionalität als gesellschaftliche (Selbst-)Positionierung

    Einleitung

    In den letzten Jahrzehnten sind viele wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Publikationen erschienen, die Biographien in muslimischmigrantischen Kontexten thematisieren. So sind postmigrantische Milieus in vorwiegend türkischen, aber auch in anderen muslimischen Kontexten in gewisser Weise interdisziplinär bekannt geworden. Dabei werden Geschichten von Migrantinnen und Migranten oder ihren Nachfahren erzählt. Allerdings stagniert die Erkenntnisbildung in diesem Bereich seit einigen Jahren. Und der Eindruck drängt sich auf, dass die Migrationsforschung, wie auch die Intersektionalitätsforschung im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung offenbar keinerlei Bedarf mehr für die Integration von Migrantinnen und Migranten sieht. Sie beschäftigt sich immer weniger mit den sozialen Ungleichheiten zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und den Problemen in den migrantischen Milieus selbst. Im Gegenteil ist Integration vermutlich so verpönt wie nie zuvor. Es gilt eher die Aufnahmekultur abzuwerten und Migrantinnen und Migranten aufzuwerten. Per se.

    Rechts- und Linkspolemiken spielen sich dabei gegenseitig den Ball zu. Die ehemalige Bundesintegrationsbeauftragte Aydan Özoǧuz behauptete in diesem Kontext, dass die Bundesrepublik Deutschland gar keine eigene Kultur habe (vgl. Jäger 2017), in die Migrantinnen integriert werden könnten – natürlich aus dem gut gemeinten Gestus, damit auf rechte Positionen in der Leitkulturdebatte zu reagieren. Dagegen wollte Friedrich Merz nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht 2022/2023, bei denen die Polizei und die Feuerwehr gezielt angegriffen worden war, die Namen der Angreifer wissen, um von ihren Namen auf ihre Herkunft, von ihrer Herkunft auf ihre (nichtdeutsche) Kultur und davon wiederum auf ihre Schuldfähigkeit schließen zu können. Sowohl Aydan Özoǧuz als auch Friedrich Merz werten damit die in Deutschland nach dem massenmörderischen Nationalsozialismus mühselig etablierte demokratische Kultur ab.

    Zum einen werden die Probleme, die Migrantinnen und Migranten oder ihre Nachfahren hier tatsächlich haben, allein auf fehlende Anerkennung beziehungsweise Wertschätzung innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft und hierbei insbesondere auf die rassistische Missachtung ihrer Leistungen reduziert. Zum anderen wird dann der dumpfen generellen Ablehnung von Migrantinnen und Migranten doch wieder eine gewisse Plausibilität zugesprochen. .

    Die Anerkennung soll die gesellschaftlichen Verhältnisse umkehren - - so kann der Antirassismus auf eine kurze Formel reduziert werden - dass die, die heute prinzipiell von Rassismus betroffen sind, unter allen Umständen aufgewertet werden, während alle anderen abgewertet werden. Klingt erstmal nach einer Umverteilung der Anerkennung: wo die einen zu viel an Anerkennung genießen, wird abgegeben an die, die weniger Anerkennung genießen. Klingt doch gerecht. Warum also eigentlich nicht?

    Doch schon allein, wenn wir uns die Frage bewusst stellen, merken wir, dass die Rechnung noch nicht auseinanderdividiert ist und alles schwieriger wird, wenn wir den theoretisch-abstrakten Rahmen verlassen. Es ist ja noch gar nicht klar, wer wie viel und warum und in welcher Weise zu viel oder zu wenig Anerkennung genießt und wer entsprechend an wen abgeben soll, zumal diese Rechnung lediglich auf der Grundlage eines strategischen Essentialismus aufgemacht wird, deren Begriffe nicht nur relativ inhaltsleer sind und in der Praxis oft genug ihre Absurdität in umgekehrtem Rassismus offenbaren. Begriffe wie Diversität, Heterogenität oder Differenz gründen auf diesem und werden schlicht in einer scheinbar für Migrantinnen und Migranten wohlwollenden Formel bemüht. Heterogenität soll wertgeschätzt werden (vgl. hierzu auch Walgenbach 2017, S. 43), allerdings bleiben in einem alles wohlwollenden und affirmierenden identitätspolitischen Anerkennungsdiskurs diese leider auch relativ oberflächlich und abstrakt, so dass schließlich eine gewisse Unnahbarkeit mit ihnen einhergeht. Geht es nun also doch mehr um Segregation statt Integration? Gehört zur Anerkennung nicht auch verstehen und nicht nur annehmen?

    Jenseits einer Heterogenitätsdebatte, die vermutlich auch wegen ihrer Inhaltsleere eine Hochkonjunktur erfährt und in der den Akteurinnen und Akteuren oft selbst nicht klar ist, wie damit insbesondere in pädagogischen und speziell in schulischen Handlungsfeldern umgegangen werden soll und was etwa die Chance des Prinzips „Heterogenität als Chance" eigentlich bedeutet (vgl. Walgenbach 2017, S. 27 ), möchte ich hier in der Debatte um Heterogenität, Intersektionalität und Migrationsgesellschaft den Finger in die Wunde legen.

    Ich fasse das Ganze hier als Antirassismusdebatte zusammen und versuche mich ihren Problemen auf der Grundlage des methodologischen Antirassismus zu nähern. Den methodologischen Antirassismus nehme ich dabei mit Bezug auf die Geschlechterverhältnisse in migrantischen Milieus in den Blick, die m.E. durch ihn mittlerweile immer unsichtbarer werden, während gewaltförmige Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse in diesen dadurch zum Teil sogar relativiert und indirekt auch legitimiert werden. Denn die Kosten des aktuellen Staats-Antirassismus tragen zurzeit vor allem all jene, die von ihm unsichtbar gemacht werden. Daher versuche ich hier den Antirassismus gleichzeitig neu zu denken, um ihn anders als aktuell verwendet wieder für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit wieder öffnen zu können.

    So benötigt m.E. der Antirassismus einen substantiellen Begriff von Gerechtigkeit, um der Leere und Beliebigkeit des Begriffs der Heterogenität, die wir heute zum Teil in Handlungsfeldern der Pädagogik, die in der Migrationsgesellschaft natürlich mit der gesellschaftlichen Heterogenität arbeiten und arbeiten müssen, erleben (vgl. ebenda) ein ethisches Maß und damit auch mehr Tiefe zu verleihen. Hierbei greife ich auf die Lektüre Micha Brumliks „Gerechtigkeit zwischen den Generationen zurück, die er 1995 als Reflexion einer „Pädagogik nach Mölln, bzw. nach den rechtsterroristischen Pogromen der 1990er Jahre publiziert hat und versuche damit eine antirassistische Pädagogik unserer aktuellen Migrationsgesellschaft neu zu denken.

    Obwohl oder vielleicht trotz der breiten Erscheinung einer gesellschaftlichen Resignation vor den gesellschaftlichen Verhältnissen und den sozialen Ungleichheiten, die immer erdrückender zum Vorschein kommen, werden Probleme nicht offen ausgesprochen, sondern maximal beschönigt oder beschwichtigt. Während dessen schwebte immer ein Damoklesschwert des Rassismusvorwurfs über allen Problemthemen der Migrationsgesellschaft. Wer etwas Falsches sagt, wird verdammt. Gleichzeitig tun es alle.

    Dürfen bestimmte Dinge ausgesprochen oder kritisiert werden? Viele sind verunsichert, auch weil sie auf keinen Fall rassistisch sein wollen, dass gerade diese Vorsicht bei vielen dazu führt, dass sie sich in zum Teil grobrassistischen Denkmustern verstricken, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Doch die Widersprüche interessieren kaum. Es scheinen in der aktuellen Debatte vor allem Kategorien und Zugehörigkeiten wichtig zu sein, wichtiger als Individuen und Menschen.

    Daher erscheint es mir umso wichtiger, mich dem emanzipatorischen Potenzial biographischer Erzählungen und dem Geworden-sein von Identitäten aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wieder zuzuwenden. Hier in diesem Vorwort lade ich ein, sich von einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit Heterogenität zu verabschieden und mit mir in Tiefe einzutauchen, uns dabei auch zuzutrauen, uns auch mit dem „Problematischen oder auch „Defizitären auseinandersetzen zu können, ohne zwangsläufig rassistisch werden zu müssen.

    Dazu erscheint mir der Trend, die Menschen ihre Geschichten einfach erzählen zu lassen und diese unkommentiert stehenlassend als Teil der Diversity zu feiern, nicht mehr zielführend zu sein. Wir müssen uns m.E. mit den Geschichten und hierbei auch nicht nur mit dem Erzählten, sondern auch mit seinen Leerstellen und auch Widersprüchen befassen. Dazu müssen wir uns mit den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Biographiearbeit wieder zuwenden, um nicht mehr nur positive Geschichten oberflächlich konsumierbar darzustellen, sondern auch um uns um ein tiefergehendes Verständnis des gelebten Lebens zu bemühen.

    Warum wir uns also trotz der vielen Geschichten dennoch, aber eben tiefergehend mit Biographien und Geschichten weiter beschäftigen sollten, möchte ich im Folgenden durch einige methodologisch-theoretische Grundgedanken mit Dieter Baackes „Ausschnitt und Ganzes: Einige theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichte" (1978, S. 1-20) erörtern.

    Darauf aufbauend, beziehungsweise parallel dazu erzähle ich hier im Vorwort die Geschichte dieser Arbeit und die methodologischen Probleme, die auch dieses Buch begleitet haben, um damit gleichsam auch das Problematische des methodologischen Antirassismus in der Migrations- und Frauen- und Geschlechterforschung zu benennen und damit auch zu kritisieren, in dessen Kontext diese Arbeit entstanden ist. Das heißt, dieses Vorwort stellt nicht weniger als die Kritik dieses Buches dar und sollte unbedingt vorweg, aber mindestens im Nachhinein gelesen werden.

    Emanzipation durch Biographiearbeit. Dieter Baacke und das Interesse an Lebensgeschichten

    Zu Beginn seiner theoretisch-methodologischen Reflexion fragt Dieter Baacke, was ihn eigentlich an Geschichte(n) interessiert (Baacke 1978) und überlegt, warum die Auseinandersetzung mit Geschichte oder Geschichten an sich lohnenswert ist. Also genau die Frage, die auch hier eine Antwort verlangt. Warum also doch noch eine Geschichte? Gibt es nicht schon genug Geschichten, die uns alle im gesellschaftlichen Zusammenleben im Grunde nicht weiterhelfen, sondern nur Scheinriesen aufbauen? Wann ist das Ende solcher Geschichte(n) erreicht?

    Baacke hatte drei Antworten darauf, warum eine weitere Geschichte für uns interessant sein sollte. Es lohnt sich diese zu vergegenwärtigen:

    Antwort 1: Weil man aus Geschichten anderer etwas über die eigene Identität lernt. (Vgl. Baacke 1978, S. 1) Die Antworten auf die Fragen, wie sich andere Menschen wofür entschieden haben, entwickeln nach Baacke eine Art Resonanz zu den je eigenen Lebensentscheidungen derer, die sich mit den Geschichten anderer befassen. So werden aus den Unterschieden zur je eigenen Biographie die Konturen der eigenen Identität deutlicher. Das heißt, dass das Interesse an anderen auch gekoppelt ist mit dem Eigeninteresse, mit der eigenen Selbstreflexion und dem Bemühen, sich selbst und seinen eigenen Handlungen auch Sinn zu verleihen und sie somit auch zu verstehen. Erst nach dem Interesse an sich selbst begründet er weiter das Interesse als ein grundsätzliches Interesse an anderen. Darauf kommt er in seiner zweiten Antwort.

    Antwort 2: „Ich erfahre auch etwas über fremde Identitäten, kann also lernen, daß es Sozialisationsschicksale gibt, die von meinen abweichen." (Baacke 1978, S. 1) Hierbei geht es Baacke um ein instrumentelles Interesse um professionelles Wissen, über das der Pädagoge oder die Pädagogin verfügen muss, um anderen in bestimmten Lebenssituationen helfen zu können. (Vgl. a.a.O.) Das heißt, dass das Interesse an einer anderen Person und ihrer Geschichte nicht nur Selbstzweck ist, sondern aus einer bestimmten professionellen Motivation heraus erwächst, also zum Beispiel aus der Motivation heraus, aus dem Verständnis einer anderen Lebensrealität anderen in ähnlichen Lebensrealitäten helfen zu können. Wenn wir zum Beispiel durch eine biographische Erzählung oder eine Dokumentation erfahren, mit welchen Problemen Jugendliche in einem bestimmten Milieu konfrontiert sind, können Jugendliche aus diesen Milieus besser bei der Bewältigung dieser Probleme begleitet werden. Wir können ihnen bei der Reflexion ihrer Lebensumstände beiseite stehen. Es können Hilfs- und Beratungskonzepte entstehen.

    Anders als die aktuelle Migrationsforschung bietet der Kulturbetrieb immer wieder Einblicke in problematische Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten und lässt dadurch Erkenntnisse dazu auch zu. Als Beispiele seien hier etwa „40qm Deutschland von Tevfik Başer aus dem Jahre 1985 oder „Gegen die Wand aus dem Jahre 2004 von Fatih Akın erwähnt, welche, wenn ihre Einsichten in der Sozialforschung Berücksichtigung gefunden hätten, heute vielleicht Frauen wie Hatun Sürücü noch am Leben wären, weil wir uns Gedanken gemacht hätten, wie die Soziale Arbeit beispielsweise auf archaische Formen des Patriarchats mitten in einer postmodernen Gesellschaft in Deutschland reagieren könnte und wie Mädchen wie Hatun Sürücü, die nicht nach den traditionellen Vorstellungen ihrer Herkunftsfamilien leben wollen, ebenso begleitet und unterstützt werden können wie auch ihre Familien, um ihnen allen neue Wege zu ermöglichen und die Gewalt des Patriarchats damit zu beenden. Und so kommen wir schließlich auch auf die dritte Antwort, die mit der zweiten unmittelbar zusammenhängt:

    Hierbei bezieht sich Dieter Baacke schließlich auf die allgemeine Wirklichkeit: „Ich erfahre an Hand von Erzählungen etwas über die Wirklichkeit, in der wir leben." (Baacke 1978, S.1) Das bedeutet, dass letztlich die Geschichten von Menschen uns Auskunft darüber geben, wie die Gesellschaften und insbesondere die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen sind. Wenn dem so ist, wir also dadurch die Möglichkeit haben, über die Geschichten von Menschen Informationen zur Analyse der jeweiligen Gesellschaften zu erhalten, ist es darüber auch möglich, die gesellschaftlichen Verhältnisse genauer zu analysieren, bestimmte Orte des Dunkels zu beleuchten und dadurch beispielsweise Verbesserungen für die dort in diesem Dunkel verharrenden Menschen etwa anzustrengen.

    Durch das Zusammentragen individueller Lebensgeschichten erfahren wir also letztlich, wie wir leben, in welchen Verhältnissen wir leben und wo es gerecht oder ungerecht zugeht. Unter Umständen können diese Geschichten durch die Gesellschaftsanalyse und -kritik dazu beitragen, dass Menschen über die Geschichten anderer die Ungerechtigkeiten, die an ihnen selbst begangen werden und an die sie sich möglicherweise zu ertragen gewöhnt haben, erkennen, so dass sie plötzlich nicht mehr in der Lage sind, diese weiter zu ertragen oder gar diese Duldung an die zukünftigen Generationen weiterzugeben. Derzeit geschieht dies im Iran so wie es in vielen antikolonialen Kriegen immer wieder geschehen ist, dass Menschen sich gegen ihre Unterdrückung erhoben haben, weil sie verstanden haben, dass ihre Unterdrückung nicht richtig ist (vgl. Fanon 1981).

    So können wir also Baacke um eine weitere Antwort ergänzen, beziehungsweise zu dieser Antwort noch den Aspekt hinzufügen, in dem wir das Interesse an Geschichten auch als ein allgemeines Interesse an verbesserten und gerechteren gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensbedingungen formulieren. Geschichten können ins Bewusstsein bringen, was ungerecht und falsch ist, so dass Menschen dadurch Sicherheit bekommen, aus dem Herkömmlichen auszuscheren, ja zu müssen, wenn es keine Beschwichtigung mehr gibt. Die Geschichten anderer können in uns Erkenntnisprozesse in Gang setzen und zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen.

    So gesehen geben Geschichten also Auskunft über mich selbst als Rezipientin, über den Erzählgegenstand und über die allgemeine Wirklichkeit, die aus den vielen individuellen Lebensgeschichten besteht und entfaltet dadurch eine je eigene Dynamik und Kraft. Von daher sind Geschichten – ob nun die von Jina Mahsa Amini oder von Hatun Sürücü - immer „interessant" und für die Gesellschaftsanalyse und Selbstreflexion ebenso wichtig wie für die Theorien der Sozialen Arbeit, wenn sie den Menschen dienen und die Gesellschaft hin zu einer besseren begleiten wollen. Ohne diesen Anspruch sind sowohl Geschichten als auch die Soziale Arbeit, ja jegliche Pädagogik im Grunde nutzlos und dienen lediglich beschwichtigend und stabilisierend als Herrschaftsinstrumente der gegebenen Verhältnisse.

    Doch wie gehen wir mit Geschichten um? Wie entfalten Geschichten diese Kraft und was können Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler tun, um von Geschichten den Blick des Gewohnten, der Verschleierung und der vermeintlichen Rechtfertigung abzutragen, mit der sie sich tagtäglich in gesellschaftlichen Realitäten tarnen und gleichsam sichtbar wie unsichtbar vor uns existieren? Die gesellschaftlichen Realitäten sind ja in der Regel - wenn eine gesellschaftliche Segregation nicht schon so weit fortgeschritten ist und beispielsweise ganze Milieus in abgezäunten Bereichen wie z.B. in Favelas oder Slums offen sichtbar getrennt vom besser gestellten Teil der Gesellschaft leben, unsichtbar. Unsichtbar, nicht nur, weil sie materiell segregiert leben, sondern auch weil es keine Begriffe für sie gibt, um sie zu beschreiben. Auch, weil mit der Segregation die Angst wächst, sich mit bestimmten gesellschaftlichen Realitäten zu konfrontieren, die Angst bestimmte Tabus oder Grenzen überschreiten zu können, die uns und unsere Positionen gefährden können. Doch woher kommen diese Grenzen? Was sind das für Tabus? Und wer macht diese Tabus? Und welche Grenzen sind wir bereit zu welchem Preis zu akzeptieren und welche müssen wir immer wieder niederreißen, auch wenn sie wie Unkraut wieder neu und wie von selbst entstehen?

    Im Westen dient aktuell grotesker Weise der aktuell anerkannte Antirassismus dazu, Unsichtbarkeit und Segregation zu fördern. Es bleibt ähnlich wie bei Slums, aus denen wir am liebsten draußen bleiben und beispielsweise auch im Urlaub uns ganz genau an die Routen halten, die sicher sind und die uns nicht unvorbereitet in die nächste dunkle Wellblechsiedlung führen, wo uns nicht nur die Verwahrlosung und Armut anderer Menschen droht sichtbar zu werden, sondern vielleicht auch nackte Gewalt, die auch unsere Existenz angesichts der Unterschiede in Frage stellt.

    Konkret wird die unsichtbare Grenze hier dadurch bewerkstelligt, dass patriarchale Herrschaft und Unterdrückung von Migrantinnen, aber auch von deutschen Frauen sowie allen anderen, die in unterschiedlichen Migrationsmilieus nicht zur Norm gehören und dadurch verfolgt, unterdrückt oder zum Schweigen gebracht werden, verharmlost und das Sprechen darüber tabuisiert wird.

    Herrschaftsverhältnisse sind natürlich nicht einfach auflösbar. Sie drohen in der Regel mit Gewalt und Ausschluss, wenn man sich ihnen widersetzt oder, wenn man ihre Gewalt sichtbar zu machen droht. Unterdrückung scheint zudem eigene Gewaltverhältnisse herauszubilden, die von den Unterdrückten selbst zum Teil aufrechtgehalten werden. Erziehungswissenschaftliche Sozialforschung kann und muss allerdings dagegenhalten, was bereits im Erschließen und im Verstehen von Geschichten geschehen kann, wenn sich das Potenzial des Emanzipatorischen im Verstehensprozess entfalten soll.

    Was bedeutet aber Verstehen und Erschließen in diesem Kontext überhaupt? Wie verstehen wir die Geschichte(n) eines Menschen? Und was macht eine Geschichte, die einen Lebensverlauf zur Erzählung macht, aus? Wie lässt sich eine Biographie als eine Geschichte, als ein „Komplexion von Daten" (Baacke 1978, S.2) erzählen? Dieter Baacke lenkt an dieser Stelle den Fokus zuerst auf das Verstehen von Geschichten und schiebt die Frage nach ihrer Entstehung beiseite.

    Ich möchte jedoch im Kontext dieser Arbeit doch auf den Entstehungshintergrund dieses hier vorliegenden Buches eingehen. Baackes Vorgehen erscheint dennoch als methodologische Reflexion und forschungslogisch natürlich völlig sinnvoll. Denn zum Verstehensprozess gehört auch die Erschließung dessen, was wir überhaupt verstehen wollen. Eine Geschichte lässt sich daher nur im Nachhinein als eine Geschichte erkennen und das auch nicht ohne Weiteres. Am Anfang eines Verstehensprozesses wissen wir nie, was eigentlich die Geschichte eines Lebens ist, mit der wir uns zu beschäftigen vorgenommen haben, worum es in ihr geht, was zu ihr gehört oder gar, wo sie anfängt, geschweige denn wie sie weitergehen oder gar enden wird. Es sei denn, sie ist zu Ende. Von ihrem Ende aus, lässt sie sich dann mit Hilfe von Geschehnissen und Daten rekonstruieren und schließlich erzählen. Daher können wir uns am Anfang nicht mit einem Entstehungskontext befassen. Anders gesagt, ist im Leben eines Menschen jeden Tag auch eine Wendung hin zu einer anderen als der bisherigen Geschichte möglich. Dieses Vorwort ist quasi das Ende dieses Buches. Es ist der letzte Teil. Daher ist der Entstehungskontext und der Anfang der Geschichte (dieses Buches) nun endlich auch von ihrem Ende her erzählbar.

    Die Entstehung dieses Buches

    Am Anfang dieser Arbeit sind Suchbewegungen zu erkennen, die genau den Versuch offenbaren, der Geschichte eine Struktur, einen gesellschaftlichen Rahmen geben zu wollen: Rassismus, Antisemitismus, Familie, Generationen, Islam, Einwanderung, Postkoloniale Theorie. Assoziativ werden Begriffe gesammelt und der ersten Reflexion im Rahmen dieser Arbeit zugeführt. Hängen diese Begriffe miteinander in dieser Geschichte wirklich zusammen? Was die Geschichte ist und aus welchen Materialien sie sich erschließen lässt, wird erst im Nachhinein deutlich, wenn, wie in dieser Arbeit die „Gesteinsschichten der Bewusstlosigkeit abgetragen sind und die einzelnen, zum Teil neu ans Tageslicht gekommenen Bruchstücke – wie etwa Frauenlohnarbeit, Emanzipation, Intersektionalität – sich in der Geschichte zusammenfügen. Und das kann dauern. Wie eine Geschichte entstanden ist, können wir nur im Nachhinein erkennen, wenn wir eine Geschichte bereits erschlossen und verstanden haben. Dann wissen wir, wo die Geschichte anfängt und wo sie aufhört; welchen Aufbau sie hat und was alles dazu gehört, um sie erzählen zu können. So entstehen über einen längeren Zeitraum durch den Prozess des Verstehens und des Erschließens Geschichten, die einen „erzählbaren Zusammenhang möglichst plastisch, vollständig und [..] mit subjektiven Einfärbungen [versehen, Satzumstellung durch die Autorin, SP] darstellen (vgl. Baacke 1978, S. 4.), während der Verstehensprozess selbst zusätzlich eine eigene Geschichte erzählt.

    Zu Beginn schon strukturieren zu wollen, in welche Richtung es zu gehen hat, ist ein heilloses Unterfangen, aber dennoch auch unerlässlich. Irgendwo muss ja mit der Arbeit begonnen werden. So werden Themen und Begriffe angerissen, weil sie als der Geschichte zugehörig betrachtet werden. Wie ein Puzzle werden sie immer wieder zusammengefügt und wieder auseinandergerissen. Bis die Teile zusammenpassen.

    „Türkeistämmige Muslime" ist ein Begriff, der aus der Übersetzung des türkischen „Türkiyeli" im Rahmen dieser Arbeit entstanden ist, der sich der Gleichsetzung der türkischen Ethnie mit den türkischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern widersetzt. Es sollte gleichzeitig im europäischen Kontext ein Hinweis darauf sein, dass es auch türkeistämmige Christen gibt, die in Deutschland leben. Türkeistämmige Muslime sollten unter dem Thema des „antimuslimischen Rassismus" betrachtet werden, wobei dieser Begriff wiederum hier entwickelt wurde, um den Fokus von der Ablehnung einer Religion, was ja prinzipiell unter der rechtlich garantierten (auch negativen) Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist, hin zu der pauschalen Ablehnung ihre Mitglieder zu lenken und damit auch eine solche Form der Ablehnung als „Rassismus gegenüber sichtbaren Muslimen" (Subașı 2007) im gesellschaftlichen Gesamtkontext zu untersuchen.

    Gleichzeitig sollte es um feministische Emanzipation gehen. Allerdings nicht um eine individuelle oder bewusst errungene Emanzipation, sondern eher um eine Form der Emanzipation durch gesellschaftliche Anpassung an eine moderne Gesellschaft, in denen die Menschenrechte eben doch eine relativ hohe Anerkennung genießen. Meine Hoffnung war, dass sich die Emanzipation durch das Leben in einer demokratischen Gesellschaft von selbst entfalten würde. Daher waren die Generationenunterschiede hier wichtig. Sie sollten darüber Auskunft geben, was sich seit der Elterngeneration in Geschlechterverhältnissen beispielsweise verändert hat. Wie sahen und sehen die feministischen Selbstkonzepte aus? Ich war überzeugt, von mir selbst ausgehend, dass es welche gab, sowohl in der Mütter- und Großmüttergeneration, als auch in den Folgegenerationen. Aber konnte davon ausgegangen werden, dass das freiheitliche Grundgesetz ohne jegliches Zutun die Emanzipation automatisch befördern würde? Was sind die Bedingungen für Emanzipation und Veränderung?

    Der Begriff der „feministischen Selbstkonzepte" stellt einen Hinweis dazu dar, dass alternative feministische Konzepte in Betracht gezogen werden mussten, die nicht per se feministischen Idealen zugeordnet betrachtet werden können. Darin sollte sich auch eine Form des antirassistischen Feminismus entfalten, in dem das emanzipatorische Potenzial in strukturell begrenzten und prekären Verhältnissen auch kulturell divers gedacht werden kann, so dass das, was dem Anschein nach gar nicht so feministisch erscheint, erst nach seinem Widerstandspotenzial beurteilt werden sollte, den er gegen das Patriarchat entfaltet. Das ist ein ähnlicher Begriff von Feminismus, wie der der Postkolonialität, in dem vor allem nach dem Widerständigen „gegen Kolonialismus, kolonialistische Ideologien und ihre Hinterlassenschaften" (Castro Varela / Dhawan 2005, S.25) gefragt wird. Feminismus ist demnach erstmal alles, was sich gegen die männliche Herrschaft auflehnt und sie untergräbt und Frauen als selbstbestimmte Akteurinnen fördert.

    Diese Parallele war nicht von vorn herein intendiert, dennoch passend, weil es hier vorwiegend um eine Form der patriarchalen Unterdrückung geht, die über eine Form des epistemischen Kolonialismus die Frau als solche – also den weiblichen Körper und das weibliche Bewusstsein - betrifft. Die Postkoloniale Theorie kann daher in diesem Kontext nicht außenvorgelassen werden, ist die männliche Herrschaft selbst eine Art Kolonialismus. Allerdings wird die Analyse dadurch nicht einfacher. Eine der Schwierigkeiten dieser Arbeit lag gerade darin, zu ergründen, was denn eigentlich postkolonial in Bezug auf türkeistämmige Muslime in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet.

    Im ersten Teil der Arbeit geht es daher vor allem um den Versuch, das Muslimsein im europäischen Kontext als eine soziologische Kategorie zu definieren, um auf der Grundlage dieser Kategorie im zweiten Teil die Ergebnisse einer Feldforschung, die ich selbst durchgeführt habe mit dieser Kategorie zu analysieren.

    Jedoch gestaltete sich das ganz anders als gedacht und sehr kompliziert. Ich befand mich mitten in einem politischen Minenfeld, in dem es immer schwieriger wurde, das zu schreiben, was sich als Gesamtbild darstellte. Wie sollte die Türkei postkolonial erörtert werden, ohne die Frage nach den Armenierinnen und Armeniern, den Christinnen und Christen in der Geschichte dieses Landes zu erörtern? Dieses Thema hätte ich mir ehrlich gesagt, insbesondere in dieser Arbeit gern erspart. Mir wuchs die Begriffsarbeit dadurch weit über den Kopf. Ich konnte Vieles auch nicht erörtern, weil sich mir Vieles durch mein eigenes Alltagswissen oft auch einfach verweigerte. Vieles widersprach dem, was ich zu wissen glaubte oder zumindest, was für mich ganz selbstverständlich war. Ich hatte ja selbst einen bestimmten Hintergrund, der meine Perspektive maßgeblich beeinflusste und mich umso mehr verwirrte. Doch verwerfen ließen sich viele Begriffe eben auch nicht einfach. Mir wurde deutlich, dass es Verbindungen gab, dass ich sie aber noch nicht erschlossen hatte. So ließ ich die Begriffsarbeit einfach irgendwann unfertig stehen. Ich konnte ihrer aus meiner eigenen Position heraus – und das ist meine heutige klarere Sichtweise darauf – nicht Herr werden. Patriarchatskritik in muslimischen Milieus schien ja so schon fast wie ein unmögliches Unterfangen. Jetzt auch noch über den historischen Aspekt über die Armenierinnen und Armenier sprechen zu müssen, ja die türkische Geschichte mitreflektieren zu müssen, die ja auch mit einem gewissen Tabu behaftet ist, schien mir unter den gegebenen Verhältnissen ganz und gar unmöglich.

    Je unergiebiger die Begriffsarbeit zunächst verlief, umso ergiebiger gestalteten sich aber die Fallanalysen. Vieles ergab sich sogar völlig ungeplant aus ihnen. Am Ende hätte ich die Begriffsarbeit natürlich anpassen können. Ich habe es tatsächlich auch versucht, allerdings hätte ich die ganze Arbeit im Grunde neu schreiben müssen. Und dazu war ich damals nicht in der Lage. Ich beschloss die Arbeit so wie sie war, abzugeben. Tatsächlich konnte ich nach der Abgabe und auch nach der Disputation plötzlich viel klarer über alles nachdenken. Der Publikationsdruck war weg. Ich überlegte ein paar Mal, die Arbeit zu korrigieren und korrigiert zu publizieren. Doch es war irgendwann klar, dass sich die ganze Arbeit völlig verändern müsste, wenn ich sie überarbeiten wollte. Es hätte eine komplett neue Arbeit entstehen müssen. Allerdings wären dabei die Zwischenschritte und der Erkenntnisvorgang, ja die ganzen Qualen des Erkenntnisfortschritts überhaupt nicht sichtbar geworden. So hätte ich z.B. die Kategorie des antimuslimischen Rassismus am Ende gar nicht mehr in diesen Fokus gestellt, hätte ihn im Kontext eines allgemeineren und inklusiveren Begriffs von Rassismus untersucht. Der Begriff des heute mittlerweile vielerorts verwendeten antimuslimischen Rassismus tendiert ja schon dazu, Opfer von Rassismus automatisch zu Muslimen zu machen, was in einem postkolonialen Antirassismus insbesondere in Bezug auf die Türkei ganz problematisch erscheint. Das ist, wie wenn wir über die Ablehnung der Deutschen in Nazi-Deutschland sprechen würden. Selbst wenn natürlich der Migrationskontext ein anderer ist. Aber wenn wir von Antirassismus reden, können wir die Geschichte der Armenier_innen nicht einfach unter den Teppich kehren und so tun als würde die Geschichte erst mit den 1970er Jahren beginnen.

    Wir müssen beim Antirassismus lernen, genauer zu schauen und genauer und sachlicher zu reflektieren. Der rassistische Anschlag in Hanau beispielsweise, der insgesamt 10 Menschen, mit dem des Täters sogar 11 Menschen das Leben gekostet hat, war kein antimuslimischer Anschlag, wie er aber lange bezeichnet wurde. Er war ein rassistischer Anschlag gegen Ausländer und als Ausländer betrachtete Menschen, aber auch gegen alle ihre Freundinnen und Freunde und Liebhaberinnen und Liebhaber. Er war so gesehen ein rassistischer Anschlag gegen die ganze Migrationsgesellschaft. Dennoch wurde er in den ersten beiden Jahren in der Erinnerungspolitik vorwiegend als ein antimuslimischer Anschlag betrachtet und betrauert. Wäre dieser Anschlag jedoch ein explizit antimuslimischer gewesen, dann hätte er vermutlich vor oder in einer Moschee oder in einem türkischen Männercafé oder sogar eher noch in einem Moscheesupermarkt stattgefunden, wie es sie in Deutschland in jeder Stadt etliche gibt. So wie beispielsweise der Anschlag in Halle, der gezielt gegen Jüdinnen und Juden gerichtet war, sich deshalb auf eine Synagoge richtete. Oder der Anschlag von Christchurch sich auf in Moscheen betende Menschen richtete. Der Anschlag in Halle ist klar als antisemitisch zu identifizieren. Der Anschlag in Hanau aber nicht nur als antimuslimisch, weil er sich zwar auch gegen Muslime richtete, aber auch gegen alle anderen, eben selbst die Mutter des Täters, die offenbar als Teil dieser freien Gesellschaft betrachtet wurde.

    Der Begriff des antimuslimischen Rassismus erweist sich jedoch in vielerlei Hinsicht, wie sich schon erkennen lässt, in der Generalisierung als unbrauchbar, wenn er dazu beiträgt, dass Opfer unsichtbar gemacht werden, wenn sie nicht zum Konzept des antimuslimischen Rassismus passen. Ebenso unbrauchbar erweist er sich, wenn in der Rassismusdebatte viele anderen Rassismen nicht mehr genannt werden und dadurch unsichtbar werden. Doch hätte ich den Begriff hier herausgestrichen, hätte das vermutlich den Anschein erweckt, ich hätte gar nicht erst versucht, den antimuslimischen Rassismus zu verstehen oder womöglich würde mir unterstellt werden, dass ich ihn, nach dem ich ihn viele Jahre untersucht und thematisiert habe, nun verleugnen wollte, um quasi mich der deutschen Gesellschaft anzubiedern und die Rolle der „Haustürkin" zu übernehmen, wie ich sie selbst ja auch anderen schon vorgeworfen habe. Kurz: Der Erkenntnis- und Reflexionsprozess könnte so nicht annähernd transparent werden.

    Ebenso spielt hier natürlich auch nach wie vor eine Rolle, dass in Untersuchungen zum antimuslimischen Rassismus eine Abwehr der Thematisierung islamistischen Terrors mitschwingt. Die Abwehr betrifft sowohl tatsächlich real stattgefundene Terroranschläge, die Verweigerung der Trauer und der Empathie um die Opfer wie auch um ihre Angehörigen als auch der sachlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seiner Geschichte und der Gegenwart des islamischen Imperialismus. Dies ist insbesondere in der deutschsprachigen Migrationsforschung vorzufinden, in der dagegen häufiger die These anzutreffen ist, dass das Sprechen über den Terror nur dazu dienen könne, antimuslimischen Rassismus zu schüren. Wenn wir uns überlegen, dass die Anschläge vom 11. September 2001 von Hamburg aus organisiert und durchgeführt wurden, ist es durchaus berechtigt, sich die Frage zu stellen, ob wir nicht hätten etwas merken müssen.

    Seit Ende der 1990er Jahre gab es viele Islamisten in Norddeutschland, die sich von den sogenannten Volksmuslimen unterscheiden wollten. Das hatte ich unmittelbar in meinem eigenen Umfeld erlebt. Ich konnte mir aber lange gar nicht vorstellen, dass tatsächlich Muslime zu so einem Terroranschlag fähig sein könnten. Auch lange nach dem 11. September wollte ich das nicht wahrhaben. Da erschienen mir zum Teil Verschwörungstheorien glaubwürdiger als die Wahrheit. Doch die Abwehr und das Kleinreden hat das Problem nicht gelöst. Im Gegenteil. Es ist an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und zu ergründen, was damals gesellschaftlich passiert ist, wie es passieren konnte, dass überhaupt der Islamismus in den migrantischen Milieus in Europa Fußfassen und so ungeheuerliche Kraft entwickeln konnte.

    Doch wir haben nicht nur über den 11. September und all die anderen Terroranschläge in Europa und in islamischen Ländern nicht gesprochen und haben nach Möglichkeit auch andere daran gehindert oder sie als Rassisten verleumdet.

    Auch das Leid vieler muslimischer Frauen wurde heruntergespielt und zum Teil sogar verballhornt. Und das angeblich aus Solidarität mit Muslimen oder gar mit muslimischen Frauen. In meinen Publikationen finden sich genügend Beispiele. Aber ich weise hier auf einen gesellschaftlichen Trend hin, der nicht nur mein Problem ist, bzw. war. Exemplarisch stehen viele andere in der Migrationsforschung ebenso zu diesem gesellschaftlichen Trend. So beispielsweise auch Elisabeth Beck-Gernsheim die in ihrem 2007 veröffentlichten und viel zitierten Buch „Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Missverständnisse" autobiographische Erzählungen von muslimischen Frauen, die jenseits der Migrationsforschung von ihrem Leid klagten, voller Polemik beschreibt und dabei die Bundespolitik kritisiert, weil sie in Teilen doch auf die Rufe unterdrückter muslimischer Frauen reagierte, um daraus letztlich eine vermeintliche Diagnose für den Rassismus zu konstruieren. Am deutlichsten ist dies m.E. zu lesen in der folgenden Formulierung:

    „Keleks Schilderungen beanspruchen »ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland« zu sein (so der Untertitel des Buches). Und was man da zu lesen bekommt, scheint den schlimmsten Angstphantasien fremdenfeindlicher Deutscher entnommen." (Beck-Gernsheim 2007, S. 78)

    Damit war Necla Keleks Karriere als Wissenschaftlerin vorerst vorbei. Eine türkeistämmige Soziologin, die es wagte, die Missstände in ihrer Herkunftscommunity anzuprangern, wurde zur Rassistin abgestempelt. Elisabeth Beck-Gernsheim war dabei aber weder die Erste, noch die Einzige und leider auch nicht die Letzte. Auch ich habe, selbst aus der muslimischen Community kommend, Necla Kelek mehrfach in die Nähe des Rassismus gestellt und wir haben es bei jeder weiteren Person getan, die es wagte, an den Communities leiseste Kritik zu üben. Zu sehr empfand ich „uns" als zu machtlos, als dass ich mir vorstellen konnte, dass irgendwas Böses aus dem migrantisch-muslimischen Milieu hervorgehen könnte. Das ist ja nun keine allzu abwegige Vermutung, wenn es um die Minderheit von vorwiegend als bildungsfernen Arbeiter_innen aus dem bäuerlichen Milieu und ihre Angehörigen geht. Allerdings hätte eine Auseinandersetzung mit den Terroranschlägen und auch mit ihren Entstehungskontexten zu einer besseren und hellsichtigeren Einschätzung unserer Gesellschaft und auch der Gefahren und Probleme geführt.

    Wir die Migrationsforscher_innen haben jedoch nach jedem weiteren Terroranschlag geschwiegen. Und auch als europäische Islamisten nach Syrien gingen, um dort ihren eigenen Staat zu gründen, haben wir es nicht erlaubt, Zusammenhänge zwischen migrantischen Milieus und diesem Terror auch nur denken zu dürfen. Andere reden darüber, aber die Migrationsforschung verweigert sich dem weitestgehend. Bis heute. Unter Beteiligung europäischer Islamisten, unter denen auch Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt waren, wurde im 21. Jahrhundert ein Genozid in Syrien verübt. Doch die Migrationsforschung hüllt sich dazu in Schweigen. Wie inhaltsleer neben all dem der Rassismusvorwurf in der Migrationsforschung plötzlich erscheint, wird letztlich daran erst vollkommen sichtbar.

    Hier geht es allerdings nicht um Vorwürfe, sondern vor allem um Aufarbeitung. Viele Autorinnen und Autoren haben es nämlich dennoch gut gemeint und auch antirassistisch. Sogar so antirassistisch, dass sie bereit waren, selbst als Wissenschaftlerinnen über die Gewalt auch gegenüber Frauen hinweg zu sehen. Elisabeth Beck-Gernsheim rief so sogar zu Empathieverweigerung folgendermaßen auf:

    „Leidensgeschichten der eingangsbeschriebenen Art sind Apelle zur Solidarität mit den unterdrückten muslimischen Frauen, Leidensgeschichten sollen immer auch Mitleid erzeugen. Aber wenn die Solidarität, die dabei herauskommt, zur pauschalen Ausgrenzung der Muslime beiträgt – und damit zugleich auch zur Ausgrenzung der muslimischen Frauen -, dann läuft etwas schief. Wenn zur Unfreiheit im Geschlechterverhältnis noch verstärkte Ausgrenzung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft hinzukommt, dann wird die Lage der muslimischen Frauen nicht leichter. Solidarität dieser Art kann ins Gegenteil umschlagen, Mitleid kann auch Kontraproduktiv sein." (Beck-Gernsheim 2007, S. 83)

    Elisabeth Beck-Gernsheim beklagt sich in ihrem Text über die Empathie mit den Opfern und versucht dieser im Grunde die Grundlage zu entziehen, damit letztlich nicht der Rassismus gegenüber Muslimen forciert werde, der zudem auch für die Ausgrenzung von muslimischen Frauen als ursächlich betrachtet wird. So richtig das ist, so falsch erscheint dennoch, dass im Namen des Antirassismus gewaltvolle Herrschaftsverhältnisse auf der einen Seite - die immer wieder hier auch als ein Problem und die Menschenrechtsverletzungen im Text immer wieder durchaus auch als vorhanden bestätigt werden - letztlich aber doch immer wieder kleingeredet und durch eine vermeintlich antirassistische Argumentation verschleiert werden, um gewaltvolle Herrschaftsverhältnisse auf der anderen Seite - in Form von Fremdenfeindlichkeit und neonazistischer Gewalt beispielsweise - nicht größer werden zu lassen.

    Wie begegnen wir dem? Wie kann weder hier noch da Gewalt hingenommen und auf beiden Seiten gleichzeitig bekämpft werden?

    Diese Widersprüche des aktuellen Antirassismus, die deutlich machen, dass der aktuelle Antirassismus nicht fähig ist, Antirassismus und Frauenverachtung gelichzeitig zu bekämpfen und selbst zu einem Instrument der Herrschaft geworden ist, welches die rassistische Frauenverachtung sogar befördert und m.E. letztlich auch den Boden für noch mehr antimuslimischen Rassismus bereitet, weil er konkrete Probleme und Gefahren verleugnet, müssen einer radikalen und konstruktiven Kritik unterzogen werden, um seine Widersprüche aufzulösen und damit einen besseren Begriff des Antirassismus hervorzuholen.

    In diesem hier vorliegenden Buch dient der gesamte Text sowohl als Material des Erkenntnisprozesses als auch als Medium der Darstellung der Erkenntnisse, die nicht überarbeitet ist und dabei eben nicht nur vor allem in diesem Vorwort das Endprodukt der wissenschaftlichen Forschung zeigt, sondern offen auch die Fehlschlüsse der Autorin im Forschungsprozess transparent machen soll.

    Als Autorin und Forscherin war ich von Anfang an in den Forschungsprozess immer auch als Betroffene involviert, als die ich auch meine eigene gesellschaftliche Position untersucht habe. Daher ist bei der Betrachtung dieses Buches dasselbe eben auch „als Material einer Geschichte" zu betrachten, das von meiner eigenen Geschichte nicht völlig losgelöst betrachtet werden kann. Sie soll auch nicht von mir losgelöst sein, doch es sollen Erkenntnisse befördert werden, die über meine eigenen Erfahrungen und letztlich auch über mein eigenes Reflexionsvermögen hinausgehen. Es ist notwendig, dass das antirassistische Minenfeld als Ideologie entlarvt und damit entschärft wird, damit wir in einem ergebnisoffenen, lösungsorientierten und wissenschaftlichen Austausch über die empirische Wirklichkeit treten können, in dem Fehler nicht nur erkannt, sondern auch zugegeben und so auch verbessert werden können. Wo der Rassismusvorwurf nicht einfach zur Diskreditierung eines unliebsamen Gesprächspartners dient, sondern vor allem als Hinweis, bestimmte Gedankengänge nochmal zu überdenken. Wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen im Prozess und im Austausch! Wir können nicht so tun als hätten wir schon alles fertig, obwohl wir noch am Anfang stehen. Wir müssen sowohl methodologisch, als auch was die Interpretation der Ergebnisse verschiedener Forschungen angeht, diskutieren und uns jeweils aus unseren Komfortzonen herausbewegen und uns vor allem selbst auch immer wieder reflektieren, ob und wie das, was wir machen, noch richtig ist.

    Die Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse erfordert so ein hohes Maß an Selbstreflexionsfähigkeit. Erste Schritte sind in diesem Bereich tatsächlich schon einige gegangen. Hierbei ist insbesondere das Engagement der Bildungsstätte Anne-Frank in Frankfurt am Main zu erwähnen, die seit Jahren m.E. genau in dieser Richtung arbeitet und zumindest durch das Würdigen verschiedener Ideologien auch zu vermitteln versucht. (Vgl. Mendel/ Cheema/ Arnold 2022) Aber ir sind immer noch weit entfernt von politisch-ideologischer Forschung. Daher erscheint es mir notwendig, einerseits Vielfalt stehen zu lassen und gleichzeitig, Kritik und Austausch zu ermöglichen. Der wissenschaftliche Diskurs innerhalb demokratischer Gesellschaften und demokratisch gesonnener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kann – davon bin ich zutiefst überzeugt - sich nur in seiner Vielstimmigkeit artikulieren, zumal wie diese Arbeit auch zeigt, die persönliche Betroffenheit oder Involviertheit nicht nur zu einem besseren Verständnis von gesellschaftlichen Phänomenen beitragen kann, sondern auch durch die Psychodynamik der eigenen Situiertheit auch Manipulation und Realitätsabwehr – ob nun bewusst oder unbewusst – den Erkenntnisgewinn auch blockieren kann. Durch die Vielstimmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses, durch den unerbittlichen wissenschaftlichen Diskurs, durch die Formulierung von Kritik, können wir Mechanismen der Abwehr durchbrechen. Wir können die gesellschaftlichen Realitäten, mit denen wir uns befassen, komplexer und detaillierter erfassen, in dem wir uns auch mit unseren blinden Flecken gegenseitig konfrontieren, um mit der bestmöglichen Beschreibung der gesellschaftlichen Realitäten auch das Verstehen dieser zu befördern.

    Geschichten erschließen und verstehen

    „Bei der Erschließung autobiographischer oder literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnis handelt es sich darum, Geschichten interpretierend zu verstehen und möglicherweise Schlussfolgerungen zu ziehen, die für den Erzähler oder den Befrager nützlich sind." (Baacke 1978, S.4) Um aus der Einmaligkeit von Geschichten und Biographien Erkenntnisse zu erschließen, die uns auch andere Geschichten verstehbar machen, müssen wir methodisch vorgehen. Baacke schlägt dafür eine Adaption aus den Geschichtswissenschaften als diejenige Disziplin vor, die am meisten Erfahrungen im erkenntnisbringenden Umgang mit Geschichten hat und hebt dabei vier Aspekte der Narrativität zur Adaption in die pädagogische Forschung hervor:

    A) Der Aspekt des Detailreichtums: „Je mehr Materialien in einer Autobiographie zusammengetragen sind, die sich auf das erzählte Leben beziehen, desto besser: Dasselbe gilt für Äußerungen von Interviewten: Man kann gar nicht genug Zeit mitbringen, ihnen zuzuhören." (Baacke 1978, S. 5)

    B) Der Aspekt der Individualität: „Keine Geschichte ist der anderen gleich: ‚Geschichten sind Handlungsabläufe in nicht standardisierten, nicht beherrschten und entsprechend nicht gemäß standardisierten Regeln kalkulierten Situationen, so daß nutzbare Handlungsregeln aus ihnen insoweit nicht zu gewinnen sind.‘ (Lübbe 1977, S. 80). Erzählt der Bäcker, auf welche besondere Weise er Brot backt, läßt sich dies in einem Rezept festhalten und weitergeben. Erzählt er sein eigenes Leben, ist ein derart unmittelbarer Anwendungscharakter nicht gegeben." (Baacke 1978, S. 5)

    C) Der Aspekt der prinzipiellen Nicht-Steuerbarkeit: „Unser Leben besteht nicht nur aus gewollten Handlungen, sondern auch aus Konstellationen, die unseren Absichten entgegenstehen, aus ungewollten Ergebnissen von Situationen, usf. Lübbe sagt das so (S. 81): Was aus Geschichten herauskommt, ist nicht das, was einer wollte, was natürlich nicht ausschließt, daß innerhalb von Geschichten Handelnde tun, was sie wollen. Evident ist diese Struktur bei Personen. Wer und was jeweils einer ist, ist er geworden, und dazu trug bei, was er tat oder unterließ. Aber niemand kann sich in seiner Identität als das Produkt seines Willens zur Produktion dieses Produktes denken. Wir sind Referenzsubjekt, aber nicht Handlungssubjekt unserer Lebensgeschichte. (Baacke 1978, S. 5/6) Denn wer wir geworden sind, bestimmt zu einem Großteil unsere Wahrnehmung, bzw. wie wir das, was wir wahrnehmen verarbeiten. Das heißt dann aber auch, dass alles, was wir wahrnehmen, also unser ganzes Umfeld, unsere ökologischen, ökonomischen und nicht zuletzt auch unsere sozialen Lebensbedingungen uns prägen und beeinflussen und dadurch mitbestimmen, wer wir sind und wer wir noch sein werden.

    D) Der Aspekt der begrenzten Kalkulierbarkeit und Retrospektivität: „Im Leben eines Menschen mischen sich unterschiedliche eigene und fremde Handlungen und Handlungskonstellationen, deren Interferenz nicht vorausbestimmbar ist. Daher verstehen wir Geschichten am ehesten, wenn sie ein bestimmtes Ende gefunden haben, darum sind Autobiographien häufig Rückblicke, die versuchen zu ordnen. (Baacke 1978, S. 6) Dieser Aspekt wird als der des „Zufalls beschrieben, der im Grunde letztlich entscheidet, wie manche Situationen oder Geschichten ausgehen. (Vgl. a.a.O.)

    Diese vier Aspekte sind nach Baacke auch die, die uns Biographien erschließen lassen, ohne vorgezeichnete oder politische Narrative zu reproduzieren: „Uns geht es um Personen und Personen-Konstellationen, nicht um die Erklärung einer ganzen Epoche o. ä.. Es geht uns um „Fallgeschichten, das meint: um Erzählungen von Personen und über Personen, die uns etwas über diese Personen sagen. Kurz: Es geht uns um Geschichten, nicht um Geschichte. Jeder „Fall ist ein Ausschnitt aus dem „Ganzen (z.B. einer Klassenlage, einer Berufsposition, einer Gruppe von Menschen mit vergleichbarem Sozialisationsschicksal, usf.). […] Andererseits geht es uns durchaus um ein „Ganzes: nämlich in Hinsicht auf die Gestalt eines gelebten Lebens oder einer an Personen orientierten Verlaufsform von Erzähltem. Weniger geht die Frage danach, in welche soziologischen Kategorien eine Person einzuordnen ist, als vielmehr danach, welche Konstellationen von Details die Besonderheit eines je betrachteten Lebenslaufes ausmacht – freilich in der Erwartung, daß wir dann nicht nur etwas über und für dieses Leben sagen können, sondern aus der Summation von „Fällen vielleicht auch zu gebrauchenden Orientierungen für pädagogisches Handeln gewinnen. (Baacke 1978, S.6/7)

    Daran angelehnt muss m.E. auch die Migrationsforschung sich von Ängsten freimachen und sich auf die klassischen Intentionen der pädagogischen Sozialforschung zurückbesinnen. Es kann aber auch nicht Aufgabe der Sozialforschung sein, klären zu wollen, was der Islam theologisch ist und wie er theologisch und über das Zeitliche hinaus beispielsweise aufzufassen wäre. Das ist und kann in der Wissenschaft insbesondere außerhalb der Theologie kaum betrachtet werden. Darüber hinaus ist das auch eine Frage des individuellen Glaubens. In einer demokratischen Gesellschaft hängt Religionsfreiheit mit der Säkularität unmittelbar zusammen und wird vom Grundgesetz geschützt. Der freie Glaube ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Der pädagogischen Sozialforschung geht es dagegen darum, herauszufinden, wie es Einzelnen oder ganzen Gesellschaftsschichten – also vor allem Milieus - innerhalb größerer Gesellschaften geht. Zum Beispiel eben darum, ob die Religionsfreiheit in unserer Gesellschaft in allen Gesellschaftsschichten gegeben ist oder ob Menschen in ihrem Glauben bedrängt werden, bestimmte Dinge sagen oder tun zu müssen. Sind alle Menschen gleichberechtigt oder werden einige diskriminiert? Und wenn ja, warum und wie?

    In diesem speziellen Kontext dieser Arbeit geht es eben darum, die Geschlechterverhältnisse zu beleuchten, in denen türkeistämmige, muslimischen Frauen in Frankreich und in Deutschland leben. Und natürlich müssen wir dabei Baackes Frage, ob „Geschichten überhaupt lückenlos aufklärbar [sind]? (Baacke 1978, S.7), verneinen. Wir können auch nicht den Anspruch erheben, für jede türkeistämmige Muslimin zu sprechen. Wenn man so will, sind Geschichten in der Regel nicht lückenlos aufklärbar. Man kann ja nie auf die vollständige Dokumentation von „Beweisen einer erzählten Geschichte zugreifen. Wie denn auch? Wer hält schon alles in seinem Leben fest? Und eine Gesellschaft, in der von einer bestimmten gesellschaftlichen alles festgehalten wird, erscheint uns nicht erstrebenswert. Es muss nicht alles gläsern sein und soll es auch gar nicht. Zumal ja auch vieles dem eigenen Wissen verborgen bleibt, was andere in unserem Leben bewirken. Und das ist in vielen Bereichen auch in Ordnung so. Die menschliche Psyche erscheint für sich genommen schon gar nicht die verlässlichste Partnerin zu sein, um biographische Geschichten immer lückenlos preiszugeben, wie wir von Sigmund Freud lernen dürfen. Unsere Psyche ist ständig darum bemüht, unser eigenes Selbst vor anderen, aber vor allem vor uns selbst zu beschönigen. Manches bewerten wir aber gleichzeitig an uns selbst als viel gravierender als an anderen. Wir wollen und sollen (wenn es nach unserer Psyche geht) vieles nicht wahrhaben. Insbesondere, wenn es uns selbst betrifft, wenn wir selbst involviert sind. Wir vergessen oder verdrängen ganze Inhalte unseres Lebens – insbesondere, wenn sie schwer zu ertragen sind - und wenn das nicht mehr gelingt, beschwören wir Ideologien, die uns entgegen unserem Menschenverstand sagen, was wir zu tun und zu lassen haben, auch wenn diese Dinge sogar gegen uns selbst sprechen. Sie bestimmen manchmal sogar, was wir sehen sollen und was nicht. Und in gewisser Weise ist das auch sinnvoll. Der Mensch mutet sich oft auch nur zu, was er zu ertragen in der Lage ist. Sigmund Freud beschreibt diese Leistungen unserer Psyche in seiner Abhandlung zur Traumdeutung (2005 (1991/1942)), in der er m.E. die Grundlagen des psychischen Apparats am eindrücklichsten und prägnant erörtert.

    Weiter fortschreitende Geschichten können allerdings auch eine komplett neue Ausrichtung annehmen, eine ganz andere Bedeutung gewinnen, wenn neue Erkenntnisse, neue Puzzleteile, neue Details hinzukommen, die vorher verdeckt waren. Ein klares Bewusstsein von den Dingen, von sich selbst und seiner (Um-)Welt zu haben und haben zu können, ist u. a. nicht zuletzt auch die Aufgabe der Wissenschaften und des wissenschaftlichen Austauschs.

    In dem hier vorliegenden Buch sind unterschiedliche Ausschnitte aus dem Leben verschiedener Menschen zu finden. In keinem der Fälle wurde der Versuch unternommen, alle Details zu erzählen. Daher ist es ratsam und wichtig, sich nicht nur beim Verstehen dieser Arbeit, sondern grundsätzlich beim Verstehen der hier vorgestellten Geschichten, die Leerstellen, die ich hier in diesem Vorwort in Teilen benenne, bewusst zu machen, jedoch ebenso die Widersprüche, die sich auch in diesem Vorwort nicht gänzlich beseitigen lassen. So beinhalten Geschichten in manchen Kontexten, in denen das Sprechen viel Kraft und Mut erfordert, viel eher Nichtgesagtes und Leerstellen. In dieser Arbeit dient das Gesagte manchmal sogar dazu, vom Nichtgesagten abzulenken, dieses zu verschleiern und letztlich auch zu marginalisieren. Die Wirklichkeit wird dem Versuch nach so entstellt, dass kaum eine seriöse Entwirrung und Darstellung der Wirklichkeit möglich sein soll. Und doch muss der Versuch dem gelten! Auch daher ist dieses Vorwort entstanden.

    Die erziehungswissenschaftliche Sozialforschung bedient sich verschiedener methodischer Vorgehensweisen, um Verstehen zu ermöglichen und zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Baacke nennt in seinem Aufsatz die Psychoanalyse nach Alfred Lorenzer, die Kunstsoziologie nach Erwin Panofsky und Pierre Bourdieu, die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann und Fritz Schütze und Norbert Elias‘ Konfigurationsanalyse, um hier einige klassische Interpretationsmethoden in Anlehnung an Baacke zu erwähnen. (Vgl. Baacke 1978, S. 9-18) In den Fallanalysen dieses Buches waren insbesondere die Psychoanalyse Sigmund Freuds als auch die soziologischen Kategorien Pierre Bourdieus für die Deutung, Erschließung und letztlich auch für die Analyse der Fälle relevant, die natürlich auch den Leserinnen und Lesern dieser Arbeit beim Verstehen derselben – insbesondere für den ersten, sehr fragmentarischen Teil - zur Verfügung stehen.

    Identität und Diversität versus Gleichheit und Emanzipation

    Der Zuwachs an biographischer und autobiographischer Literatur und der damit einhergehende Trend bereits aus den 1970er Jahren (Vgl. Einundzwanzig 1978, Editorial) hat sich mittlerweile zu einer Hochphase postmoderner Identitätspolitiken entwickelt, in der es nur noch um die Vielfalt von Geschichten zu gehen scheint, womit wie oben bereits beschrieben, ein Diversity-Konzept einhergeht, das oftmals in der praktischen Anwendung seines demokratischen Inhalts völlig entleert wirkt, zumal diese Geschichten oft nur geglättet dastehen, ja im Grunde nur Werbung darstellen. Jeder soll so ein Recht auf Anerkennung genießen, aber bekommen tun es natürlich nur die, die in der Werbebranche sind, bzw. sich die Werbung leisten können. Was mit denen ist, die diese Werbung weder machen können, noch sonst irgendwie in das Bild passen, wird nicht ersichtlich. Dennoch soll damit Werbung für vermeintlich alle gemacht werden. Die Werbung erschließt und beschönigt einige positive Geschichten, die dann, so der Subtext dahinter für alle gelten sollen. Daraus erschließt sich letztlich auch ihre Beliebigkeit. So wenig die Geschichten auf viele passen, so sehr werden sie verallgemeinert. Schließlich gibt es ja keine weiteren Probleme bis auf das der Anerkennung. So wird Anerkennung für jeden gefordert, tatsächlich auch für die, die die demokratischen Werte missachten und sie vielleicht sogar bekämpfen. Ob jemand eine Frau schlägt oder zutiefst Christ_innen und Jüdinnen und Juden verachtet und Hass gegen sie vorlebt und weitergibt, spielt keine Rolle – zumal auch so getan wird, als gäbe es diese Phänomene gar nicht. Dennoch ist die Idee der prinzipiellen Anerkennung eines jeden keine schlechte Idee, wenn sie abstrakt ist. Doch praktisch verletzt diese Anerkennung verschiedene Grenzen demokratischer Gesellschaften und führt faktisch zur Diskriminierung und Unterdrückung.

    Anerkennung kann es daher nur im demokratischen Konsens geben. Wer gegen die Demokratie ist, den kann und darf die Demokratie nicht ohne Weiteres tolerieren und erst recht nicht positiv anerkennen. Nicht nur das Benennen, sondern mindestens auch der Widerspruch ist notwendig, wenn die demokratische Gesellschaft nicht mehr nur als eine von verschiedenen Alternativen möglicher gesellschaftlicher Wirklichkeiten betrachtet werden soll.

    Menschenrechte, Emanzipation oder die tatsächliche Freiheit, verschieden sein zu dürfen, können ohne den demokratischen Grundkonsens nicht erhalten und garantiert werden. Wir können weder tolerieren, dass im Wertepluralismus der Wert des Antisemitismus, der Frauenfeindlichkeit, noch der des Rassismus einen Platz haben, weil dadurch prinzipiell das Recht auf Selbstbestimmung einiger und das Recht auf Leben anderer in Frage gestellt wird. Das Recht auf Selbstbestimmung kann nicht neben dem Recht zu unterdrücken bestehen.

    Aus der demokratischen Grundordnung speist sich nicht zuletzt auch die Rolle der Sozialen Arbeit, die ebenfalls ihren Sinn verliert, wenn Demokratie als eine von vielen möglichen Alternativen betrachtet wird. Denn pädagogisches Handeln ist nur in einer demokratischen Gesellschaft und nur auf dieser Grundlage überhaupt möglich. Alles andere ist Indoktrination.

    Statt die komplexen Zusammenhänge von Sozialisation und Identitätsbildung genauer in den Blick zu nehmen und ergebnisoffene Forschung zu fördern und zu betreiben, um so vermeintlich Rassismus zu verhindern, wird jede Form der kritischen Auseinandersetzung mit Migrantinnen und Migranten abgelehnt und in polemischen Auseinandersetzungen als quasi rassistisch aus der Wissenschafts-Community ja regelrecht herausgemobbt. Insbesondere gilt das heute für Musliminnen und Muslime. Dabei ist – im Übrigen eine Selbstverständlichkeit für die Erziehungswissenschaften - die Ablehnung, ja die Fähigkeit, Werte, Normen oder Handlungen abzulehnen, selbst Teil des Identitätsbildungsprozesses, in dem das Individuum für sich Entscheidungen über die eigene Identität und dabei beispielsweise über die für es vertretbaren und nichtvertretbaren Werte und Normen zu treffen lernen muss. Ohne die Fähigkeit, etwas aus Gründen für sich oder auch für die Gesellschaft abzulehnen und gleichermaßen auf der anderen Seite natürlich auch zu befürworten, ist keine stabile und positive Identitätsbildung, kein Erwachsenwerden (vgl. Hurrelmann 1998 (1986)), aber eben auch keine demokratische Gesellschaft aus mündigen Bürger_innen möglich.

    Wie gehen wir nun damit um? Erkennen wir alle Identitäten nur an oder dürfen wir sie im Sinne eines sich selbst bewussten Antirassismus, der eben auch bestimmte Werte und Normen vertritt, auch kritisieren oder gar ablehnen? Dürfen Migrantinnen und Migranten Teile ihrer Community, Teile ihrer Herkunftskultur, Teile der Migrationsgesellschaft explizit ablehnen oder müssen sie zu allem ja sagen, was aus ihr kommt? Dürfen Deutsche ohne türkischen Hintergrund zu ihren türkischen Freundinnen und Freunden ihre Meinung sagen oder sollen lieber Türk_innen und Deutsche miteinander nichts zu tun haben und dadurch auch gar nicht erst in die Verlegenheit kommen, sich auch mal kritisch miteinander auseinandersetzen zu müssen? Und wer genau ist nach mehreren Generation Einwanderung in Deutschland eigentlich deutsch?

    In dem Essay „Gerechtigkeit zwischen den Generationen (1995) von Micha Brumlik habe ich einige Hinweise dazu gefunden, die eigentlich als Antworten auf die Frage nach einer möglichen „Pädagogik nach Mölln (vgl. a.a.O., S.91) im gesellschaftlichen Kontext der rassistischen Pogrome und Morde der 1990er Jahre geschrieben wurden, aber m.E. auch einen Ausblick auf die Lösung der Probleme des methodologischen Antirassismus und letztlich auch Hinweise für eine Pädagogik der heutigen Migrationsgesellschaft bieten. Ich finde ihn auch deswegen wichtig, weil ich die antirassistische Abwehrhaltung der Migrationsforschung, die seit etwa Ende der 1990er Jahre nur noch positiv über Migrantinnen und Migranten sprechen will, im Zusammenhang mit den rassistischen Pogromen der 1990er Jahre sehe. Natürlich ist und war die Angst damals groß, nach dem in Solingen und Mölln Menschen türkischer Herkunft heimtückisch im Schlaf durch Brandstiftung ermordet wurden.

    Nazis wurden im Straßenbild immer sichtbarer und gaben sich deutlich zu erkennen, machten Ausländer_innen Angst, verfolgten sie und sie waren offensichtlich bereit zu töten. Auch in den Ausschreitungen in Rostock, wo Migrantinnen und Migranten vietnamesischer Herkunft lebten und zu Schaden gekommen sind, hat sich die hässliche Fratze des deutschen Rassismus jüngerer Erscheinung überdeutlich gezeigt. Dass gerade Migrationsforscherinnen und Migrationsforscher, die viele Jahre darum bemüht waren, dass überhaupt über die Migrantinnen und Migranten und ihre Lebenssituationen geforscht wurde, durch diese Angst nun so umgetrieben wurden, sich einem vermeintlichem Antirassismus verpflichtet jegliche Kritik an Migrantinnen und Migranten zum Schweigen zu bringen, erscheint in mancher Hinsicht zumindest auch nachvollziehbar.

    Die Frage nach dem Kopftuch zeigt die Herausforderungen der antirassistischen Migrationsforschung am deutlichsten: Den Zwang, ein Kopftuch tragen zu müssen, um in manchen Kontexten als ehrbare Frau gelten zu können, zu kritisieren, bedeutet oftmals, dass Muslime mit dieser Kritik ausgegrenzt werden und ihre Integration unmöglich wird. Doch es ist klar: Gerade Frauen sollten nicht darunter leiden und dafür ausgegrenzt werden, weil sie ein Kopftuch tragen (müssen).

    Dass junge muslimische Frauen aus migrantischen Familien sich in erster Linie für pädagogische, soziale oder pflegerische Berufe entschieden haben, muss als ein emanzipatorischer Akt betrachtet werden, der zeigt, dass die Frauen geschlechtlich definierte gesellschaftliche Rollen in monetären Mehrwert umzuwandeln versuchen und somit versuchen ihre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern. Das heißt, sie machen das, was sie ohnehin über ihre gesellschaftlichen Rollen als Mütter, Mädchen und Frauen gelernt haben: sie professionalisieren sich in den Fähigkeiten, die ihnen in den Geschlechterrollen ohnehin zugeschrieben wurden und was sie daher in der Regel gut beherrschen, um ihre Fähigkeiten aus dem Privaten ins Öffentliche zu übertragen und damit Geld zu verdienen. Das ist eine der Möglichkeiten, sich in modernen, kapitalistischen Gesellschaften zu emanzipieren und ökonomisch unabhängig zu werden. (Vgl. Pieper 1998)

    Was kann, was muss die Pädagogik tun, um hier zu unterstützen? Eben auch gegen verschiedene Formen des Rassismus? Gleichzeitig also. Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (1995) entfaltet aus einer Reihe von erziehungswissenschaftlichen Begriffen eine Erziehungstheorie, welche als wichtigste Aufgabe der Erziehung die Beherrschung des Erziehungsverhältnisses als ein Generationenverhältnis ins Zentrum setzt und sich dabei insbesondere mit anthropologischen Grundfragen auseinandersetzt. Was das nun heißt, hängt demnach nicht nur mit unserem Menschenbild unmittelbar zusammen, sondern auch mit dem, was Kinder für uns bedeuten. So entwirft er anlehnend an Walter Benjamin, aber auch in zum Teil kritischer Auseinandersetzung mit Hannah Arendt die Vorstellung der Generativität als kollektive Erfahrung der ganzen Menschheit, in der sich die Menschheitsgeschichte als Geschichte von Generation zu Generation, als Geschichte von Menschen, die alle einmal geboren wurden, entfaltet. Kinder sind hierbei aber nicht nur die Miniaturen der folgenden Erwachsenengenerationen, die noch viel zu lernen haben, bis sie als Erwachsene ihre Rollen einnehmen können, sondern spielen als Kinder schon eine andere und dabei eben ganz besondere Rolle neben Erwachsenen. Ihr Wert hängt nicht damit zusammen, dass sie irgendwann mal gut oder verlässliche Erwachsene werden. Sie sind auch, wenn man so will, schon als Kinder gut und besonders:

    „Während bei Arendt die Erwachsenen im Prinzip mit der Welt vertraut sind und deshalb die Verantwortung haben, sie zu

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