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Am anderen Ufer
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eBook281 Seiten3 Stunden

Am anderen Ufer

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Über dieses E-Book

Eine richtige Fangemeinde hat sich Frieder Klettberg, der »pälzische« Junge, inzwischen bei der Leserschaft erworben. Im dritten Band nach »Mach uns keine Schand’« und »Neuland« befreit er sich endgültig von der Enge seiner Heimat und den Familienbanden, indem er eine Stelle als Englischlehrer in Taiwan antritt. Weit genug weg, um mit 25 Jahren endlich seine Homosexualität ausleben zu können? Einen Partner fürs Leben zu finden?
Zunächst sieht es gar nicht danach aus, denn nicht nur die rigiden Moralvorstellungen seines Gastlandes machen es Frieder schwer, sondern auch er selbst steht sich, wie schon so oft, im Weg. Aber dann lernt er Lin kennen und alle Sehnsüchte und Träume scheinen sich zu erfüllen – bis eine schreckliche Diagnose grausam in Frieders Leben eingreift ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Jan. 2011
ISBN9783842314320
Am anderen Ufer
Autor

Herbert A. Rößler

Herbert Rößler spürt mit Sensibilität und Gefühl dem Seelenleben seiner Figuren nach. Nie larmoyant, aber mit einer gehörigen Portion Humor und Selbstironie zeichnet er das Bild eines jungen Mannes, der einfach versucht, er selbst zu sein. Näheres zum Autor und seinen Büchern unter: www.herbert-roessler.de

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    Buchvorschau

    Am anderen Ufer - Herbert A. Rößler

    Musical.

    1

    Ach Gott, ach Gott Buu«, sagte Frau Klettberg und schüttelte den Kopf. »Bischt du dick worre.« Sie trat einen Schritt zurück, schüttelte wieder den Kopf, streckte ihre Hand aus und piekste Frieder mehrmals in den Bauch, der zugegebenermaßen über seinen Hosenbund und den Gürtel hing und die Knöpfe des Hemdes fast sprengte. Frieder stand sprachlos im Empfangsgebäude des Flughafens von Chicago und spürte trotz Klimaanlage die Hitze in seinen Wangen. 1979 war er zum letzten Mal in Deutschland gewesen und hatte seine Familie gesehen. Jetzt, drei Jahre später, waren sie tatsächlich in Amerika angekommen, seine Mutter und Alwine, unter dem Einfluss eines starken Beruhigungsmittels, obwohl beide geschworen hatten, nie ein Flugzeug zu besteigen, und das war das Erste, was ihm seine Mutter entgegenwarf?

    »Jetzt lossen doch, Mudder«, sagte Herr Klettberg versöhnlich und streckte seine Hand aus. »Schää, dass du uns abholscht.« Also ob es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, denn schließlich konnte keiner von ihnen Englisch. Er schüttelte seinem Sohn die Hand, etwas fester und etwas länger als nötig, und räusperte sich mehrmals. Alwine drängte sich bald an dem Vater vorbei und nahm ebenfalls Frieders Hand. Ihre Augen glänzten, die Pupillen schienen geweitet und sie grinste über das ganze Gesicht.

    »Ich hab’s g’schafft«, sagte sie. »Ich hab’s tatsächlich g’schafft! Also Angscht vorm Fliege hab ich net. Unn mit dem Platzangscht is es aach gegange.«

    »Kää Wunner«, warf Frau Klettberg ein, »mir hänn ja aach ää Tablett nach de annere in de Mund gestoppt! Awwer die Tavor, die wirken wirklich. Do werd mer ganz ruhig. So dick wie du bischt«, fuhr sie mit einem erneuten Blick auf Frieders Bauch fort, »passcht du ja in kään normale Flugzeugsitz, odder?«

    »Zille«, zischte Herr Klettberg energisch. »Jetzt lass den Bub in Ruh!«

    Frau Klettberg schüttelte den Kopf und schwieg.

    »Gehe mer?«, fragte Frieder. Herr Klettberg selbst nahm zwei der drei Koffer und betonte, dass das Schleppen viel leichter sei, wenn man beide Seiten gleich schwer belastete.

    »Nimmscht du moin Koffer?«, fragte Alwine und setzte sich leicht torkelnd in Bewegung. »Wohin müssen mer iwwerhaupt?«

    Frieder schnappte sich den Koffer, stöhnte unter der unerwarteten Last und ging voraus.

    »Mer fahren jetzt mit dem Taxi zur Wohnmobilvermietung«, erklärte er und steuerte auf den Ausgang zu. »Wenn mir den Wohnwage hänn, dann fahren mir zu de Mary Beth unn üwwernachten dort.« Mary Beth war eine entfernte Verwandte, die die Klettbergs schon in Deutschland besucht hatte. Obwohl sich ihre Deutschkenntnisse auf Sauerkraut, Weinheber und Prost beschränkte, hatte sie bei ihrem Besuch auch in Abwesenheit Frieders, unter dem Einfluss entsprechender Mengen Weins, pausenlos mit den Klettbergs erzählt.

    »Babbelt die immer noch so viel?«, fragte Herr Klettberg im Taxi. »Die hot mir jo des Ohr ab- und widder dragebabbelt, wie sie zu Besuch war. Mir klingeln heit noch die Trummelfell.« Er lachte und rubbelte sein linkes Ohr. Schon seit Jahren litt er an einem leichten Tinnitus, den Mary Beths Redseligkeit gewiss nicht verschlimmert hatte.

    »Ich denk schunn«, meinte Frieder.

    »Ach, des iss jo so schad«, mischte sich Frau Klettberg ein. »Ich tät jo gern ä bissel verzähle. Dass die awwer kää Wort Deitsch kann, wo sie doch vunn Deutsche abstammt.«

    »Na ja«, erklärte Frieder, »sie hat auch irische und französische Vorfahren. Und Französisch spricht sie auch nicht.«

    »Um so schlimmer«, keifte Frau Klettberg. »Unn du hoscht wohl aach des Pälzisch verlernt? Du redscht jo schunn ganz gelehrt.«

    Frieder sagte nichts. So nörglerisch kannte er seine Mutter nicht.

    »Ach Gott, ach Gott«, staunte Alwine, während sie aus dem Fenster starrte. »Was des für Autobahne sinn. Sechs Spure in jedie Richtung. So könnt ich kää Auto fahre. Do dät ich jo sterwe vor Angscht.«

    Frieder erkundigte sich nach seiner anderen Schwester, Heidi, und ihrer Familie.

    »Dene geht’s gut. Die hänn ganz schää geguckt, wie mir g’sagt hänn, dass mir nach Amerika fliegen. Die Heidi steigt ja aach in kää Flugzeug ein.« Frau Klettberg wischte sich über das Gesicht, auf dem sich trotz Klimaanlage Schweißperlen gebildet hatten.

    »Was heißt aach net?«, fragte Frieder. »Ihr habt’s ja gemacht.«

    »Ja, ja. Gott sei Dank gibt’s Tavor«, sagte Alwine humorlos. »Sunscht hätt ich das alles net üwwerlebt. Unn wann ich den Verkehr seh, dann wird mir schunn wieder ganz blümerant. Ich glaab ich nemm noch eine.«

    »Ja, wie viel hoscht donn schunn genumme?«, fragte Herr Klettberg. »Da gibt’s doch bestimmt ä Höchstdosis.«

    »Loss sie doch, Vadder«, warf Frau Klettberg ein. »Wenn sie’s doch braucht!«

    Herr Klettberg schwieg, eingeklemmt zwischen den zwei Frauen, und Frieder bemerkte bei einem Blick in den Rückspiegel, dass seinem Vater die Augenlider schwer wurden und er kurz davor war einzunicken.

    Bald waren sie an der Vermietstation angelangt, und während Frieder die Formalitäten erledigte, schnappten die Klettbergs etwas Luft, auch wenn sie in unmittelbarer Flughafennähe nicht gerade frisch war. Das Wohnmobil war riesig, und während die Klettbergfrauen nur staunten, wie komplett die Küche eingerichtet war und wie bequem Sofa und Bett schienen, folgte Herr Klettberg Frieder und dem Vermieter, der erklärte, wie man Wasser auffüllte, Abwasser abließ, den Generator anwarf und externe Stromquellen anschloss. Frieder übersetzte alles, weil er hoffte, dass sein Vater sich an genügend erinnern würde, um diese Aufgaben zu übernehmen. Als der Rundgang abgeschlossen war, verabschiedeten sich die Männer mit einem Händedruck von dem Vermieter und luden die Koffer in das Gefährt. Frau Klettberg und Alwine hatten sich an den kleinen Esstisch gesetzt und sahen aus, als erwarteten sie Kaffee und Kuchen.

    »Jetzt geht’s los«, verkündete Frieder. »Wer will vorne sitzen?« Die zwei Frauen bewegten sich nicht.

    »Geh du Vadder«, meinte Frau Klettberg. »Meer sehen besser vunn hier aus. Unn helfe kennemer sowieso net.« Herr Klettberg kletterte nach vorne, während Frieder die Außen- und Rückspiegel einstellte. Er zeigte keine Nervosität, obwohl ihm das riesige Gefährt einen Heidenrespekt einflößte, aber als er den Zündschlüssel weiterhin am Anschlag hielt, obwohl der Motor schon lief, machte das Fahrzeug ein lautes, knirschendes Geräusch.

    »Ach Gott, was war donn des?«, schrie Frau Klettberg. »Hoscht schunn was kaputt gemacht?«

    »Nää«, versicherte Alwine. »Des is mir aach schon passiert beim Anlasse.«

    »Des hott awwer schrecklich geklunge«, zweifelte Frau Klettberg und schaute besorgt nach vorne zu ihrem Mann und Frieder. »Bischt du üwwerhaupt sicher, dass du so was fahre konnscht? Des is jo schließlich kää normales Auto. Des is jo fascht wie ään Laschter. Unn bei dem Verkehr! Wonn des mol gut geht.« Sie kramte in ihrer Handtasche, holte die Packung Tavor hervor, legte sie aber nur auf den Tisch, ohne eine Tablette zu entnehmen.

    »Der schafft des schunn«, versicherte Herr Klettberg, aber Frieder glaubte Zweifel im Blick des Vaters zu erkennen. Er legte den Gang ein und fuhr ohne weitere Probleme vom Parkplatz auf die Schnellstraße in Richtung Westen.

    »Wu fahremern überhaupt hie?«, fragte Herr Klettberg. »Nach St. Louis, oder?«

    »Was redscht du donn für ein Quatsch«, ertönte es aus Frau Klettbergs ungeduldig verzogenen Mund. »Zu de Mary Bett. Des hott doch de Frieder schunn verzählt.« Frieder war über den heftigen Ton seiner Mutter erstaunt.

    »Net nach St. Louis?«, fragte Frieders Vater wiederum. »Ich hätt schwöre könne nach St. Louis.« Er klang müde und rieb mit beiden Händen übers Gesicht, als wolle er die Müdigkeit wegwischen.

    »Herrgott nää. Wu bleibt dann doin Verstand«, keifte Frau Klettberg. »Was sollemer donn in St. Louis? Erscht müssemer doch einkaufe bei de Mary Bett. Und dann geht’s zu de Indianer.« Einen Indianer zu sehen, schien für Frau Klettberg das Wichtigste an der Reise.

    »Mary Beth heißt die«, verbesserte Frieder, um seine Mutter abzulenken.

    »Mary Bett oder Mary Betz, des is doch egal. Hauptsach mir fahren dort hie. Unn net nach St. Louis. Do simmer doch erscht in drei Woche.« Sie schüttelte den Kopf und schaute vorwurfsvoll auf den Hinterkopf ihres Mannes.

    »In drei Woche erscht«, sagte Herr Klettberg leise. »Des hab ich net gewisst.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich erneut übers Gesicht.

    »Natürlich hoscht des gewisst«, ertönte es erneut vom Esstisch. »Mir hänn doch drüwwer gesproche. Erscht zu den Mary Bett-tz.« Dabei streckte sie ihre Zunge zwischen den Zähnen heraus und spuckte. »Unn dann zu de Indianer, dann nach Montana und de Pazifik. Erscht dann geht’s an de Mississippi und nach St. Louis.«

    Frieder konzentrierte sich auf die Straße und den dichter werdenden Verkehr und verstand nicht, wieso die Situation so aggressiv geworden war. Es erstaunte ihn ebenfalls, dass sein Vater, der sich so auf die Reise gefreut und sich mit Atlas und Nachschlagewerken vorbereitet hatte, so schlecht informiert schien. Gleichzeitig wunderte er sich über die unwirsche Art seiner Mutter. Ob das etwas mit den Beruhigungstabletten zu tun hatte? Ruhiger schien sie jedenfalls nicht.

    »Jetzt sei halt ruhig«, flüsterte Alwine ihrer Mutter zu. »Du weescht doch wie er is. Er is halt widder mol durcheinander.«

    »Ach, des regt mich uff«, zischte Frau Klettberg. »Wonn er einfach net kapiere will.«

    Frieder hatte ein ungutes Gefühl. Vier Wochen lang wollten sie im Wohnmobil quer durch die USA fahren und schon in den ersten Stunden kam es zum Zwist und zu Spannungen. Ob das gut ging? Wenigstens machte der Vater ein Nickerchen und konnte nicht noch mehr Verwirrung stiften.

    Bald dämmerte es, und Frieder brachte den Wagen zum Schlingern, als er nach dem Schalter für das Scheinwerferlicht suchte und die Aufmerksamkeit von der Straße nahm. Herr Klettberg schreckte aus dem Schlaf hoch. Frau Klettberg schrie: »Heiligemariamuttergottes!«, und bekreuzigte sich. Alwine lachte laut, rief: »Hui«, und schwankte auf der Sitzbank hin und her, als wolle sie schunkeln. Wo bin ich nur hingeraten?, fragte sich Frieder. Er hatte in den vergangenen Jahren schon viel erlebt, aber diese Situation schien direkt aus Twilight Zone zu kommen. Er schaute jede Woche die Fernsehsendung, die sich mit unerklärlichen Phänomenen und außergewöhnlichen Ereignissen beschäftigte. Schnell hatte er das Fahrzeug wieder unter Kontrolle und fuhr ohne Probleme weiter. Drei Stunden später passierten sie die Stadtgrenze von Janesville, Wisconsin, und er steuerte auf das Haus der Verwandten zu.

    »Unn wie finnemer jetzt dahin?«, fragte Herr Klettberg.

    »Die Mary Beth hat’s mir beschriewe. Des finn ich schunn.«

    »So einfach ausm Kopp?«

    »Ja klar. Des kann ich schunn«, sagte Frieder.

    »Das hab ich aach mal gekönnt«, sagte Herr Klettberg leise. »Awwer jetzt, jetzt weeß ich gar nix mehr so richtig. Wann mer halt alt werd.« Frieder konzentrierte sich auf den Straßenverlauf und den Verkehr und konnte sich nicht mit den Problemen seines Vaters beschäftigen.

    »Da simmer«, rief Frieder laut, als er Mary Beths Haus entdeckte. Er verlangsamte die Fahrt und setzte den Blinker. Entlang der Auffahrt, an der Haustür, an mehreren Stellen im Vorgarten und vor der Garage brannten Lichter. Ebenso im Haus, durch dessen vorhanglose Fenster man direkt ins Wohnzimmer blicken konnte.

    »Ach Gott«, meldete sich Alwine zu Wort. »Ich muss jo so arg uffs Klo. Hätt ich vielleicht nochämol im Auto gehe solle?«

    »Die werren schunn än Klo hawwe«, meinte Herr Klettberg.

    »Awwer gleich als erschtes uff de Klo müsse. Des is jo peinlich.«

    »Unn wonnse raus kummt, unn mir sagen die Alwine is grad bachele. Iss des besser?« Herr Klettberg lachte wohlwollend und ihm war keine Verwirrung oder Unsicherheit mehr anzumerken.

    Schon kam Mary Beth aus dem Haus gestürmt. »Faaaather!«, rief sie. »Muuuuther!« Seit sie in Deutschland zu Besuch gewesen war, nannte sie sie so, und dachte, sie spreche deutsch.

    Herr Klettberg öffnete die Tür zum Wohnmobil, und bevor jemand aussteigen konnte, war sie schon hereingestürmt, warf sich abwechselnd Herrn Klettberg, dann Frau Klettberg und dann Alwine um den Hals. Sie überhäufte sie mit Fragen nach dem Flug, der Herfahrt, wie es ihnen gehe, wie es Heidi gehe und wie der Wein des letzten Jahres geworden war. Frieder bemühte sich, so viel wie möglich zu übersetzen, aber man hörte kaum auf ihn, sondern redete nur wild durcheinander, umarmte sich und lachte. Endlich begrüßte Mary Beth auch Frieder und forderte dann alle auf, ins Haus zu kommen.

    Die Klettbergs folgten Mary Beth, nahmen im Wohnzimmer Platz und Mary Beth goss ihnen Eistee ein.

    »Des is jo toll«, sagte Alwine. »Guckämol wie viel Eis do drin is.« Jeder nahm sein Glas zur Hand, und während Frieder einen kräftigen Schluck nahm, nippten seine Eltern vorsichtig an dem unbekannten Getränk.

    »Fuideiwel«, flüsterte Frau Klettberg. »Was is donn des? Des schmeckt jo wie Arsch und Friedrich. Unn de Arsch schmeckt vor.«

    »Bischt net ruhig«, zischte Alwine. »Des kriegt die doch mit, ach wonn sies net versteht.« Es war ihr wohl nicht bewusst, dass erst ihre eindringlich geflüsterte Ermahnung Mary Beths Aufmerksamkeit erregte.

    »Ist alles in Ordnung?«, wollte sie wissen.

    »Alles bestens«, versicherte Frieder, ohne ihre Frage übersetzt zu haben.

    Jetzt hatte auch Herr Klettberg getrunken und ließ den ungesüßten kalten Tee aus seinem Mund wieder ins Glas laufen.

    »Ach Gott! Schämscht du dich net?«, rief Frau Klettberg. »Mit dir kann mer ja nirgends hingehe.«

    Herr Klettberg war puterrot geworden und schämte sich offensichtlich über seinen Mangel an Kontrolle.

    »Sag ihr bitte, dass es nur deshalb is, weil mir die Kälte an de Zähne weh tut. Nur deshalb hab ich des widder ausgespuckt«, flehte er Frieder an. Frieder übersetzte und ging davon aus, dass Mary Beth nichts von den Vollprothesen im Mund seines Vaters, denen nichts hätte weh tun können, wusste. Sofort sprang Mary Beth auf, nahm Herrn Klettbergs Glas und trug es in die Küche. Man hörte dort das Klappern von Eiswürfeln in der Spüle und schon kam sie mit einem Glas lauwarmem Eistee zurück. Freudestrahlend stellte sie es vor Herrn Klettberg. Der stöhnte leise, führte das Glas zu den Lippen und stürzte ein halbes Glas hinunter. Er schüttelte sich, was allerdings von Mary Beth nicht mehr bemerkt wurde, da sich Frau Klettberg an sie gewandt hatte.

    »Sag doch ämol, Mary Bett«, sagte sie mit ernster Miene. »Findscht net ach, dass der Frieder unheimlich zugenumme hat. Der is doch richtig fett worde, odder?« Mary Beth lächelte sie an und schaute dann in Erwartung einer Übersetzung auf Frieder. Der blickte sprachlos auf seine Mutter und schüttelte den Kopf.

    »Du hascht ihn doch in Deutschland auch noch g’sehe.« Sie versuchte mit etwas Hochdeutsch Mary Beth sprachlich entgegenzukommen. »Do war er ach schon dick, awwer so doch net. Fett«, sagte sie laut und übertrieben deutlich. »Richtig fett!« Sie zwickte eine der Speckrollen über Frieders Hosenbund. »Jetzt iwwersetz halt ämol.«

    »Na Mudder«, tadelte Alwine, schloss dann aber wieder den Mund und schwieg.

    Frieder atmete tief durch und übersetzte die Worte seiner Mutter für die amerikanische Verwandte. Die lachte verlegen und bat alle zu Tisch, wo sie ein üppiges Abendessen servierte. Frieder hatte sich vorgenommen ganz wenig zu essen, griff jedoch aus Höflichkeit gleich mehrmals zu. Auch der Rest der Klettbergs ließ es sich schmecken. Nur die Gläser mit Eistee blieben weitgehend unberührt. Nach dem Dessert blieb man nicht mehr lange sitzen, denn Mary Beth bemerkte die Erschöpfung der Klettbergs und schlug vor, dass sie sich zurückziehen könnten, wenn sie wollten. Sie hatte Frieders Eltern ihr eigenes Zimmer mit dem Doppelbett überlassen und übernachtete selbst im Gästezimmer. Alwine und Frieder verbrachten ihre erste Nacht im Wohnmobil.

    »Was issen mit dem Vadder los?«, fragte Frieder, als sie alleine waren. »Der war so komisch.«

    »Ich weeß net«, sagte Alwine im Halbschlaf. Sie hatte noch eine Tavor genommen, denn in einem Wohnmobil zu schlafen schien sowohl gefährlich als auch klaustrophobisch. »Ich glaab der werd verkalkt.«

    »Unn, was haltschten vunn de Mudder? Dass ich üwwersetze soll, dass ich so fett worde bin?« Ein leises Röcheln zeigte Frieder, dass Alwine bereits eingeschlafen war. Er hatte plötzlich Lust auf ein Snickers.

    2

    Am nächsten Morgen traf man sich bei Mary Beth zum Frühstück. Herr Klettberg war aufgrund des Zeitunterschieds schon kurz nach vier Uhr wach geworden und beim ersten Tageslicht hatte er sich in den Garten begeben und angefangen Unkraut zu jäten.

    »Ach Gott, des Mädel«, hatte Herr Klettberg gebrummelt, als er die ersten Gräser zwischen den Pflanzen hervorzupfte. »Die versteht jo garnix vunn de Gartenpflege.« Bis die restlichen Klettbergs auftauchten, lag schon ein beachtlicher Haufen Unkraut im Vorgarten und Herrn Klettbergs Gesicht war gerötet und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er hatte sein Hemd über einen Busch gehängt und sein Unterhemd klebte ihm am Rücken.

    »Ach Gott, was machscht donn do?«, zischte Frau Klettberg, als sie ihren Mann im Vorgarten entdeckte. »Du kannscht doch net einfach in anner Leit ihrm Garte Gras roppe.« Ihr Mann warf ungerührt eine Handvoll Unkraut auf den wachsenden Haufen und bückte sich nach dem nächsten Beet. »Unn wie siehscht du donn aus?«, mäkelte sie weiter. »Mitte in Amerika stehscht du im Unnerhemm do!« Sie schüttelte den Kopf und zupfte das nasse Unterhemd am Rücken. »Und nass geschwitzt bischt ach. So viel Wäsch hemmer net dabei!«

    »Ach Zille«, antwortete er. »Meenscht net die Amerikaner schaffen ach im Unnerhemm, wonn’s so warm is? Unn Wäschmaschine werren se aach hawwe.«

    Frau Klettberg schüttelte empört den Kopf und schaute sich um. »Awwer es sieht ja wirklich verheerend aus, bei dere im Garte. Ich glaab, die macht nie was, außer Rase mähe.« Langsam schritt sie am Haus entlang und begutachtete die Arbeit ihres Mannes. Dabei zupfte sie das eine oder andere dürre Blatt ab und knipste mehrere verblühte Löwenzahnstängel aus dem Rasen. »Ach, jetzt fang ich jo ach schunn an«, sagte sie und schüttelte erneut den Kopf. Sie warf die Blätter auf den Haufen, rieb sich die Hände und ging auf die Eingangstür zu, hinter deren Fliegengitter Mary Beth gerade auftauchte.

    »Fruhstucken«, rief sie begeistert. »Breakfast is ready.«

    Frieder und Alwine hatten im Wohnmobil schon hungrig gewartet und kamen sofort heraus.

    »Hmmmh! Riechscht des?«, flüsterte Herr Klettberg seiner Frau zu. »Des riecht nach Speck und Eier. Unn dabei is garnet Sunntag.« Er schluckte kräftig, als sei ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen. Im Esszimmer war der Tisch schon gedeckt und in seiner Mitte stand eine Schüssel mit Rührei neben einer Platte mit knusprigen Speckstreifen. An jedem Platz befand sich eine halbe Grapefruit verziert mit einer Maraschinokirsche. Es gab Marmelade, Butter, Toast und Cornflakes. Aus einer Glaskanne duftete Kaffee, ein Plastikkrug Milch von einer Gallone Inhalt und ein halb so großer mit Orangensaft, wie man sie in amerikanischen Supermärkten bekam, bildeten Pfützen von Kondenswasser auf der Kunststoffplatte.

    »Ach Gott, ach Gott«, sagte Frau Klettberg und schaute vorwurfsvoll auf die zunehmende Feuchtigkeit, die sich bildete. »Wer soll dann das alles esse?« Sie warf Frieder einen auffordernden Blick zu. Er übersetzte und Mary Beth versicherte, dass es gar nicht so viel sei, und sie noch mehr zubereiten könne, wenn es nicht reichte. Auch Frieder erschien die Menge nicht übertrieben für fünf hungrige Menschen.

    Sie nahmen am Tisch Platz und warteten darauf, dass man ihnen etwas anbot. Aber Mary Beth sagte nur: »Grace!«, und schaute auffordernd in die Runde.

    »Was hottse gesagt?«, fragte Frau Klettberg.

    »Grace«, wiederholte Frieder Mary Beths Worte, »ein Tischgebet sollemer spreche.«

    »Ja konnse des net selwer?«, fragte Herr Klettberg. »Mir können jo kää Englisch.«

    »Die will’s beschtimmt uff deitsch«, erklärte Frieder. »Alwine, machscht du des?« Seine Schwester hatte die ganze Zeit schweigend dabei gesessen.

    »Ach Gott nää«, erwiderte sie. »Ich konn des net. Vor alle Leit.«

    »Was für Leit denn?« Frieder ließ nicht locker. »Außer de Mary Beth sinn’s doch nur mir.«

    »Trotzdem kann ich des net«, wiederholte sie trotzig. »Mach du’s halt.«

    »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, begann Frieder unvermittelt und bekreuzigte sich, denn er hatte einen Riesenhunger und wollte den köstlichen Speck nicht kalt werden lassen. Als die Klettbergs das Kreuzzeichen beendet hatten, streckte Mary Beth ihre Hände aus und fasste Frieder an der einen und Frau Klettberg an der anderen Seite.

    »Nemmen eich an de Händ«, flüsterte er. »Des machtmer hier so.« Widerwillig streckten die Klettbergs die Hände nach dem jeweiligen Nachbarn aus und man spürte förmlich das Unbehagen bei dieser ungewohnten Berührung.

    »KommHerrJesusundseiunserGastundsegnewasduunsbescherethastAmen!«, rasselte Frieder das Tischgebet herunter und wie auf Kommando ließen die Klettbergs beim kaum verklungenen Amen ihre Hände los. Nur Mary Beth bewegte die ihren mit denen von Frieder und Frau Klettberg noch einmal auf und ab.

    »Help yourselves«, sagte sie, was Frieder mit »Wir können anfangen« übersetzte. Schon hatte er die Schüssel mit Eiern in der Hand und schaufelte sich eine große Portion auf seinen Teller. Er reichte sie an

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