Das Leiden eines Knaben
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Das Leiden eines Knaben - Conrad Ferdinand Meyer
Der Autor
Conrad Ferdinand Meyer (* 11. Oktober 1825 in Zürich; † 28. November 1898 in Kilchberg bei Zürich) war ein Schweizer Dichter des Realismus, der (insbesondere historische) Novellen, Romane und lyrische Gedichte geschaffen hat. Er gehört mit Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schweizer Dichtern des 19. Jahrhunderts.
~ ~ ~
Werke u.a.
1871 Huttens letzte Tage
1876 Jörg Jenatsch
1877 Der Schuß von der Kanzel
1882 Gustav Adolfs Page
1884 Die Hochzeit des Mönchs
1891 Angela Borgia
Conrad Ferdinand Meyer
Das Leiden eines Knaben
1883
Der König hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und, luftbedürftig und für die Witterung unempfindlich wie er war, ohne weiteres in seiner souveränen Art ein Fenster geöffnet, durch welches die feuchte Herbstluft so fühlbar eindrang, dass die zarte Frau sich fröstelnd in ihre drei oder vier Röcke schmiegte.
Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine täglichen Besuche bei dem Weibe seines Alters zu verlängern begonnen, und er erschien oft schon zu früher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spättafel gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden konnte. Die dreiste Muse Molières, die Zärtlichkeiten und Ohnmachten der Lavallière, die kühne Haltung und die originellen Witzworte der Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun gründlich vorüber, welk wie eine verblasste Tapete. Massvoll und fast genügsam wie er geworden, arbeitsam wie er immer gewesen, war der König auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau angelangt.
Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d'Aubigné einen lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autorität zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfräulein, die sie dort erzog, behaglich den Lauf liess, die aber vor dem Gebieter zu einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine höhere Weisheit wurde. Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Königs, die Savoyardin, das ergötzlichste Geschöpf von der Welt, das überallhin Leben und Gelächter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
Frau von Maintenon, welche unter diesen Umständen die Schritte des Königs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich jetzt, da sie dem beschäftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke der ihr gründlich bekannten königlichen Züge entnahm: Ludwig selbst habe etwas zu erzählen, und zwar etwas Ergötzliches.
Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einen Lehnstuhl niedergelassen. »Madame«, sagte er, »heute mittag hat mir Père Lachaise seinen Nachfolger, den Père Tellier, gebracht.«
Père de Lachaise war der langjährige Beichtiger des Königs, welchen dieser, trotz der Taubheit und völligen Gebrechlichkeit des greisen Jesuiten, nicht fahrenlassen wollte und sozusagen bis zur Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewöhnt, und da er – es ist unglaublich zu sagen – aus unbestimmten, aber doch vorhandenen Befürchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden glaubte wählen zu dürfen, zog er diese Ruine eines immerhin ehrenwerten Mannes einem jüngern und strebsamen Mitgliede der Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Père Lachaise wankte sichtlich dem Grabe zu, und Ludwig wollte denn doch nicht an seinem geistlichen Vater zum Mörder werden.
»Madame«, fuhr der König fort, »mein neuer Beichtiger hat keine Schönheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht, und dann schielt er. Er ist eine geradezu abstossende Erscheinung, aber er wird mir als ein gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein Gewissen übergeben lässt. Das ist doch wohl die Hauptsache.«
»Je schlechter die Rinne, desto köstlicher das darin fliessende himmlische Wasser«, bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der Majestät entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament in diesem königlichen Falle für überflüssig erklärt hatten. So tat sie den frommen Vätern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie dieselben im stillen krallen konnte. jetzt schwieg sie, und ihre dunklen mandelförmigen, sanft schwermütigen Augen hingen an dem Munde des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
Der König kreuzte die Füsse, und den Demantblitz einer seiner Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: »Dieser Fagon! Er wird unerträglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!«
Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Königs und der Schützling der Marquise. Beide lebten sie täglich in seiner Gesellschaft und hatten sich auf den Fall, dass er vor ihnen stürbe, Asyle gewählt, sie Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem Tode des Gebieters einzuschliessen und zu begraben.
»Fagon ist Euch unendlich anhänglich«, sagte die Marquise.
»Gewiss, doch entschieden, er erlaubt sich zu viel«, versetzte der König mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
»Was gab es denn?«
Der König erzählte und hatte bald zu Ende erzählt. Er habe bei der heutigen Audienz seinen neuen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit den Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt wären? Doch der demütige Père habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn eines Bauern in der untern Normandie bekannt.