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Fanfan von der Tulpe: Die 1001 Verrücktheiten des Fanfan von der Tulpe, Illustrierte Ausgabe
Fanfan von der Tulpe: Die 1001 Verrücktheiten des Fanfan von der Tulpe, Illustrierte Ausgabe
Fanfan von der Tulpe: Die 1001 Verrücktheiten des Fanfan von der Tulpe, Illustrierte Ausgabe
eBook525 Seiten7 Stunden

Fanfan von der Tulpe: Die 1001 Verrücktheiten des Fanfan von der Tulpe, Illustrierte Ausgabe

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Über dieses E-Book

Ein Land voll Abenteuer - Frankreich vor der Revolution. Der Roman "Fanfan von der Tulpe" strotzt vor Leben, Geist und Witz ... ... Ein Abenteuerroman, bei dem es zwar den Helden von einer Katastrophe in die andere verschlägt (wobei die Katastrophen nicht zufällig oft weiblich sind), aber bei dem die Handlung durchaus nicht nur in linearem Vorwärtspreschen besteht, sondern geschickt und fein gewebt, geknüpft und verknotet wurde. Der Held Fanfan wird sozusagen durchs Leben gewirbelt zwischen Hochadel und niederem Bürgertum, er lernt die Armee und England von innen kennen und bricht schließlich als blinder Passagier nach Amerika auf, wo eine neue Menschheitsepoche begonnen hat, wo sich aber vor allem die geliebte Letizia irgendwo aufhält, verheiratet zwar nach den Wirren unfreiwilliger Trennung, aber wäre denn ein Wiedersehen völlig ausgeschlossen?
Das Buch beginnt mit einer Affäre, die die blutjunge Klosterschülerin Jeanne Bécu mit keinem Geringeren als dem Herzog Louis von Orléans verbindet... ach, ist das ein Einstieg! Nicht nur, dass man das Geschehen in sozusagen filmisch prägnanten Bildern serviert bekommt und sich beinahe persönlich zwischen der etwas suspekten Familie der jungen Jeanne (deren einst schöne Mutter mit drei Männern lebt) und dem etwas trotteligen, liebebedürftigen Herzog hin und her bewegt – nein, es schwingt auch stets eine Menschenkenntnis mit, die die Figuren von innen her plausibel macht, dem Leser intim nahe bringt und zugleich in witziger Ironie auf Distanz hält. Mit José-André Lacour ist ein unverkrampfter, souveräner Seelenkenner am Werk, na ja, höchstens was die Ausmalung sexueller Eskapaden betrifft, überdreht er manchmal ein bisschen und wirft mit der Wurst nach der Speckseite.
Bitte auch die Nachbemerkung beachten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum17. Nov. 2021
ISBN9783754922118
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    Buchvorschau

    Fanfan von der Tulpe - José-André Lacour

    I Ein echter Sohn Frankreichs

    1

    An einem milden Maimorgen des Jahres 1758 schlenderte ein recht stattlicher Herr, dessen Gewandung — Dreispitz aus feinstem Haarfilz, reich bestickter Gehrock, weichseidene Strümpfe — von der des gemeinen Volkes auffällig abstach, gemächlichen Schrittes die «Straße des raunenden Brunnens» hinan. Er war eine imponierende Erscheinung, dieser offensichtlich noch nicht Vierzigjährige mit der hohen Stirn, dem sinnlichen Mund und dem geradezu majestätischen Embonpoint, der ihn allerdings etwas schwerfällig wirken lieg, was er durch einen schlanken Spazierstock mit Goldknauf wohl zu kaschieren suchte. Beim Herannahen dieser ehrfurchtgebietenden Gestalt verneigten die Krämer sich auf der Schwelle ihrer Laden und traten die Passanten beiseite. Man sah ihm ein Weilchen nach, bis er sich den Blicken entzog, da er unversehens in eine Nebenstraße eingebogen war.

    Der Seiler Rambert war einer von jenen gewesen, die diese hohe Persönlichkeit ehrfürchtig gegrüßt hatten. Nun wandte er sich seinem Ladennachbarn, dem Barbier Picard, zu. «Monseigneur geht auf Fischfang», bemerkte er mit vielsagendem Blick. Da sein Vater Fischhändler gewesen war, pflegte er, getreu dem väterlichen Erbe, seine Worte diesem Berufsstand zu entlehnen.

    «He, nicht so laut!» entgegnete der Barbier. Er war ein vorsichtiger Mann, denn seiner Meinung nach erhielten die Mächtigen dieser Erde von allem, was über sie gesprochen wurde, unverzüglich Kenntnis, da sie ja von einem Schwarm von Leibwächtern und Spionen umgeben waren, die überall ihre Ohren spitzten! So schien es ihm auch jetzt geraten, schleunigst in seinem Laden unterzutauchen, obwohl weit und breit kein Kunde zu erkennen war, aber er wollte sich nicht länger der Gefahr aussetzen, noch weitere Unziemlichkeit aus dem losen Maul seines Nachbarn zu vernehmen.

    Auch der Seiler trat ins Haus, um seiner mit Kartoffelschälern beschäftigten Frau zu berichten, wen er soeben draußen hatte vorbeigehen sehen.

    «In letzter Zeit kommt er sehr regelmäßig», war alles, was Madame Rambert dazu bemerkte, und ihr Mann lieg es dabei bewenden, wiewohl er es sich nicht versagen konnte, gewissen Träumereien nachzuhängen, die in seinem Dickschädel aufgeflammt waren.

    Wenn er dem erlauchten Edelmann folgen durfte und dort, wo jener hinging, ebenfalls Einlag fände — er hätte viel darum gegeben! Aber das kam einem Mann seines Standes ja nicht zu! Dazu hätte es wenigstens einer Revolution bedurft! Und wer wurde schon eine Revolution machen, damit er, der Seiler Rambert, eines Tages die gleichen Freuden genießen könnte wie Monseigneur, der Herzog von Orleans!

    Besagter Herzog von Orleans hatte derweilen seinen Schritt verlangsamt, um sich die verheißungsvollen «Augenblicke der Wonne» noch ein Weilchen vorzuenthalten. Er war ein unnachahmlicher Genieger. Indes huschte hin und wieder, wohl in Vorahnung dessen, was ihn erwartete, ein Lächeln über sein Gesicht, obwohl seine Gedanken gleichzeitig, wie so oft, auch um ernstere Probleme kreisten. Mit wem mochte seine Gattin ihn in letzter Zeit wohl wieder betrügen? Mit dem Grafen Melfort? Dem Abbe de Martin? Oder gar dem Kutscher Lacroix? Sie, eine geborene Bourbon Conti! Aber eben mit Feuer unter dem Hintern. Er wusste nicht einmal, ob er wirklich der Vater seines Sohnes, des Herzogs von Chartres, war. Es war schon deprimierend. Und das war auch der Grund, weshalb der Herzog nur hin und wieder flüchtig lächelte, während er seinen Weg fortsetzte. Doch da er zu Gedankensprüngen neigte und eigentlich auch nicht nachtragend war, fand er sehr schnell seine gute Laune wieder, kaum dass er, am Ziel seines Weges angelangt, den Glockenstrang gezogen hatte.

    Verzückt lauschte Herzog Louis dem hellen Klang der Klosterglocke, der scheinbar endlos in dem langgestreckten Gewölbe widerhallte. War das Kling-Klang des Glöckchens nicht wie ein Echo auf den Namen Jeanne? Sie allein war der Fisch, dem er entgegenfieberte, und nicht etwa das ganze Kloster, wie das tumbe Volk zu meinen schien, dem sein Geheimnis nicht gänzlich verborgen geblieben war.

    Recht abrupt öffnete sich plötzlich das Tor, und der Herzog stellte überrascht fest, dass es die Mutter Oberin persönlich war, die den Pfortendienst versah. Er verneigte sich tief, grüßte galant, mit seinem Dreispitz einen weiten Kreis beschreibend, und sagte, während er näher trat und sie ihm die Reverenz erwies:

    «Ihr seid ja ganz rot, ehrwürdige Mutter, und — meiner Treu! völlig außer Atem. Doch wohl nichts Ernstes?»

    «Nein, nein, Monseigneur.» Dieses hastige Sprechen passte so gar nicht zu ihr . . .

    «Sollte die Pfortenschwester etwa erkrankt sein?»

    «Nein, nein, Monseigneur. Sie bemüht sich nur gerade um eine unserer Pensionärinnen, die von einer Unpässlichkeit befallen wurde. Auch ich komme soeben aus ihrer Kammer, weswegen Ihr mich so außer Atem findet.»

    Der Herzog hatte das Gefühl, dass ihm etwas verheimlicht wurde. Es lag so gar nicht im Charakter der Mutter Oberin, einer felsenfest in der Bibel wurzelnden Frau, sich einer derartigen Erregung, ja fast Kopflosigkeit zu überlassen, nur weil eine der Pensionärinnen sich unpässlich fühlte. Wahrscheinlich steckten Geldsorgen dahinter, dachte der Herzog. Und da er der Wohltäter dieses Hauses war, würde sie sicher später zu ihm davon sprechen. Das dürfte es sein, was sie so erregte. Sie verabscheute es nämlich, an seine Börse appellieren zu müssen. Die traditionelle Tasse Kaffee erwartete den Herzog in jenem kleinen, als Sprechzimmer dienenden und daher weniger klösterlich-spartanisch eingerichteten Raum, wo er sich stets ein Weilchen niederzulassen pflegte, um mit der Oberin die Angelegenheiten des Klosters zu erörtern. Und so machte er es sich auch diesmal in dem eigens für ihn bereitgestellten Sessel bequem und wartete, dass sie ihm erzählte, was sie auf dem Herzen hatte. Eine Viertelstunde lang sprach man über dies und jenes, doch fiel kein Wort von Seiten der Mutter Oberin, das auf ein Ersuchen um finanzielle Unterstützung oder Protektion irgendwelcher Art hatte schließen lassen, woraus der Herzog folgerte, die Oberin müsse wohl selbst an einer Unpässlichkeit leiden. Da er der Meinung war, nun hinreichend Zeit auf die ernsthaften Angelegenheiten verwendet und sich somit seine Belohnung verdient zu haben, sah er auf seine Uhr, erhob sich und sagte:

    «Ehrwürdige Mutter, kommen wir nun zum übrigen. Ich bin recht ungeduldig, die Fortschritte unserer kleinen Mädchen seit der letzten Woche zu sehen.»

    Täuschte er sich, oder hatte sie wirklich etwas entgegnen wollen? Doch hielt sie inne, verneigte sich erneut und schritt ohne ein Wort ihm voran durch den kleinen, mit Liguster bepflanzten Hof, bis hin zu dem alten gotischen Gebäude, das als Schulhaus diente. Sie hatten es beinahe erreicht, als ein schriller Schrei widerhallte. Ein einziger nur. Und dieser wurde durch ein im Schlafsaal des ersten Stockwerks heftig zugeschlagenes Fenster abrupt abgeschnitten.

    «Was war das?»

    «Nichts, Monseigneur, die Dienerinnen zanken wieder einmal.»

    Sie schien ihm nicht ehrlich zu sein, doch verzichtete er auf weitere Fragen, weil seine Ohren und seine Seele bereits von einem Zauber betört wurden: der hinreißende Gesang junger Mädchen umfing ihn.

    Es war ein göttliches Schauspiel! In dem kleinen hellen Saal, den sie soeben betraten, probte eine Schar weißgewandeter, jungfräulicher Mädchen einen Choral, ohne sich durch das Eintreten des Herzogs unterbrechen zu lassen. Der Wechselgesang dieser süßen Stimmen zwang Monseigneur jedes Mal, und so auch heute, ein wenig Platz zu nehmen, da ihm die Beine versagten und der Atem stockte und er vor Wohlbehagen die Augen schließen wollte.

    Himmlisch sangen diese Engel, und hinter den geschlossenen Augenlidern des Herzogs waren sie alle nackt - besonders eine, die bisher nicht in Erscheinung getreten war, ihm noch den Rücken zukehrte, sich aber bald zu einem Solo umwenden würde. Bezaubernde, knospenfrische Jeanne, wie begehrenswert erschien sie ihm unter ihrem Schleier und dieser lilienweißen Kutte! Und wie aufreizend klangen die frommen Worte des Oratoriums aus ihrem Munde!

    Der Herzog öffnete die Augen und stutzte. Dann warf er einen Blick auf die Mutter Oberin, die auf glühenden Kohlen zu sitzen schien.

    «Ehrwürdige Mutter», sagte er, und da verstummten urplötzlich sämtliche Stimmen, «Mademoiselle Becu singt heute nicht das Solo?» Drohend runzelte er die Augenbrauen.

    Nervös kratzte er am Goldknauf seines Spazierstocks. Er war ein Mann, der seinen Ärger nicht zu kaschieren vermochte.

    Die Oberin antwortete nicht sogleich. Hätte man sich in ihren Kopf versetzen können, so wäre deutlich geworden, dass sie sehnlichst das Ende der Welt herbeiwünschte. Ein forschender Blick in die Runde lehrte den Herzog, dass seine Frage allgemeine Unruhe ausgelöst hatte. Er wiederholte sie nochmals, mit einem Anklang von Missbilligung. Doch plötzlich packte ihn Unruhe:

    «Ist sie vielleicht erkrankt? War sie es, von der Ihr mir bei meiner Ankunft spracht?»

    Hier, vor aller Augen, konnte er keine Antwort erwarten. Darum erhob er sich, ungleich lebhafter, als es sonst seine Art war, und zog die ehrwürdige Mutter mit sich in den kleinen Garten, wobei ihm durchaus bewusst war, dass die jungen Chorsängerinnen ihnen mit leidenschaftlichem Interesse nachblickten.

    «Nun, Madame, wollt Ihr mir jetzt die Erklärung geben?»

    «Monseigneur, ich weiß sehr wohl, welches Interesse Monseigneur den Talenten von Mademoiselle Becu entgegenbringen, seit Monseigneur Mademoiselle Becu bei der ersten Chorprobe gesehen haben ...»

    «Ich bin ein Liebhaber der Kunst, Madame, und sehe nichts lieber, als wenn man ihr angemessen huldigt. Und das tat Mademoisel le Becu.»

    «Ich fürchte, Mademoiselle Jeanne Becu wird dieses Haus verlassen müssen», murmelte die Oberin, die von unüberwindlichen Sprechhemmungen befallen und deren Stimme zu ersterben schien. Dennoch raffte sie sich auf, um mit plötzlich entschlossen klingendem Ton jedem Einwand des Herzogs zuvorzukommen.

    «Es ist uns bewusst», fuhr sie fort, «dass wir aufgrund des Interesses, das Monseigneur von Anfang an den Talenten Mademoiselle Becus entgegenzubringen die Güte hatten, wir Mademoiselle Becu als von Monseigneur protegiert zu erachten gehalten waren.»

    «Das gilt nach wie vor, Madame.»

    «Doch hat sie einen nicht wiedergutzumachenden Fehltritt begangen, Monseigneur!»

    «Einen nicht wiedergutzumachenden Fehltritt? Wahrhaftig?»

    «Sie hat dieses Haus entehrt.»

    «Sollte sie es gewesen sein, die ich vorhin schreien hörte?»

    «Sie hat sich in ihrer Kammer eingeschlossen und schreit Drohungen durch die Tür. Ich erwarte einen Schreiner, um die Tür öffnen zu lassen. Ach, Monseigneur, so etwas habe ich mein Lebtag nicht gesehen», schloss die Unglückliche, die Hände ringend. «Dazu bedarf es doch keines Schreiners, Madame!» rief der Herzog davoneilend. «Ich werde mit ihr sprechen.» Und, kurz innehaltend: «Ihr wollt mir doch nicht sagen, sie habe den Namen des Herrn geschmäht?»

    «Sie hat gegen die guten Sitten verstoßen!» schrie nun ihrerseits die ehrwürdige Mutter, ehrlich entrüstet.

    Pah, wenn's weiter nichts ist, dachte der Herzog bei sich. Gegen die guten Sitten verstoßen! Bei so einem Busen konnte das ja kaum ausbleiben. Doch wie hatte sie wohl gegen die guten Sitten verstoßen? Das wollte er lieber aus ihrem eigenen Munde erfahren, und daher ließ er die verdutzte Oberin stehen und eilte, immer vier Stufen auf einmal nehmend, in das Obergeschoß. Obschon er ein wenig eifersüchtig war, dass man hier ohne seine Mitwirkung gegen die guten Sitten verstoßen hatte, fand er es doch geradezu pikant.

    Schon vom ersten Tag an hatte er gedacht, dieser rosenwangige Cherub mit den violettblauen Augen müsse ein kleiner Satan sein.

    Aber da es nicht zu den Befugnissen, Privilegien und Vollmachten des Herzogs gehörte, sich dessen zu vergewissern, hatten seine herzoglichen Gnaden sich Mäßigung auferlegt und tugendhafte Miene zu bösem Spiel gemacht, was ihm jetzt nicht mehr so unbedingt nötig schien, wiewohl er im Augenblick auch keine andere Absicht verfolgte, als zu erfahren, wie man mit fünfzehn Jahren der Sinnenlust frönt, wovon er sich einen unbeschreiblich wonnevollen Nervenkitzel versprach.

    Herzog, und gar der Herzog von Orleans zu sein, das wiegt alle Schreiner der Welt auf.

    Louis brauchte nur seinen Namen zu nennen, und schon öffnete sich die Tür zu Mademoiselle Becus Kammer. Auf ein gebieterisches Zeichen hin war die Mutter Oberin, die ihn zurückzuhalten suchte, am Ende des Gangs wie festgenagelt stehengeblieben. Schon wieder rang sie die Hände, denn nun fürchtete sie, die «Rebellin» könne mit ihren Worten Monseigneur, dessen Grundsätze von Sitte und Anstand sie zu kennen glaubte, beleidigen. Doch seine herzoglichen Gnaden hatten die Tür bereits wieder geschlossen.

    Louis wusste sehr wohl, dass er der außergewöhnlichen Situation und auch seiner Person eine gewisse strenge Feierlichkeit schuldig war. Nun gut, er würde ein Weilchen Komödie spielen! Außerdem bestand ja kein Zweifel, dass die Mutter Oberin ihr Ohr draußen an die Tür presste.

    Doch was ging hier vor? Er war darauf gefasst gewesen, einem kleinen Satan mit geballten Fäusten und zornesrotem Gesicht gegenüberzutreten und hatte nun einen verführerisch und flehentlich lächelnden Engel vor Augen, der sich ermattet und schmollend, mit lasziven Bewegungen, auf ein karges Lager gleiten ließ. Sollte er getäuscht werden von diesem Blick voll innerer Qual, der um Anteilnahme warb? Was besagten diese feuchten violett-blauen Augen? Und was war das für ein Gewand? Grobes Linnen hielt das Haar unter einem schwarzen Schleier, und aus steifem Kattun war das schmucklose weiße Kleid. Und die himmlischen Füßchen, deren graziöse Zehenform er, der weibliche Füßchen vergötterte, längst in Gedanken nachgezeichnet hatte, steckten in groben braunen Lederschuhen. Welch ein Unterschied zu dem singenden, weiß umhüllten Cherub! Alles hier atmete Strenge, Traurigkeit, Düsternis, Frömmigkeit. . .

    Doch immer wieder, wenn er ihr in die Augen blickte — oder war es eine teuflische Vorspiegelung? — erschien sie ihm verführerischer denn je. Er war so verwirrt, dass ihm die Komödie des gestrengen Richters nicht so ganz gelang.

    Und wenn die Mutter Oberin, die tatsächlich ihr Ohr an die Tür geheftet hatte, jetzt nichts hörte, so lag es daran, dass in der Tat niemand sprach. Der Herzog hatte sich auf den einzig verfügbaren Stuhl gesetzt, den er neben das Bett geschoben hatte, und sah Jeanne an. Und Jeanne sah ihn an. Aber auch das zu sehen, blieb der ehrwürdigen Mutter vorenthalten, da Monseigneur das Schlüsselloch mit seinem Dreispitz verhängt hatte.

    Erst als sich der Schritt der entmutigten Oberin im Gang verlor, brach der Herzog das Schweigen. «Nun, meine Liebe», begann er mit leiser Stimme, «es hat den Anschein, als blicke man mir recht dreist entgegen. Dabei bin ich hier, um Euch die Leviten zu lesen.»

    Das schöne Kind hatte, während er sprach, schleunigst die Augen niedergeschlagen, mit einer Unterwürfigkeit, die in Wirklichkeit den Gipfel der Koketterie darstellte.

    «Nein, nein», sagte er, «öffnet die Augen ruhig wieder; ich wünsche ganz und gar nicht, dass Ihr mir auf diese Weise Eure Gedanken verbergt.»

    «Wie es Euch beliebt, Monseigneur», sagte die kleine Jeanne. «Aber . . . wünschen Monseigneur mich demütig oder dreist?» fügte sie mit einem zweideutigen Seufzer hinzu.

    «Ich will nur eines: in Eure Augen blicken», entgegnete er mit höfisch-galanter Schmeichlerstimme. Das waren ja außer gewöhnlich schöne Augen! Und so nahe hatte er sie noch nie gesehen. Augen von tiefem Violettblau und funkelnd wie Email. Ab und an verschleierten dichte, lange Wimpern ihren Glanz, doch nur eine Sekunde lang, und offenbar nur, um gleich darauf die Eindringlichkeit dieses Blicks noch besser zur Geltung zu bringen.

    Monseigneur verharrte in Schweigen, um in Ruhe die einzelnen Züge dieses bezaubernden Gesichts zu betrachten, was ihm bisher, da er Jeanne nur in der Öffentlichkeit gesehen hatte, aus Gründen der Schicklichkeit versagt geblieben war.

    Die Nase war makellos geformt; die Lippen rot und schön geschwungen; der Teint war rein und schimmernd wie heller Bernstein — und Monseigneur spürte, wie sich nicht nur sein Gesicht von Minute zu Minute stärker rötete.

    Jeanne reckte und dehnte ihre Glieder, setzte sich mit einer geschmeidigen und zugleich trägen Bewegung wieder auf und ließ ihre Beine von der Bettkante baumeln, wobei ihre Knie die des Herzogs berührten. Er erschauerte, holte tief Luft, als wolle er zu einer Strafpredigt ansetzen, doch da ihm immer noch der Atem stockte, war sie es, die als erste sprach.

    «Ihr wollt mich also schelten, Monseigneur?» fragte sie mit der gleichen melodischen und betörenden Stimme, die der Herzog aus ihrem Sologesang kannte und die aus ihm in kürzester Frist einen fanatischen Liebhaber der Gesangskunst gemacht hatte.

    «In der Tat», entgegnete er mit gespieltem Autoritätsgebaren. «Doch nicht, ehe ich weiß, was Ihr Euch zuschulden kommen heißt. Sollte sich das, was man mir erzählte, als richtig erweisen, so wird mein Zorn fürchterlich sein!»

    Seine Autorität sank jedoch sogleich wieder in sich zusammen, als er gewahr wurde, dass sie von neuem, erstaunlich unbefangen und ungeheuer aufregend, lächelte.

    «Monseigneur sind viel zu nett und liebenswürdig, um schrecklich zornig werden zu können», sagte sie gelassen. Und verblüfft musste er feststellen, dass sie ihm doch wahrhaftig zublinzelte!

    «Hat man so etwas schon gehört?» rief er aus, nur mühsam das Lachen unterdrückend, das all sein verzweifeltes Bemühen um Würde zunichte gemacht hätte. «Es entzieht sich vielleicht Eurer Kenntnis, Mademoiselle Becu, dass ich nicht nur der Schirmherr dieses Klosters bin ...»

    «Sondern auch noch der Verwandte Seiner Majestät Ludwigs XV. ...»

    «Nicht nur das, mein Fräulein, nicht nur das! Ich war Generalfeldmarschall, habe Städte belagert und befreit und dabei mehr als einmal bewiesen, dass ich auch fürchterlich werden kann.»

    «Oh, Monseigneur», sagte sie, ihm unvermittelt und anmutig die Hände küssend, «glaubt Ihr wirklich, ich wüsste nicht, dass Ihr Heldenhaftes geleistet habt? Darum liebe ich Euch ja, und deswegen habe ich auch keine Angst vor Euch.»

    «Ach so, soso ...» stammelte der Herzog. Er fühlte sich zwar geschmeichelt, doch auch leicht aus der Fassung gebracht. Die kühlen Hände Jeannes auf den seinen hatten ihn vollends den Faden verlieren lassen.

    «Wo waren wir doch stehengeblieben?» fragte er unbeholfen.

    «Ihr erzähltet mir gerade von Euch», antwortete sie mitbetörender Miene. Ein echtes Schmeichelkätzchen, fürwahr!

    «Doch dazu bin ich nicht hier», warf er ein und sprang auf.

    Er hob die Stimme, denn er meinte, einen knarrenden Schritt im Gang vernommen zu haben. «Nun, Mademoiselle Becu, man hat scheint's die Tugend besudelt? Beichtet mir, wie das kam. Und haltet mich ja nicht zum Narren!»

    Er hatte sich der Tür genähert, sie aufgerissen — doch keine Menschenseele, der Gang war leer.

    «Erzählt mir den Hergang», wiederholte er, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, mit plötzlich veränderter Stimme. Nun war er es, der, kaum dass er wieder Platz genommen hatte, die Hände von Mademoiselle Becu ergriff. Doch sie sprach nicht.

    «Stimmt es, dass Ihr mich liebt?» fragte er entflammten Blicks.

    «Es stimmt, Monseigneur.»

    «Ich bin aber doch schon recht alt, gehe auf die Vierzig zu und könnte Euer Vater sein.»

    Dies wurde in immer leiserem Ton gesprochen, zuerst nüchtern feststellend, dann eher melancholisch. Obwohl er noch keine fünfunddreißig Jahre alt war, beliebte es dem Herzog, den Charme des reifen Mannes auszuspielen, der seinen Eindruck auf jüngere Mädchen nur selten verfehlt. Er hatte nicht unrecht, denn schon rief sie, ebenfalls mit flammen dem Blick:

    «Mein Vater? Dem Himmel hat es gefallen, dass Ihr nicht seid, Gott sei Dank! Wäret Ihr mein Vater, müsste ich mich ja schuldig fühlen, das zu empfinden, was ich für Euch empfinde.»

    So eine kleine Schmeichlerin! dachte er. Sie wird mich noch bis aufs Blut peinigen. Er war im höchsten Maße erregt, doch entsann er sich noch rechtzeitig seiner Pflicht.

    «Nun?» fragte er wieder.

    «Was, nun?»

    «Wie ist das mit der Unschuld? Wir haben sie also verloren?»

    «Noch nicht, Monseigneur», entgegnete sie, in helles Lachen ausbrechend. «Ich habe nur versucht zu fliehen, heute früh, doch mein Plan wurde vereitelt.»

    «Zu fliehen? Von hier? Dies ist doch ein schöner Ort!»

    «Schön nennt Ihr das?» Sie hatte es fast herausgeschrien, doch dann, plötzlich ernst, den hübschen Mund leicht verkniffen und die Augen voller Tränen, was sie noch liebreizender machte, fuhr sie fort:

    «Seit Jahren bin ich schon hier eingesperrt, Monseigneur! Es sind schon so viele Jahre, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann. Ich werde alt, Monseigneur, und sehe nur Mauern und Nonnen.»

    «Alt? Ihr seid doch erst fünfzehn.»

    «Muss ich denn zwanzig werden, um endlich leben zu dürfen?»

    «Bevor man leben darf, wie Ihr das nennt, muss man erst etwas lernen.»

    «Gut: Ich habe Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Musik, Geschichte und Briefeschreiben gelernt . . .Genügt das nicht?»

    Jetzt weinte sie wirklich. Wie ein kleines Mädchen, was sie ja eigentlich auch war, dachte der Herzog, hin und her gerissen zwischen Rührung und dem glühenden Bedürfnis, sie zu trösten. «Wenn Ihr wüsstet, Monseigneur, wie arm wir sind. Nichts dürfen wir für uns behalten, nicht einmal eine Puppe . . . Und dieses ewige Schweigen! Im Unterricht, im Refektorium, in den Schlafsälen . . . Lachen ist eine Sünde. Im Winter über Kälte zu klagen, ist eine Sünde. Die Hände aus den langen Kuttenärmeln herausstrecken — eine Sünde. Oh, Monseigneur, hat Gott denn wirklich gewollt, dass das Leben so düster ist?»

    «Na, na», wandte er vorsichtig ein.

    «Darum habe ich zu fliehen versucht. Aber Gott hat es nicht gewollt.»

    «Sprecht doch nicht ständig von Gott!» warf der Herzog ein.

    «Er verrät niemandem seine Absichten.»

    «Dieses Biest von Schwester Blanche ist schuld!» kreischte Jeanne nun zornig, von Gott ablassend. «Sie hat mich erwischt, dabei war ich bereits durch die Hinterpforte des Gemüsegartens hinaus. Aber Gott wird es ihr schon heimzahlen!»

    «Ihr seid wirklich ein frommes Geschöpf», sagte der Herzog.

    Einen Augenblick saßen sie schweigend beisammen. Jeanne zog die Nase hoch, und Monseigneur reichte ihr sein Taschentuch. Gleichzeitig versuchte er, ihr klarzumachen, dass ihre Familie sie, wenn ihr die Flucht gelungen wäre, doch unverzüglich, mit gutem Zureden oder auch mit Gewalt, zurückgebracht hätte. Aber hatte sie überhaupt eine Familie?

    Sie hatte eine.

    «Aber zu denen wäre ich niemals gegangen», sagte Jeanne, zwar schmollend, doch fest entschlossen.

    «Was, zum Teufel, hättet Ihr denn dann gemacht? Allein in dieser riesigen und gefährlichen Stadt?»

    Mit sanfter, vertrauensvoller Miene blickte sie zu ihm auf.

    Aber selbst mit sanfter und vertrauensvoller Miene hatte Jeanne noch jenen koketten Blick.

    «Euch hätte ich um Hilfe ersucht, Monseigneur Louis.

    Schon vom ersten Tag an wusste ich, dass Ihr mich nicht hasst.»

    Die Ehrwürdige Mutter Oberin saß in ihrem engen Oberinnenzimmer, murmelte ihren Rosenkranz und lauschte sichtlich erleichtert den Worten Monseigneurs, des Herzogs von Orleans, der soeben wieder aus dem Obergeschoß heruntergekommen war. Er spielte gedankenverloren mit seinem Dreispitz, den er auf dem Knauf seines Spazierstocks kreiseln ließ. Über seine Stirn lief, senkrecht und sie gleichsam spaltend, eine Sorgenfalte.

    «Ehrwürdige Mutter, Ihr habt recht», sagte er schließlich.

    «Es kommt mir nicht zu, diesem Fräulein gegenüber Nachsicht walten zu lassen, nur weil ihr musikalisches Talent mir gefallen hat. Im Gespräch mit ihr habe ich mich davon überzeugt, dass sie störrisch und im Herzen eine Rebellin ist. Der Geist der Revolte hat von ihr Besitz ergriffen, und Euch, wolltet Ihr sie dennoch hierbehalten, würden nur Unannehmlichkeiten er wachsen. Von dem ansteckenden Beispiel ganz zu schweigen,

    Ehrwürdige Mutter. Eine irregeleitete Seele in einer Gemeinschaft, und schon sind alle anderen Seelen in Gefahr! Da gibt es nur eines, Madame: Ausschluss, erbarmungsloser Ausschluss!»

    «Ah, Monseigneur, wie bin ich erleichtert. Ich fürchtete, Euer Missfallen erregt zu haben.»

    «Ihr hättet mein Missfallen erregt, wenn Ihr unrecht gehabt hättet, Ehrwürdige Mutter.»

    «Sie hat es doch Monseigneur gegenüber hoffentlich nicht an Respekt mangeln lassen?»

    «Nicht gegenüber meiner Person, doch den Prinzipien gegenüber, denen ich huldige, und das genügt. Reißen wir dieses Unkraut aus, Madame, reißen wir es aus!»

    Der immer noch kreiselnde Dreispitz fiel zu Boden. Und der Herzog, der spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, sprang auf, ergriff hastig seine Kopfbedeckung und sagte unvermittelt, so herzoglich erhaben, wie es ihm nur möglich war: «Ihre Koffer sind gepackt. Ich werde sie holen lassen. Mademoiselle Becu nehme ich gleich mit zu mir, von wo aus meine Kutsche sie nach Hause bringen wird. Ich nehme an, es ist Euch recht, wenn ich Euch die Peinlichkeit erspare, den Eltern den Grund für diesen Ausschluss erklären zu müssen. Ich werde es an Eurer Stelle besorgen.»

    «Ich bin Euch zu größtem Dank verpflichtet, Monseigneur.»

    «Dann auf bald, Ehrwürdige Mutter.»

    Und so traf Monseigneur etwa eine halbe Stunde später in Begleitung von Mademoiselle Becu in seiner Wohnung ein.

    Mademoiselle Becu hatte schluchzend von der Mutter Oberin Abschied genommen, und diese war in ihrer Rührung schon fast bereit gewesen, sie wieder aufzunehmen. Doch das hatte der Herzog, seinem unerschütterlichen Sinn für Rechtschaffenheit folgend, zu verhindern gewusst.

    Als sie in seiner Wohnung ankamen, hatte Mademoiselle Becu noch ganz rote Augen. Der Herzog war während des ganzen Weges stumm geblieben. Er hatte viel zu viel Angst, lachen zu müssen. Starren militärischen Schrittes war er vorwärts gegangen — doch vielleicht nur, um nicht plötzlich Freudensprünge zu machen . . .

    Als er zur Mutter Oberin gesagt hatte, er nehme Jeanne mit zu sich, hatte er nicht etwa das Palais Royal gemeint, sondern eine Wohnung, die er in der Abtei Sainte-Genevieve besaß. Sein Vater, der selige Herzog Ludwig, genannt der Fromme, hatte sich gegen Ende seines Lebens hierher zurückgezogen, um sich ausschließlich der inneren Einkehr widmen zu können. Doch ließ ihm diese Beschäftigung auch Mußestunden, und so hatte der selige Herzog nach und nach eine Münzsammlung angelegt, ein Werk, das sein Sohn, wenn auch nur sporadisch, fortsetzte.

    Auch die Kutsche, die er der Oberin gegenüber erwähnt hatte, war nichts weiter als ein bescheidener Zweispänner, dessen Rosinanten im Klosterhof weideten, der es ihm aber, dank seiner Unauffälligkeit, ermöglichte, unerkannt durch die Stadt zu fahren, wenn er das Bedürfnis danach verspürte.

    Besagte Wohnung lag im ersten Stock des Klostergebäudes. Man erreichte sie über eine enge Steintreppe. Der Herzog öffnete die Tür, forderte Jeanne auf, Platz zu nehmen, während er von einer Konsole eine Karaffe Wein und zwei Gläser nahm und einschenkte:

    «Auf Euer Wohl», sagte er so nüchtern wie möglich.

    «Auf Euer Wohl», entgegnete sie.

    Sie tranken.

    «Hübsch ist es hier», sagte sie.

    «Ich werde Euch meine Münzen zeigen», entgegnete er.

    «Arme Antoinette», seufzte Jeanne.

    «Antoinette?»

    «Antoinette de la Feraudiere, die mein Solo übernommen hat. Sie war meine beste Freundin. Ich habe ihr Lebewohl gesagt, als Ihr bei der Oberin wart. Sie hat so geweint, es war zum Erbarmen. Ich aber auch.»

    «Eure Augen sind noch schöner, wenn Ihr geweint habt», sagte er leidenschaftlich.

    «Monseigneur», rief sie, plötzlich ganz ergriffen. «Monseigneur, steht mir bei! Weckt mich auf! Mir ist, als träumte ich einen verwegenen Traum, in dem ich, nach meiner missglückten Flucht, zu Tode verzweifelt, von einem schönen und edlen Ritter aus meiner unseligen Lage errettet werde!»

    «Allmächtiger», sagte er, Niedergeschlagenheit heuchelnd, was ihm sogar recht glaubwürdig gelang. «Da habe ich etwas Schlimmes angerichtet. Wie soll ich das nur meinem Beichtvater erklären? Soll ich ihm vielleicht sagen, dass Ihr mir den Kopf verdreht habt?»

    «Aber, aber — aus einer Unglücklichen habt Ihr ein glückliches Wesen gemacht, und das ist ein Akt christlicher Nächstenliebe, den Gott Euch vergelten wird.»

    «Wenn Ihr es sagt. . . Möge er Euch erhören, da Ihr ja offensichtlich sehr gut mit ihm steht.»

    Fast schüchtern hatte er sie in die Arme geschlossen. Was sie da auch eben gesagt haben mochte — er versuchte sich krampfhaft klarzumachen, dass sie erst fünfzehn war. Doch für Jeanne bedeutete das schon allerlei, und so erlebte Monseigneur plötzlich die freudige Überraschung, dass Jeanne sich auf die Zehenspitzen hob und ihn auf den Mund küsste. Eigentlich war das kein Kuss einer Fünfzehnjährigen gewesen. Und doch war sie Jungfrau. Aber eben begabt.

    «Als Dank für meinen schönen Ritter», sagte sie mit ihrem entwaffnenden Lächeln. Doch dann, plötzlich besorgt: «Die Mutter Oberin ließ mich wissen, Ihr wolltet mich nach Hause zurückbringen lassen. Habt Ihr das wirklich gesagt?»

    «Ja.»

    «Und werdet Ihr es tun?»

    «Selbstverständlich.»

    «Ich dachte, Ihr hättet gelogen», sagte sie betrübt, und ihre Lippen begannen zu zittern. «Ich bin nämlich gar nicht so erpicht darauf, zu meiner Familie zurückzukehren. . . Warum lächelt Ihr jetzt?»

    Er leerte sein Glas und fuhr sich über die Lippen. Er lächelte verkrampft.

    «Ich habe nicht gelogen», sagte er tonlos, «und doch nicht ganz die Wahrheit gesagt. Dieser Tag Anno Domini 1758 wird dank Euch, Mademoiselle Jeanne Becu ...» — er stockte — «oder sagen wir besser Euretwegen, der Tag der Doppeldeutigkeiten werden.» Nachdenklich sah er sie an. Dann fuhr er fort, ohne dass sie so recht verstand, was er damit meinte: «Ich frage mich nur, wie weit Ihr gehen werdet.»

    Jeanne war am 17. August 1743 in Vaucouleurs geboren. Das Gemeinderegister wies sie als Tochter von Anne Becu, genannt Cantigny, aus, doch nannte es keinen Vater. Damals war Anne Becu dreißig Jahre alt gewesen, und somit musste sie heute fünfundvierzig zählen. Ihre frühere Schönheit begann ein ganz klein wenig zu welken, aber sie sah im Jahre 1758 noch immer blendend aus. Annes Vater, Fabien Becu, Garkoch in Paris, war ebenfalls eine prachtvolle Erscheinung gewesen, und er hatte, unter anderen, die Gunst einer Gräfin de Cantigny zu gewinnen vermocht, sie dann geheiratet und ihren Namen angenommen, woraus sich erklärt, wieso Jeannes Mutter sich Cantigny nannte, was in der Tat besser klingt als Becu.

    Schon früh hatte Anne mit ihrem Kind, das keinen offiziellen Vater hatte, Vaucouleurs verlassen, um im Tross eines Heereslieferanten, der auch für Schönheit empfänglich war, nach Paris zu reisen und sich dort trauen zu lassen, doch nicht mit besagtem Heereslieferanten, sondern mit einem Nicolas Ranqon, was recht merkwürdig erschien, da der Lieferant reich, Ranqon jedoch arm war, was wiederum zu der Befürchtung Anlass gibt, hier habe sich ein Dreiecksverhältnis gebildet.

    Doch gab es auch noch einen Freund der Familie, einen gewissen Jean-Baptiste Gomard de Vaubernier, genannt Frere Ange, ein ehemaliger Mönch, der, obwohl schon lange aus dem Orden ausgetreten, das schmale, hagere Gesicht und das salbungsvoll verschlagene Gehabe des Klerikers zur Schau trug.

    Dies war das Milieu, in dem Jeanne aufwuchs. Und mit etwas gutem Willen lässt sich vielleicht auch die Tatsache, dass diese zusammengewürfelte Gesellschaft im Anschluss an einen großen Familienrat Jeanne aus dieser wenig erhebenden Umgebung entließ und in die Klosterschule steckte, auf ein trotz allem noch verbliebenes Fünkchen Anstandsgefühl zurückführen. Doch Jeanne, die Geselligkeit liebte, war keineswegs glücklich über diesen Beschluss und, wenn auch aufrichtig fromm, kaum geschaffen für ein Leben hinter Klostermauern. Daher hatte sie zu Monseigneur gesagt, sie habe nicht die geringste Lust, nach Hause zurückzukehren. Außerdem hegte sie den Verdacht, ihre Mutter sei gar nicht so erpicht darauf, sie wieder bei sich zu haben.

    Als nämlich vor nun etwa vier Monaten die schöne Anne, geborene Becu, genannt Cantigny, verheiratete Ranqon, ihre Tochter im Damenstift Sainte-Aure besucht hatte, war ihr in dem Moment, als Jeanne das Sprechzimmer betrat, für einen Augenblick die Luft weggeblieben.

    «Was ist denn, Mama?» hatte das schöne Kind, das man sogar zu umarmen vergessen hatte, erstaunt gefragt.

    «Hm, nichts», hatte die schöne Anne geantwortet. «Hm . . .nun ja . . . das heißt... du hast dich seit meinem letzten Besuch sehr verändert.»

    «Verändert? Bin ich dicker geworden? Oder dünner?»

    «Das meine ich nicht. . . Du bist eine richtige kleine Frau geworden, das wollte ich sagen.»

    «Antoinette de la Feraudiere sagt, ich sei das hübscheste Mädchen, das sie kennt», hatte Jeanne daraufhin in aller Unschuld entgegnet.

    Doch das schien die schöne Anne nicht sonderlich erfreut zu haben, denn in scharfem Ton hatte sie erklärt, Jeanne sei ein dummes Ding, und in ihrem Alter habe man sich nicht mit seiner Schönheit zu befassen, sondern den Katechismus sowie Sitte und Anstand zu lernen. Woraus Jeanne, ganz Weib, einer blitzartigen Eingebung folgend, geschlossen hatte, dass sie tatsächlich sehr hübsch sein müsse und ihre Schönheit die Mutter offenbar ärgerte.

    In der Tat war die schöne Anne sich beim Anblick ihrer erblühten Tochter schmerzlich ihres Alters bewusst geworden und verfiel seit dieser Begegnung im klösterlichen Sprechzimmer immer wieder in Trübsinn, der in Anfälle von wahnwitziger Gefallsucht umschlug, wobei sie skrupellos die Börse ihres Heereslieferanten plünderte, um sich jugendlich beschwingte Kleider, Putz, trügerische Brusttücher, Schminke und Schmuck zu kaufen. Aber noch etwas anderes quälte ihre Seele, jedes Mal wenn das bezaubernde Bild Jeannes vor ihrem geistigen Auge auftauchte. Eines Tages, vielleicht bald schon, dachte sie, würde Jeanne nach Hause zurückkehren. Die reine,

    strahlende Unschuld, die noch unreife Frucht. Und wer konnte dann wohl für das Verhalten des Herrn Heereslieferanten garantieren?

    Geil wie der war! Wenn es ihm gar einfallen sollte, von der Mutter zur Tochter überzuwechseln? In dieser Welt war ja alles möglich! Ging ihr der von der Fahne, stand sie mittellos da. Ranqon, ihr Gatte, seinem Dienstgrad nach Magazinverwalter, würde ihr wohl nicht gerade Ohrgehänge kaufen. Und ob sie Ranqon, was Jeanne anbetraf, trauen konnte? Man hat auch schon von Stiefvätern gehört, die Blutschande trieben!

    Blieb wohl nur Vaubernier, genannt Frere Ange, von dem sie nichts zu befürchten hatte, und zwar aus gutem Grund. Doch in ihren schlimmsten Augenblicken zweifelte Anne sogar an Vaubernier, genannt Frere Ange.

    Der Gerechtigkeit halber sei aber noch hinzugefügt, dass die schöne Anne, von Habgier und Eifersucht einmal abgesehen, auch Anwandlungen von Mutterliebe hatte. Sie wünschte keinesfalls, dass ihr Kind, das mit Gold nicht aufzuwiegen war — und dieser Gedanke erfüllte sie mit Stolz -, von dem einen oder anderen dieser Herren beschmutzt oder missachtet würde.

    Kurz, sie machte sich Sorgen, quälte sich, aß zu viel, beobachtete unentwegt und mit zunehmendem Misstrauen mal den Heereslieferanten, mal Ranqon und manchmal sogar Frere Ange, der zweimal pro Woche zum Essen kam; sie wollte im Voraus erkennen, welchen von ihnen ihre Tochter und sie wohl zu fürchten hätten, wobei sie oftmals der niederschmetternde Gedanke befiel, alle drei könnten zu fürchten sein. Zum Trost sagte sie sich, sie würde schon Wache stehen, und Jeanne ließe sich vielleicht gar nicht einwickeln, und außerdem stand die Gefahr ja auch noch nicht vor der Tür.

    Diese Feststellung traf sie gerade an jenem Nachmittag, als ein Bote vom Damenstift Sainte-Aure eintraf. Der schönen Anne, die sich nun schon zum dritten Mal an diesem Tag schön machte, wurde ein Brief aufs Zimmer gebracht. Besagte Herren befanden sich im Salon. Frere Ange las, und seine vorwitzige Nase suchte zu erschnuppern, was es wohl zu Abend geben würde. Ranqon und der Heereslieferant spielten Tricktrack. Doch diese friedliche Idylle währte nicht lange; alle drei fuhren hoch — Scherbenklirren, Getrampel, Schreie, Gepolter auf der Treppe: Die Tür flog auf, und die schöne Anne, halb weinend, halb rasend, stand vor ihnen. Sie beutelte einen Brief, als wollte sie die unselige Nachricht, die er enthielt, herausschütteln.

    «Relegiert!» rief sie. «Relegiert!»

    Die Herren umringten sie, während sie wutentbrannt den Brief der Mutter Oberin verlas.

    «Madame, zu meinem aufrichtigen Bedauern sehe ich mich gezwungen. Euer Fräulein Tochter aus unserem ehrwürdigen Hause zu entfernen, da Euer Fräulein Tochter durch ihr Benehmen gegen die Regeln, die in unseren heiligen Mauern herrschen, verstoßen hat. Unser hochwohlgeborener Schirmherr, Monseigneur der Herzog von Orleans, wurde Zeuge ihrer Verfehlung, und Ihr sollt wissen, dass ich mit seinem Einverständnis Euer Fräulein Tochter relegierte.»

    «Da haben wir's!» schloss sie, indem sie den Brief rein zufällig dem Heereslieferanten ins Gesicht schleuderte. «Da haben wir's! Relegiert! Könnt Ihr mir vielleicht sagen, was diese kleine Dirne angestellt haben mag?»

    Man suchte sie zu beruhigen.

    «Vielleicht ist es gar nicht so schlimm!» meinte Ranqon. «In solchen Klöstern ist man eben sehr streng.» Was ihm folgende, für ihn unverständliche Antwort einbrachte: «Streng! Man ist nie streng genug! Und Euch, mein Herr, verpflichte ich, sobald sie da ist, äußerste Strenge walten zu lassen! Das gilt auch für Euch, Monsieur», fügte sie, an Frere Anges Adresse, hinzu.

    Doch das ärgste Donnerwetter ging auf den Heereslieferanten nieder, der eine beruhigende Bemerkung hatte machen wollen. Er konnte ja nicht wissen, dass diese von Anne gänzlich anders gedeutet wurde. «Na, na», sagte er besänftigend.

    «Regen wir uns doch nicht so auf, ehe wir das Motiv für den Ausschluss kennen. Das liebe Kind hat vielleicht nur eine freche Bemerkung gemacht, oder — was weiß ich — vielleicht war's gar nichts Besonderes . . . Monsieur Ranqon hat recht: In diesen Häusern ist man sehr streng.»

    «Das liebe Kind!» kreischte Anne, den Ton des Heereslieferanten nachäffend. «Das liebe Kind! Klingt ja recht zärtlich, und das bei einem so undankbaren Geschöpf!»

    Und nun sagte er den verhängnisvollen Satz: «Pah! Irgendwann, meine Liebe, musste sie ja schließlich dort wieder rauskommen. Ist es denn nicht Zeit, dass sie die Welt kennenlernt? Und ihre charmante Gegenwart in diesem Haus . . . Himmlisch, das plätschernde Geplauder der Jugend ...»

    Er verstand vermutlich nie, warum er sich für diese Worte eine Ohrfeige einhandelte.

    «Und zu allem Überfluss», bemerkte Anne, «haben wir jetzt auch noch den Herzog von Orleans zum Feind!»

    Nach diesen Worten verließ sie den Raum, schlug die Tür zu, erklärte, sie esse nicht zu Abend, und ging hinauf in ihr Zimmer, ihre lädierte Schönheit wiederherzustellen. Besagte Herren stellten einstimmig fest, sie nehme sich diese Affäre doch gar zu sehr zu Herzen, beweise zwar eine lobenswerte Besorgnis um die Tochter, laufe jedoch Gefahr, durch die Aufregung — wie der Heereslieferant meinte—rote Flecken im Gesicht zu bekommen.

    Seit einer halben Stunde war Anne nun schon in ihrem Zimmer; sie überflog einen Brief, den sie soeben geschrieben hatte, als ihr Zimmermädchen eintrat und — da sie das Konzert vorher ja gehört hatte — so behutsam wie möglich sagte, Mademoiselle sei jetzt da.

    «Da?»

    «Unten, Madame.»

    «Ausgezeichnet, ich komme hinunter», entgegnete Anne in einem für das Zimmermädchen erstaunlich neutralen Ton. Sie hatte sich inzwischen tatsächlich beruhigt. Der Brief, den sie geschrieben hatte, war an Ciaire Lafontaine gerichtet, eine ihrer Freundinnen, die eine kleine Erziehungsanstalt leitete.

    Warum hatte sie daran nicht schon früher gedacht? Dort würde sie Jeanne hinschicken! Und selbst zwei Jahre lang Ruhe haben! Sofern es Platz gab bei Ciaire.

    Sie überpuderte nochmals ihr Gesicht, denn ihr Teint sollte ebenso hell sein wie der von Jeanne, und warf abschließend noch einen Blick durchs Fenster. Vor dem Haus stand ein kleiner grauer Wagen mit zwei alten grauen Pferden und einem grau gekleideten Mann, der Jeannes Gepäck, zwei kleine hölzerne Reisekoffer, auslud.

    Als die schöne Anne ins Speisezimmer trat, schallte ihr bereits recht fröhliches Stimmengewirr entgegen. Besagte Herren, die sich gerade erst den Mund abgewischt hatten und noch mit vollem Mund weitersprachen, umringten Jeanne, küssten sie ab und redeten alle gleichzeitig auf sie ein. Wie echte Väter, alle drei, stellte Anne sinnend fest. Der Brief, den sie soeben verfasst hatte, stimmte sie nämlich geneigt, ihre rohen und anstößigen Verdächtigungen etwas milder zu formulieren.

    «Nun!» rief sie schrill von der Türschwelle her, besagte Herren damit auf ihre Plätze verweisend. «Nun, mein Fräulein, da haben wir ja offenbar etwas Schönes angestellt! Mein Kompliment! Wir bringen große Opfer für Sie, damit Sie später etwas darstellt, und das ist nun unser Lohn!»

    Ursprünglich war es ihre Absicht gewesen — denn Mutter zu sein verpflichtet - das Kind während ihrer Strafpredigt mit Blicken niederzuschmettern, aber nun tat sie nichts dergleichen, da schon beim Anblick der Tochter so etwas wie Rührung in ihr aufgestiegen

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