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Leben am Horizont: Geschichten vom Leben und Sterben
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Leben am Horizont: Geschichten vom Leben und Sterben
eBook285 Seiten4 Stunden

Leben am Horizont: Geschichten vom Leben und Sterben

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Über dieses E-Book

Inge Muntwylers Buch enthält Geschichten vom Leben und Sterben. Sie schreibt über Themen wie Krankheit, Tod, Abschied, letzte Begegnungen, die in unserer Gesellschaft gerne verdrängt werden. In einer glasklaren, konzisen und eindringlichen Sprache. Ohne zuviel oder gar falsches Pathos. Das lässt die »schweren« Themen leichter werden.

In diesem Prosaband sind aber auch Texte anderer Art versammelt. Etwa ein bewegendes Porträt ihres Mannes, eine geradezu humorvolle Schilderung eines Krankenhausaufenthalts oder kurzweilige Geschichten über so vertraute Dinge unseres Alltags wie Schuhe, Autos, Katzen, Bahnfahrten, Hausgemeinschaften und Putzfrauen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Dez. 2014
ISBN9783738686609
Leben am Horizont: Geschichten vom Leben und Sterben
Autor

Inge Muntwyler

Inge Muntwyler, geboren 1929, arbeitete ein Leben lang als Lehrerin und begann 1993 mit dem Schreiben von kurzer Prosa und Erzählungen. Sie lebt in Wettingen (Schweiz).

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    Buchvorschau

    Leben am Horizont - Inge Muntwyler

    In Erinnerung an

    Max Muntwyler und Wera Windel

    Inhalt

    Letzte Begegnungen

    Am Mittwoch, um 9 Uhr …

    Maria Cesarina

    Der Tumor

    Schwester Bartola

    Die Putzfrau und ihre Heiligen

    Wilfried, der Vetter

    Abschied

    Vergesst das Lachen nicht

    Halux, Hammerzehe und andere wüste Sachen

    Schuhe, immer wieder Schuhe

    Was hat der Kaffee gekostet?

    Imfeldstrasse Nr. 3

    Meine Verflossenen

    Friedlich und heiter ist dann das Alter

    Kein Dienstagabendkrimi

    Leben mit Katzen

    Letzte Begegnungen

    Die Tochter des alten Mannes rief an einem Sonntagmorgen an. Mein Vater ist gestorben, sagte sie, er ist einfach wieder eingeschlafen, als ihn die Schwestern aus dem Bett holen wollten. Sie nehme den nächsten Zug, aber es könne dauern. Ich fuhr gleich ins Pflegeheim. Neben der Zimmertür stand ein kleiner Tisch. Eine Kerze brannte, eine Vase mit Blumen stand da, und ein Bild des Verstorbenen lag daneben. Ich blieb eine Weile davor stehen und atmete tief durch, bevor ich ins Zimmer trat. Eine Freundin der Familie war bereits zu einem Abschiedsbesuch da. Sie verliess leise den Raum.

    Der alte Mann war nicht krank gewesen, vielleicht ein wenig müde, als ich zuletzt bei ihm war. Jetzt sah er aus, als würde er nur schlafen. Rosig und rund war sein Gesicht. Sicher war er totenblass. Aber in meiner Erinnerung war sein Gesicht rosig. Ich musste an das Morgenstern-Zitat denken: »Selig lächelnd wie ein satter Säugling.«

    So sanft und zärtlich kann der Tod sein. 1919-2005

    Der alte Mann hat nie vom Tod gesprochen, obwohl er Mitte achtzig war. Er hat auch nicht wahrhaben wollen, dass seine Frau todkrank ist. Still ist er auf dem Sofa gesessen, hat in Kunstbüchern geblättert oder kleine Aquarelle gemalt. Er hat sich in seine Schwerhörigkeit eingekapselt, während sich seine Frau bis wenige Tage vor ihrem Tod durchs Haus schleppte, ein Sauerstoffgerät nach sich ziehend. Oft haben wir uns zu einander gesetzt, und sie hat mit mir ihre Abschiedsfeier besprochen, Adressen bereinigt, Musik ausgesucht, das Leidzirkular bestimmt … Sie hat sogar für ihren Mann Anzug, Hemd, Krawatte, Socken und Schuhe bereitgelegt, damit er an ihrer Beerdigung korrekt gekleidet sei. Kannst du nicht mit deinem Mann sprechen, er war doch Arzt? habe ich sie einmal gefragt. Nein, sagte sie, er will nicht davon reden. Er wusste wohl, dass er ohne sie nicht mehr in dem grossen Haus bleiben könne.

    Als es zu Ende ging, wurde ein Krankenbett in den Wohnraum gestellt. Da lag sie nun, umgeben von stilvollen Möbeln und schönen Bildern, mit Blick in den Garten auf den blau blühenden Hibiskus. Sie war völlig abgezehrt und brauchte immer wieder Morphium. Sie muss nicht mehr essen, wenn sie nicht will, hatte die Onkologieschwester gesagt. Die Tochter war jetzt ständig da. Sie hatte für ein paar Wochen Urlaub von ihrer Arbeit bekommen. Der Mann sass auf dem Sofa, untätig und schwerhörig. Wenn ich mich zu ihm setzte, nahm er meine Hand und sagte danke. Am letzten Tag verlangte die Frau nach ihrem Mann. Da stand er dann wie ein verlorenes Kind an ihrem Bett und hielt lange stumm die Hand der Sterbenden. Ein alter Mann, der plötzlich annehmen kann, was geschieht, und all seine zurückgehaltene Zärtlichkeit in Blick und Händedruck legt. Ich war zu Tränen gerührt.

    In der Nacht ist die Frau gestorben. Ihr Anblick erschreckte mich. Augen und Mund waren weit aufgerissen, ein Arm in die Höhe gereckt, die Finger verkrallt. Unbarmherzig war der Tod über sie gekommen.

    Freunde sassen ums Totenbett, assen Kuchen, tranken Kaffee, schrien dem Mann Trost zu und sagten, wie schön es sei, noch Abschied nehmen zu können. –

    Nichts war schön. 1924-2004

    Muma war eine stille Frau, die ein bescheidenes Leben neben einem älteren autoritären Mann führte. Sie litt an Liebesmangel und war ständig in Geldnöten, schluckte Unmengen von Saridon und ruinierte damit ihre Leber. Sie starb ein Jahr vor unserer Heirat.

    Es geht dem Ende zu, sagte mein Liebster, als er mich von zu Hause abholte. Wir lösten seinen Vater ab, schickten ihn schlafen und hielten Nachtwache. Wir sassen im Dunkeln, hörten auf das rasselnde Atmen der Sterbenden, waren aber vor allem mit uns beschäftigt. Bis plötzliche Stille uns aufschreckte. Totenstille.

    Muma sah friedlich aus. Ich bilde mir ein, dass sie lächelte. Ihr mühseliges Leben war zu Ende, ihre Schmerzen überwunden. Ihr Jüngster und dessen Freundin, an der sie sehr hing, hatten sich nach einer Auszeit wieder gefunden. Ich bilde mir ein, dass ich all das im vermeintlichen Lächeln der Verstorbenen lesen konnte. 1896-1949

    Jahre später ist ihre Enkelin, unsere Tochter Fränzi, mit dem gleichaltrigen Freund Michael tödlich verunglückt. Die Nachricht erreichte uns an einem Sonntagmorgen im Tessin. Wir sind mit dem älteren Sohn nach Hause gefahren, den jüngeren haben wir noch für ein paar Tage bei den Freunden gelassen. Das war ein Fehler, die Brüder hätten einander gebraucht.

    Wir müssen jetzt stark sein, sagte die Mutter des Freundes, als sie mich überschwenglich in die Arme schloss. (Sie hätte meine Mutter sein können, den Nachzügler hatte sie Mitte vierzig geboren.) Wir dürfen nicht weinen, sagte sie. Ich weinte ja nicht. Ich habe geweint auf der Heimreise. Blind vor Tränen bin ich am Steuer gesessen und habe traumwandlerisch den Weg gefunden.

    Schlimmeres konnte uns jetzt nicht mehr geschehen.

    Die beiden Toten lagen nebeneinander aufgebahrt in einem kleinen, unwirtlichen Raum. Fränzis Kopf war vom Kinn über die Ohren bis zum Haaransatz eingebunden. Die Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet, die oberen Schneidezähne waren zum Teil abgebrochen. Erschüttert betrachteten wir das tote Kind. Die junge Frau, die wie eine kleine Nonne aussah. Und dann den Freund, der uns nie nah gestanden hatte und der jetzt mit halbgeöffneten, toten Augen durch uns hindurchblickte. Es graute mir vor diesen Augen.

    Sie sehen so friedlich aus, wir müssen stark sein, hatte seine Mutter gesagt. Aber ich dachte nur an die beschädigten Zähne, dass zu Hause ein Gipsabdruck des Gebisses lag, dass der Zahnarzttermin für die Reparatur feststand und ich ihn nun annullieren müsste.

    Und noch etwas dachte ich: Du bist jetzt frei, die Loslösung ist endgültig. Wir müssen uns nicht mehr Sorgen machen um dich. Wir können dir auch nichts mehr vorschreiben, und du musst nicht mehr trotzig aufbegehren.

    Aber es ist auch kein gutes Wort mehr möglich.

    Lange Zeit war das Erwachen schwer. Ich bin dann auf die Terrasse gegangen und habe mich von der Morgensonne wärmen lassen, habe gedacht: Sterben ist leicht, es würde mir nichts ausmachen, wenn es plötzlich so weit wäre.

    Vor Schulbeginn bin ich oft in der Platanenallee auf und ab gegangen und habe halblaut ein Gedicht von Günter Eich hergesagt:

    Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

    Wie gut, dass sie am Sterben teilhaben!

    Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,

    während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.

    Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an.

    Er misst seinen Teil an Ewigkeit gelassen ab.

    Seine Strecken werden sichtbar im Blattwerk als dunkler

    Zwang,

    die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.

    Es heisst Geduld haben. Bald wird die Vogelschrift

    entsiegelt.

    Unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.

    Das Leben ging weiter. Wir hatten zwei gute Söhne. Wir hielten uns fest, mein Mann und ich. Es blieben uns noch dreissig Jahre Gemeinsamkeit. 1951-1970

    Der Freund im Haus hatte Krebs. Er war der erste Mensch, den ich offen von dieser Krankheit reden hörte. Er wusste, dass er in absehbarer Zeit sterben würde, und er liess nicht zu, dass wir ihn mitleidig trösten wollten.

    Einen Sommer und Herbst lang konnte er noch an seinem Platz am oberen Tischende sitzen, Freunde empfangen und – wie es seine Art war – heftig debattieren, über Politik und Gott und die Welt. Vor allem über Politik.

    Ein paar Wochen war er dann bettlägerig, hatte Schmerzen, wurde unwillig und duldete fast nur noch seine Frau um sich. Wir wurden gerufen, wenn es nötig war, seine Lage zu verändern. So schwer kann ein Mensch sein, auch wenn er nur noch aus Haut und Knochen besteht. Alle Hausbewohner zeigten Hilfsbereitschaft, einzelne leisteten auch gelegentlich Nachtwache.

    Im Dezember wurde ein Geburtstag gefeiert, einige Gäste sassen am Tisch, die Tür zum Krankenzimmer stand offen. Abwechslungsweise setzte sich jemand ans Bett des Sterbenden. Er war ruhig, seit Tagen schon. Ich achtete auf seine Atemzüge, die manchmal von kurzen Pausen unterbrochen wurden. Ich wusste nicht, was das bedeutete.

    Gegen Mitternacht verabschiedeten wir uns. Kaum lagen wir im Bett, hörte ich durch die Wand Unruhe im Nachbarhaus. Ich zögerte kurz, schlüpfte dann in den Morgenrock und ging wieder hinüber. Auf der Treppe begegnete ich dem Arzt. Werner ist gestorben, hörte ich.

    Da lag er nun, hohlwangig und weit weg. Seine grosse Nase stach aus dem eingefallenen Gesicht wie ein Mahnmal an uns Zurückgebliebene. Er hat uns gelehrt, mit Krankheit und Tod auf eine natürliche Art umzugehen. Er lehrte uns Offenheit, Toleranz, aber auch Unnachgiebigkeit. 1921-1986

    Die Freundin im Hausteil zur Linken ist vor zwei Jahren gestorben. Sie hat den plötzlichen Herztod ihres Mannes – er liegt gut ein Jahrzehnt zurück – nie ganz verkraftet. Solang die beiden Enkelkinder noch nicht im Schulalter waren und wöchentlich einen Tag zur Grossmutter gebracht wurden, hatte sie eine befriedigende Aufgabe. Und ihr Hund brauchte zweimal täglich richtig Auslauf. Bis sie dann das einzige brauchbare Auge durch eine zu spät behandelte Entzündung verlor. Sie konnte nur noch schwach sehen. Übers verlängerte Wochenende kamen der ältere Sohn oder die langjährige Freundin zur Betreuung, und die anderen Tage verbrachte sie in der Familie des jüngeren Sohnes.

    Olgi litt unter ihrer Abhängigkeit, wurde immer dünner und ihr Gesicht unter der breiten, hohen Stirn immer kleiner. Sie wünschte sich, eines Morgens nicht mehr aufzuwachen.

    Es braucht Mut, im Alter Hilfe anzunehmen, habe ich neulich gelesen. Werde ich daran denken?

    Komm bald zurück! hatte sie mich gebeten, als ich in die Ferien fuhr, ich brauche deine täglichen Kaffeebesuche. – Ich bin einen Tag zu spät heimgekommen.

    Mit einer Hausgenossin fuhr ich zum Aufbahrungsraum. Olgi sah sehr schön aus, die schweren Lider geschlossen, der Mund schmal, aber nicht verkniffen; sanft legte sich ein Haarkranz um die hohe Stirn.

    Auch sie hatte vorher alles zurechtgelegt, womit man sie einkleiden sollte. Rock und Bluse waren in heiteren Farbtönen aufeinander abgestimmt.

    Die Schwiegertochter hatte ihren Rosengarten geplündert und den Sarg rundum liebevoll geschmückt.

    Ich denke gern an dieses schöne Nachsommer-Bild zurück. 1930-2008

    Schön war auch meine Marie. Durch ein kleines Fenster am Kopfende des Sarges konnte man ihr Gesicht sehen. Sie, deren Gesicht seit langem von Alter, Krankheit und Sorgen gezeichnet war, hatte im Tod eine glatte Haut und silberweisses Haar. Sie strahlte Zufriedenheit aus.

    Marie, so hiess sie wirklich, war fast dreissig Jahre lang jeden Samstagmorgen meine Hilfe im Haushalt gewesen. Wenn sie nicht gerade auf Wallfahrt war, nach Italien zu Padre Pio, nach Altötting oder Einsiedeln. Und immer schickte sie eine Karte und hatte Wunderdinge zu erzählen. Sie war sehr gläubig und hatte gute Beziehungen zu ihren Heiligen. Wenn ich im Haus etwas verlegt hatte, betete sie insgeheim zum Antonius, und siehe da, ich wurde fündig. Und sie hatte viel Humor. Der und ihr Glaube halfen, das Leben neben einem sanften Trinker und mit einem labilen Sohn, für dessen feuchtes Studentenleben sie aufkommen musste, erträglich zu machen.

    Aber gegen den Krebs halfen keine Wallfahrten.

    Der Tod ist als Freund zu ihr gekommen und hat ihre Kummerfalten geglättet. Ihr Hunger nach Schönheit – im weitesten Sinn – war früher nie richtig gestillt worden. Jetzt war Marie schön. 1912-1984

    Ein Gesicht hat sich in meiner Erinnerung aufgelöst. Das Gesicht meines Vaters.

    Natürlich weiss ich noch, wie er lebend aussah, aber an den toten Vater erinnere ich mich nicht. Er wirkte sehr klein, sagte einer seiner Enkel.

    Er starb an einem Sonntagmorgen. Wir sind gleich hingegangen. Der Arzt war noch da. Die Nachbarin hatte mir Blumen mitgegeben aus ihrem Garten. Die habe ich aufs Bett gelegt, und dann sind wir lange am Fussende gestanden und haben versucht, die Mutter zu trösten.

    Ich spürte nur Leere. Mein Verhältnis zum Vater war seit meiner Kindheit zwiespältig gewesen. Er war ein gottesfürchtiger, gestrenger Vater, dessen Zorn sich vor allem über meine Brüder entlud. Ich entkam ihm durch Schläue und mit gespielter Bravheit.

    Für unsere Kinder war er jedoch der beste Grossvater. Seit ich alt bin, zolle ich ihm auf eine gewisse Weise Respekt. Er war ein ehrlicher Mensch. 1901-1990

    Ihre letzten Jahre verbrachte die Mutter in einem Pflegeheim. Sie war ihrer Lebtag darauf bedacht gewesen, schön auszu sehen. Die Pflegerinnen haben sie immer hübsch hergerichtet. Sie galt als Schmuckstück im Heim. An ihrem neunzigsten Geburtstag fragte mich die Begleiterin des Gemeinderats, der ein prächtiges Blumengebinde gebracht hatte: Sind sie die Schwester der Jubilarin?

    Ich musste leer schlucken.

    Sie überlebte ihren Mann um zwölf Jahre, fühlte sich ziemlich verloren ohne ihn, weil er ihr alles abgenommen hatte, so zum Beispiel staubsaugen, bügeln, die Küche sauber machen, lauter lästige Dinge des Alltags. Auch für ihn war sie ein Schmuckstück gewesen.

    Sie ist an einem frühen Sommermorgen still eingeschlafen. Mein Bruder und ich fuhren ins Heim und betrachteten lange unsere tote Mutter. Hübsch sah sie aus im weissen Hemd mit Spitzenkragen, die blondierten Löckchen um die Stirn drapiert, die Haut leicht getönt von liebevoller Hand. Eine gut aussehende Tote. Unglaublich. Bis zuletzt ist es ihr gelungen. 1908-2002

    Ich habe Wera immer wieder angerufen, weil ich sie besuchen wollte. In regelmässigen Abständen habe ich das getan. Sie war ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Sie hat mir Gedichte vorgelesen, Bücher empfohlen, über meine Texte gesprochen, mich zum Schreiben ermuntert. Sie kam aus dem Norden Deutschlands, war Schauspielerin und Regisseurin gewesen; ihre Sprache war makellos, ihre dunkle Stimme klangvoll.

    Wir haben zusammen Tee getrunken und Tortenstücke gegessen, die ich unterwegs gekauft hatte.

    Unsere Beziehung war etwas Besonderes. Es brauchte keine Worte. Wir waren Freundinnen, aber auch Lehrerin und Lernende.

    Bei meinem letzten Besuch war sie sehr müde, fror und blieb auf der warmen Ofenbank sitzen, während ich den Tee herrichtete. Sie hat mir noch eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen, doch ihre Stimme trug nicht mehr wie früher.

    Ich habe sie einige Tage später angerufen, aber niemand meldete sich. Ich war beunruhigt und versuchte reihum, ihre Söhne und Töchter zu erreichen. – Unsere Mutter ist heute in der Nacht gestorben, sagte der Älteste, wir mussten sie notfallmässig ins Spital bringen.

    Wir trafen uns alle im Aufbahrungsraum. Das war nicht Wera, die dort lag. Ihr dünnes Haar, das sonst sanft die Stirn bedeckt hatte, war straff nach hinten gekämmt, die Wangenknochen traten hervor, das Kinn war klein und spitz. Sie sah so streng aus, so fremd, und der Raum war so kalt, so unpersönlich. Ich musste zwischendurch ins Freie gehen und eine Zigarette rauchen. Wera hätte das erlaubt, sie war immer grosszügig zu mir gewesen.

    Es bleibt mir die Erinnerung an eine starke Frau, die ich vermisse. Und die Erinnerung an den Klang ihrer schönen Stimme. Ich habe sie noch im Ohr. 1923-2007

    Ich habe Mühe mit Menschen, die missionieren. Meine Schwägerin war eine bigotte Frau. Sie war nicht immer so. In jungen Jahren war sie fröhlich, unternehmungsfreudig, liebenswert und klug. Aber dann wurde sie durch Schicksalsschläge von einer religiösen Gemeinschaft in die andere getrieben. Sie war stets auf der Suche nach dem Heil, und wenn sie wieder mal glaubte, auf dem richtigen Weg zu sein, wollte sie uns auch dahin bringen. Oft habe ich sie mit harten Worten abgewiesen. Das bedaure ich heute. Ich war so wenig tolerant wie sie.

    Wochen vor ihrem Tod sind wir heftig aneinander geraten. Sie wollte mir verbieten, ihre Kinder, mit denen sie kaum mehr Kontakt hatte, von ihrem Ableben Bescheid zu geben. Gott will es so! Laut schrie sie diese Worte.

    Dein Gott ist kein Gott der Liebe, er ist ein alttestamentarischer Gott, ein strafender Gott! schrie ich zurück. Sie lachte hysterisch. Aber du bist ein Gottesgeschenk, rief sie mir nach.

    Sie wurde bettlägerig und wehrte sich gegen Hilfeleistungen der Pflegerinnen.

    Ich schaute jeden Tag kurz in ihr Zimmer. Wenn sie schlief, zog ich mich wieder zurück. Einmal klagte sie: Ich möchte endlich sterben, ich möchte zum Herrn Jesus. Du kannst erst sterben, wenn deine Zeit um ist, sagte ich. Das hat der Doktor auch gesagt, sagte sie und schloss die Augen.

    Sie wurde ruhig. Ihre Kräfte schwanden. Bei meinem letzten Besuch legte ich ihr die Hand auf die Stirn und sagte: Es ist bald vorbei. Danke, sagte sie. In der Nacht darauf starb sie.

    Sie sah majestätisch aus, ein wenig hart, aber ehrfurchtgebietend.

    Ruhe in Frieden, Ruth, wo immer du jetzt bist. 1918-2008

    Zusammen mit seiner Frau und Tochter habe ich Felix im Aufbahrungsraum besucht. Wir standen hinter Glas und blickten auf den Sarg, der in einer Vertiefung und in einigem Abstand von uns war. Ich hätte Felix an jenem Morgen nochmals im Hospiz besuchen wollen, aber am Vorabend ist er bei Sonnenuntergang friedlich eingeschlafen.

    Er war ein Schüler meines Mannes gewesen, und nach dessen Tod hat er Kontakt mit mir gesucht. Es entstand eine schöne Freundschaft mit seiner Familie. Zwar spürte ich mit Befremden eine respektvolle Distanz zwischen den Eheleuten, über deren Ursache ich erst nach dem Tod von Felix einiges erfuhr. Was mir aber bald bewusst wurde, war, dass er eine unnatürlich starke Mutterbindung hatte. Noch auf dem Sterbebett sagte er zu mir: Ich habe meinen Geschwistern geschrieben und den Geburtstag meiner Mutter organisiert.

    Seine Frau sagte einmal zu mir: Du bist seine mütterliche Freundin, von dir nimmt er alles an. War ich seine Zweitmutter?

    Zehn Jahre hat er gegen den Krebs gekämpft, ist immer wieder auf die Beine gekommen, hat mit Freunden Reisen und lange Wanderungen gemacht und nie über sein Leiden gesprochen. Er schien alles im Griff zu haben. Erst im Hospiz brach Panik aus. Zweimal hat er mich heulend angerufen, und einmal hat er sich auch bei eisiger Kälte davon gemacht und musste von Tochter und Pfleger gewaltsam zurückgebracht werden. Es war ein letztes Aufbäumen gegen den Tod gewesen, bevor er ihn annehmen konnte.

    Ich starrte durchs Glas auf den toten Freund. Er trug einen feinen Anzug, Hemd und Fliege. So kannte ich ihn nicht. Ich kannte ihn mit Wollmütze und offenem Regenmantel über Pullover und Cordhose. Sein Gesicht war zu weit weg, ich konnte den Ausdruck nicht erkennen. Mein Blick blieb an den Händen hangen, die ich zu Lebzeiten nie beachtet hatte. Gedrungene Hände mit kräftigen Fingern. Oft hatte er damit seine Mutter gestreichelt, wenn er sie im Pflegeheim besuchte. Und mit diesen Händen hat er seine Frau und das Pflegepersonal anfänglich weggestossen, weil er nicht mehr zu Hause gepflegt werden konnte. Erst in den letzten Tagen ist Frieden über ihn gekommen. Das hätte ich gern in seinem Gesicht gesehen. 1944-2010

    Man sollte nicht so alt werden, klagte Ge Gi.

    Das darfst du nicht sagen. Du bist bis vor zwei Jahren immer gesund gewesen. Du hast gelebt, wie es deinen Vorstellungen entsprach, hier auf dem Kappenhügel, weit ab vom Lärm der Zivilisation, mitten in der Natur, du hast im Garten gearbeitet, Gedichte geschrieben, gelesen, gezeichnet, dich nie um Überflüssiges gekümmert. Du warst ein ausgezeichneter Lehrer. Du hast eine wunderbare, kluge Frau, die dich und deine Lebensweise verstanden und mitgemacht hat. Ich kenne keinen Menschen, der so unabhängig leben konnte.

    Ge Gi hatte mir aufmerksam zugehört, dann nickte er: Es ist, wie du sagst, aber jetzt ist es nicht mehr schön, ich möchte endlich sterben. Ich weiss, sagte ich, du wirst vierundneunzig, bist altersschwach und auf Hilfe angewiesen. Aber deine Frau ist immer noch da und hilft bei der Pflege.

    Es war nicht immer gut gewesen in Ge Gis Leben. Sehr jung hat er die falsche, viel ältere Frau geheiratet. Sie hätte seine Mutter sein können und hat ihn mit ihrer ständigen Eifersucht kujoniert. Er hat jahrelang unter dieser Fessel gelitten. Als sie dann endlich starb – das sage ich –, durfte er die Frau heiraten, mit der er seine zweite Lebenshälfte in schönster Eintracht verbringen konnte.

    Ida ist jetzt zweiundneunzig und müde nach der langen Krankheitszeit ihres Mannes. Aber sie ist nicht verzweifelt. Gute Erinnerungen, Bücher und Freunde helfen ihr in den Stunden der Einsamkeit. Als ihr Mann starb, lag sie neben ihm und streichelte ihn sanft, bis sein Atem still stand.

    Wir sassen anderntags bei ihr im hellen Raum, wo Ge Gi aufgebahrt war. Sein Gesicht war eingefallen, die geschlossenen Augen tief eingesunken, die krankhaften Hautflecken waren der Totenblässe gewichen. Ein guter Freund hat ihm drei weisse Rosen in die Hände gelegt. Der Anblick des Toten erschreckte mich nicht, es waren immer noch die markanten Züge des Lebenden erkennbar.

    Wir sassen lange

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