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Mein Ende des tausendjährigen Reiches: 1945 - Das Jahr meiner vier Leben
Mein Ende des tausendjährigen Reiches: 1945 - Das Jahr meiner vier Leben
Mein Ende des tausendjährigen Reiches: 1945 - Das Jahr meiner vier Leben
eBook338 Seiten4 Stunden

Mein Ende des tausendjährigen Reiches: 1945 - Das Jahr meiner vier Leben

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Über dieses E-Book

Das Jahr 1945 war eines der bewegendsten und bewegtesten Jahre in der Menschheitsgeschichte der Neuzeit. Es war unvorstellbar, welche Schicksale sich in dieser Zeit abspielten.
Viele Menschen konnten damit nicht fertig werden und gaben ihr Leben – häufig sinnlos – freiwillig auf, weil sie der Meinung waren, nicht mehr weiterleben zu können.
Unglaublich war aber auch, wie viele Menschen sich trotz allem den Mut und die Hoffnung im Glauben an eine neue, bessere Zukunft bewahrten und dafür lebten.
Ein jeder hatte sein eigenes, schweres Schicksal zu tragen und versuchte, damit auf seine eigene Art fertig zu werden.
Mit mir meinte es das Schicksal noch verhältnismäßig gut. In meiner Erinnerung teilte ich dieses Jahr in vier Lebensabschnitte oder Leben, von denen jedes sich in
einer Jahreszeit abgespielt hat. Jeder dieser Abschnitte hätte auch der Letzte sein können. Aber das Leben und die Liebe zu meiner Heimat trieben mich immer wieder weiter, getreu dem Spruch „Immer, wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her...“.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. Okt. 2014
ISBN9783735752642
Mein Ende des tausendjährigen Reiches: 1945 - Das Jahr meiner vier Leben

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    Buchvorschau

    Mein Ende des tausendjährigen Reiches - Amand Nowak

    entspringt

    Mein 1. Leben: Troppau / Ostsudetenland – Deutschlands letzte Hoffnung

    Das Jahr 1945 war eines der bewegendsten und bewegtesten Jahre in der Menschheitsgeschichte der Neuzeit.

    Für Millionen Menschen in der ganzen Welt brachte es das Aus ihres Lebens, weitere Millionen erlitten Verstümmelungen und Behinderungen für den Rest ihres Lebens, Millionen verloren Hab und Gut, weitere Millionen verloren ihre Heimat und litten Not an Leib und Seele. Es war unvorstellbar, welche Schicksale sich in dieser Zeit abspielten, wie viele Menschen damit nicht fertig werden konnten und ihr Leben häufig sinnlos freiwillig aufgaben, weil sie der Meinung waren, nicht mehr weiterleben zu können.

    Unglaublich war aber auch, wie viele Menschen sich trotz allem den Mut und die Hoffnung im Glauben an eine neue, bessere Zukunft bewahrten und dafür lebten. Ein jeder hatte sein eigenes, schweres Schicksal zu tragen und versuchte, damit auf seine eigene Art fertig zu werden.

    Mit mir meinte es das Schicksal im Gegensatz zu vielen unzähligen anderen noch verhältnismäßig gut. In meiner Erinnerung teilte ich dieses Jahr in vier Lebensabschnitte oder Leben, von denen jedes sich in einer Jahreszeit, wenn auch kalendermäßig nicht ganz exakt, abgespielt hat.

    Ein jeder dieser Abschnitte hätte auch der Letzte sein können, aber das Leben trieb mich immer wieder weiter, getreu dem Spruch „Immer, wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her...".

    Kernpunkt meiner Lebenserinnerungen 1945 war vor allem die Zeit meiner persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft, die ich in fünf verschiedenen Gefangenenlagern innerhalb Westdeutschlands durchlitten habe. Ich war dazu sehr detailgenau in der Lage, weil ich in meiner Heimatstadt Troppau (Ostsudetenland) heute wieder OPAVA (Tschechien), Ende 1944 in der damaligen Winterhilfswerklotterie einen Bargeldbetrag von 500 Reichsmark (entsprach einem halben VW-Käfer) gewonnen hatte. Da ich erst 16 Jahre alt war, hat meine Mutter diesen Gewinn auf ein Konto bei der Städtischen Sparkasse in Troppau überwiesen. Die Sparkasse hat mir daraufhin zum Jahreswechsel 1944/45 einen kleinen Taschenkalender geschenkt, der mich 1945 durch alle Kriegswirren begleitet hatte und den ich auch heute – nach 67 Jahren – noch besitze.

    Leider sind die winzigen Bleistifteintragungen auf dem vergilbten Papier kaum noch leserlich, aber damals waren sie mir sehr hilfreich. Das dazugehörende Sparbuch wurde meiner Mutter 1946 bei ihrer Ausweisung aus der damaligen Tschechoslowakei von einem tschechischen Grenzbeamten gewaltsam entwendet. In diesen Kalender habe ich dann nach 1945 stichwortartig meine Erlebnisse, vor allem in der Kriegsgefangenschaft, vermerkt. Auf diese Weise konnte ich authentisch den Verlauf der Ereignisse in Tagesbuchform niederschreiben und aus meiner Erinnerung fast 60 Jahre danach ergänzen.

    Zunächst mein Überblick über die Vorgeschichte zum Jahresanfang 1945, bis zur Kriegsgefangenschaft

    Ab September 1944 wechselte ich nach einer bestandenen Aufnahmeprüfung aus der Realschule in Troppau auf die Staatsgewerbeschule (Staatliche Ingenieurschule) nach Mährisch-Schönberg, einer kleinen Kreisstadt im Ostsudetenland/Altvatergebirge. Diese Schule war noch ein Relikt aus der alten k.u.k. Österreich-Ungarischen Republik, zu der das Ostsudetenland vor 1918 als Landesteil Österreich-Schlesiens gehörte.

    Im gesamten Sudetenland gab es noch drei dieser Schulen, die nach 8 Semestern (4 Jahren) einen Ingenieurabschluss ermöglichten und deren Absolventen dann, nach einem anschließenden einjährigen Berufspraktikum, die Berufsbezeichnung Ingenieur führen durften. In Mährisch-Schönberg lebte ich bei einer Gastfamilie in Pension und fuhr alle vier Wochen zu meiner Mutter nach Troppau. Nach meinem 16. Lebensjahr wurde ich für den Militärdienst gemustert, blieb aber bis auf einen vierwöchigen Besuch der Heeres-Nachrichtenschule in Halle an der Saale, wo ich die Nachrichtenscheine A-C Funk erwarb, vorläufig unbehelligt.

    Nebenbei hatte ich in dieser Zeit meine ersten Feuertaufen bei Bomberangriffen zu überstehen. Weitere Ausnahme war dann noch vor dem Winterbeginn die erste Einladung zur vormilitärischen Ausbildung in einem Wehrertüchtigungslager. Diese „Einladung" war eher ein Marschbefehl.

    Ein kurz vor Weihnachten 1944 erlebtes Ereignis möchte ich wegen seiner Kuriosität nicht unerwähnt lassen: Der Sohn meiner damaligen Wirtsleute kam vor Weihnachten, nach einer leichten Verwundung zu seinen Eltern auf Genesungsurlaub nach Hause und brachte seine erste Freundin mit, die auf der Flucht aus Rumänien war und die er im Lazarett kennen gelernt hatte. Sie war eine freundliche, aber sehr schüchterne Frau deutscher Abstammung, die aber nur sehr gebrochen Deutsch sprechen konnte. Trotzdem waren die alten Leute sehr glücklich über das unverhoffte Wiedersehen und über die Neuerwerbung ihres Sohnes, der aber schon vor Weihnachten wieder zurück zu seiner Einheit musste. Es wurde deshalb beschlossen, noch vor unserer Abreise in die Ferien ein Vorweihnachtsfest zu feiern, zu dem sie uns beide noch verbliebenen Kostgänger – ein Dritter war wenige Tage zuvor bereits zum Militär eingezogen worden – mit eingeladen hatten.

    So wurde schon einige Tage früher als geplant die sorgsam gehütete und gepflegte Weihnachtsgans geschlachtet und zubereitet. Es war, ungewöhnlich für die damalige Zeit, ein Tag wie im Paradies, einer von den Tagen, die man nie vergessen kann. Wir saßen in unbeschwerter froher Runde beisammen und hatten den meisten Spaß, wegen unserer kleinen Verständigungsprobleme und den Sinn verdrehenden Erklärungen der jungen Frau. Dabei vergaßen wir die ganze Welt um uns und alles, was uns bevorsteht.

    Es zählte nur der Augenblick. Ausgehungert wie wir waren, verschlangen wir nach einer, schon für sich alleine für ein normales Essen ausreichenden Geflügelbrühe, die knusprig gebratenen und gefüllten Gänseteile mit herrlich zartem Rotkraut und mit lockeren Semmelknödeln, ganz zu schweigen von der üppigen Soße. Und das ging so lange gut, bis ich den Weg zur Toilette antreten musste, die sich außerhalb des Wohngebäudes im Hof befand. Schon beim Aufstehen vom Tisch verspürte ich heftige Magenkrämpfe und konnte mich nur in gekrümmter Haltung und mit Unterstützung meines Zimmerkollegen zum stillen Örtchen schleppen. Es ging mir tatsächlich so schlecht, wie noch selten in meinem seitherigen Leben. Wegen Verdacht auf Blindarmentzündung musste ein Arzt zur Hilfe gerufen werden. Seine Diagnose lautete: Wegen zu starker ungewohnter Belastung des total entwöhnten Magens, auf Deutsch, „Überfressen". Immerhin dauerte die Nachbehandlung mit Tee und Zwieback sowie einem zusätzlichen Medikament die noch verfügbaren zwei Tage bis zu meiner planmäßigen Heimreise nach Troppau, die ich dann überstürzt und noch immer ziemlich mitgenommen antreten konnte.

    Außer bei meinen Wirtsleuten, konnte ich mich weder in der Schule, noch bei der Nachrichtentruppe in der Kaserne und auch nicht bei der Hitlerjugend abmelden. Aber ich wollte ja wieder zurückkommen. Jetzt wollte ich nur nach Hause und selbst die Busfahrt im fast leeren Bus nach Troppau war auf der kurvenreichen Strecke kein reines Vergnügen. Ich schämte mich noch immer wegen meines unbeherrschten Verhaltens bei diesem vorweihnachtlichen Festgelage, das meine Tischgenossen besser vertragen hatten. Auf Gänsebraten habe ich dann in den folgenden Jahren aus verschiedenen Gründen verzichtet.

    In Troppau angekommen, erkannte ich die Stadt kaum wieder. In den vier Wochen seit meinem letzten Besuch, Ende November, hatte sich so gut wie alles verändert. Einige Geschäfte hatten ganz geschlossen, weil sie im Angebot keine Waren mehr hatten und wo es noch etwas gab, standen endlose Schlangen von Wartenden vor den Türen. Wegen dem starken Zustrom der in der Stadt zeitweise verweilenden Ostflüchtlinge funktionierte die Versorgung der Bevölkerung selbst mit den Grundnahrungsmitteln nicht mehr. Stellenweise musste die Wehrmacht mit einfachen Eintopfgerichten aus den sogenannten Gulaschkanonen aushelfen, die kostenlos und ohne Verpflegungsmarken ausgeteilt wurden. In den Straßen der Innenstadt waren fast ausschließlich Armeefahrzeuge unterwegs. Dazu kamen die vielen Planwagen mit Pferdegespannen und private Lastfahrzeuge der vor den russischen Kampfverbänden flüchtenden Menschen aus dem Osten, die ich auf der Herfahrt schon vom Bus aus sehen konnte und die das Stadtbild zusätzlich belebten. Das waren meine ersten Eindrücke auf dem Weg zu meinem Elternhaus, vor dem ich erst einmal besorgt Ausschau hielt, ob es überhaupt noch unbeschadet da stand.

    Das war natürlich unbegründet, denn in der Innenstadt gab es zwar ein erhebliches Chaos, aber noch keine nennenswerten Zerstörungen. Die Straßen waren in der früh einbrechenden Dunkelheit des Abends unbeleuchtet und von der aus dem vergangenen Jahr noch vorhandenen sparsamen Weihnachtsdekoration der Geschäfte war nichts mehr zu sehen. Auch aus den Häusern drang kein Lichtschein auf die Straßen, aber das war erzwungen, denn die totale Verdunkelung wurde im Interesse aller, strikt eingehalten. Das siebente Kriegsweihnachtsfest stand uns bevor und es verhieß allen nichts Gutes.

    Auf der anderen Seite unserer Grenze, im Osten, lauerte der „gewaltige übermächtige russische Bär" auf seine Chance zum Angriff. Diese bestand in einer weiteren russischen Armee, die in einer Zangenbewegung aus dem Südosten über die Balkanstaaten Bulgarien, Rumänien und Ungarn in die Slowakei eindringen sollte und von dort aus Österreich, Südmähren und Böhmen bedrohte, wobei in letzteren Landesteilen kein Widerstand der einheimischen Bevölkerung (überwiegend Tschechen) zu erwarten war. Von dieser bedrohlichen Situation gab es in den deutschen täglichen Kriegs- und Frontberichten keine Hinweise.

    Meine Mutter hatte ihren Arbeitsplatz in einem Milch verarbeitendem Betrieb, der wegen Rohstoffmangel geschlossen werden musste, verloren. Sie war fest entschlossen ihr Haus und die Stadt nicht zu verlassen, obwohl es immer häufiger Angriffe russischer Jagdflugzeuge gab. Diese waren vor allem gegen die Flüchtlingstrecks gerichtet, die sich schutzlos durch die Straßen der Stadt bewegten.

    Troppau war inzwischen erste Etappe hinter der Frontlinie im Osten und Sitz eines Armeekommandos. Die auf dem Rückzug versprengten deutschen Soldaten wurden zu neuen Einheiten zusammengefasst und in Verteidigungsstellungen auf der schlesischen Seite unserer alten Staatsgrenze neu formiert. Nur fehlte der Nachschub an Waffen und Munition sowie ausreichender Treibstoff, denn das meiste wurde ein Opfer der inzwischen alles beherrschenden angloamerikanischen Bombergeschwader und Jagdbomber. Auch davon gab es keine offiziellen Berichterstattungen von deutscher Seite.

    Tatsächlich kam kurz vor Weihnachten 1944 ein großer Transport der neuen deutschen Wunderwaffe, dem „Königstiger-Panzer", auf der Anfahrt zur Front durch unsere Stadt. Mein Freund Gerhard Fischer, der ebenso wie ich die Ingenieurschule in Mährisch-Schönberg besuchte, wurde von seinem Vater, welcher Redakteur der Troppauer Zeitung war, informiert. So standen wir beide gemeinsam auf der Hauptstraße mit einigen anderen Schaulustigen Spalier und staunten über die gewaltigen Kriegsmonster, die zur Minimierung von Straßenschäden, aber auch wegen Treibstoffmangel auf Lafetten durch die Stadt gezogen werden mussten. Der Anblick dieser monströsen Kolosse war für uns ein überwältigendes Schauspiel. Von Gerhard habe ich dann noch erfahren, dass er für Mitte Januar bereits eine Einberufung nach Schlesien zum Reichsarbeitsdienst hatte und im Anschluss daran zur Kriegsmarine nach Norddeutschland sollte.

    Das war auch sein erklärtes Wunschziel. Nach seinen Informationen war unser gemeinsamer Schulfreund Herbert Deutsch bereits im Arbeitsdienst im Einsatz. Das waren für viele Jahre die letzten Lebenszeichen von meinen allerbesten treuen Freunden.

    In der Stadt waren angesichts der frontnahen Lage schon einige Zeit vor Weihnachten alle Schulen, Kindergärten und Turnhallen geschlossen und zu Durchgangs- und Auffanglagern, Notlazaretts und militärischen Materialdepots umfunktioniert. Die Feiertage verliefen in einer eigenartigen Stimmung, im wahrsten Sinne wie in einer Ruhe vor dem Sturm. Die Kirchen waren noch voller als in den Jahren zuvor und in den Kinos, die in der Zwischenzeit nicht mehr beheizt werden konnten und deshalb in Winterkleidung aufgesucht werden mussten, liefen die alten Filme wie in den besten Tagen. Illusion pur, für zwei Stunden des Vergessens, wenn man nicht gerade durch einen Fliegeralarm aus allen Träumen gerissen wurde und in einem Luftschutzkeller landete. Das Stadttheater war zu meinem größten Leidwesen wegen Brennstoffmangel geschlossen, aber auch weil alle jüngeren männlichen Künstler inzwischen selbst im Kriegsdienst waren. Ihre verhältnismäßig lange Schonzeit war abgelaufen. In der Mitte des zweiten Weihnachtsfeiertages gab es einen schrecklichen Luftüberfall russischer Jagdflugzeuge auf Troppau, die ohne Voralarm zum ersten Mal im Tiefflug über die südliche Innenstadt brausten und in einem verheerenden Angriff einen besonders langen Flüchtlingstreck überfielen. Dabei gab es zahlreiche tote und verletzte Frauen, Kinder und Greise, aber auch Tiere. Die in dieser Jahreszeit entlaubten Alleebäume boten nicht den geringsten Sichtschutz. Es war einfach fürchterlich.

    Spätestens nach diesem schrecklichen Ereignis war wohl auch dem letzten Bürger unserer Stadt klar bewusst, wie gefährlich und explosiv die Lage war, in welcher wir uns befanden. Da gab es keinen Unterschied, ob man Tscheche oder Deutscher gewesen ist. Trotzdem brach deswegen noch lange keine Panik aus. Die meisten Menschen verhielten sich diszipliniert und verrichteten rein mechanisch ihr Tagewerk, das hauptsächlich aus Anstellen und Warten bestand. Dabei wurden in den Warteschlangen die wildesten Parolen verbreitet, immer unter dem Motto: Achtung, Feind hört mit. Aber es war nicht der äußere, sondern der innere Feind, der neben dir in der Schlange stand. Es konnte der Nachbar, ein Spitzel oder ein Denunziant sein und das verschlimmerte die Lage bis zur Unerträglichkeit. Viele von denen, die eine Möglichkeit hatten, begannen die Stadt zu verlassen. Unter ihnen befanden sich auch mein Vater und seine Frau, die sich in Richtung Norden ohne Angabe eines Zieles absetzten.

    Die folgenden Tage bis zum Jahreswechsel verliefen trotz reger Militärbewegungen in Richtung Osten ziemlich ruhig. Die Russen vergönnten sich eine Verschnaufpause und unsere Heeresführung hatte Gelegenheit eine stärkere Verteidigungslinie aus neu formierten Einheiten, zu denen auch der im Schnellverfahren aufgestellte und mobilisierte „Volkssturm" gehörte, aufzubauen.

    Zu meinen beiden Freunden Gerhard und Herbert hatte ich keinen Kontakt mehr, so wanderte ich ziellos durch die Stadt, besuchte den Friedhof mit den frischen Massengräbern, sammelte Nachrichten ein, die ich meiner Mutter übermittelte und begann in einem Zukunftsroman zu schmökern, den ich in einem Altpapierstapel auf meiner Pirsch aufgestöbert hatte.

    Mein Vater hat mich vor seiner Abreise noch mit dem Kost- und Taschengeld für den Monat Januar ausgestattet, so als hätte er schon gewusst, dass wir uns sobald nicht wieder sehen würden.

    Am Neujahrstag 1945 fuhr ich nicht mit der Bahn, sondern zum ersten Mal mit dem fahrplanmäßigen Linienbus in Richtung Mährisch-Schönberg, denn die Zugfahrpläne waren wegen der Truppentransporte, beschädigten Bahnanlagen, defekten Lokomotiven und Waggons doch schon ziemlich unzuverlässig. Das waren meine Informationen, welche ich mir bei der Reichsbahn eingeholt hatte. Teilweise sind auf meiner Strecke Troppau-Neisse schon Zugverbindungen ganz ausgefallen und die Strecke in Hauptrichtung Breslau, die ich in einem Teilabschnitt bis Ziegenhals fahren musste, war mir ohnehin nach einer schlimmen Bombennacht in Ziegenhals nicht mehr ganz geheuer. Die Busse in Richtung Westen durch das Altvatergebirge fuhren dagegen, wenn nicht gerade Fliegeralarm war, immerhin noch ziemlich pünktlich und regelmäßig, während für die West-Ost-Richtung in Troppau bereits Endstation war. Dies alles musste vor Fahrtantritt noch berücksichtigt werden.

    Die Fahrt verlief erstaunlich reibungslos, allerdings hat es mich schon gewundert, dass mein Bus fast leer war und auch unterwegs kein Bekannter aus Mährisch-Schönberg zugestiegen ist. Der Grund für diese Enthaltsamkeit der Passagiere war mir bald nach meiner Ankunft in Mährisch-Schönberg klar. Die Schule ist in den Weihnachtsferien neu belegt worden. Am folgenden Morgen hatte ich dann die Erklärung schwarz auf weiß an der Eingangstür. „Die Schule ist wegen Fremdbelegung vorübergehend geschlossen", lautete der Hinweis, von dem ich bis dahin nichts erfahren hatte.

    Deswegen waren die Busse fast leer.

    Das Rektorat war von der Lagerleitung belegt, der Schulhof und die Straße waren mit Planwagen zugestellt, im Haus war ein chaotisches Durcheinander von alten Menschen und schreienden Kindern und der alte Hausmeister wusste nicht mehr, als auf dem Schild an der Eingangstür stand.

    Diese ganze Atmosphäre machte auf mich einen bedrückenden Eindruck und ich ging zur nahegelegenen Kaserne, um mit meinem vorgesetzten Nachrichtenoffizier zu sprechen, dem ich nach meiner Rückkehr als Helfer bei der Ausbildung von Nachrichten-Helferinnen unterstellt war. Ich durfte die Funk-, und Fernsprechgeräte auf- und abbauen und Wartungsarbeiten ausführen. Aber auch in der Kaserne herrschte ein hektisches Durcheinander, eine Art Aufbruchsstimmung. Als ich nach langem Suchen dann endlich meinen Dienstvorgesetzten traf, konnte auch er mir nur sagen, dass das gesamte Bataillon mit unbekanntem Ziel versetzt wird. Für meine weitere Verwendung ist ab sofort wieder die Bann-Dienststelle der Hitlerjugend zuständig, die mich vorübergehend für den Nachrichtendienst freigestellt hatte. Er gab mir noch den Rat, wieder nach Troppau zurückzufahren und dort die weitere Entwicklung abzuwarten. Das war dann doch eine konkrete Auskunft. Bei meiner Tour von einer Dienststelle zur anderen hatte ich dann vergessen, mich auch polizeilich und beim zuständigen Wehrbezirkskommando abzumelden, was noch Folgen haben sollte.

    Plötzlich hatte ich es nicht mehr so eilig und genehmigte mir noch einen weiteren Aufenthaltstag in Mährisch-Schönberg. Meine guten Gastgeber bat ich, für mich bis zum Wiederkommen eine Schlafstelle frei zu halten. Das viele Abschiednehmen machte mich langsam mürbe. Die alten Wirtsleute mussten nicht ganz alleine zurück bleiben, obwohl neben uns drei Untermietern auch ihr Sohn wieder zu seiner Einheit in den Osten zurückkehren musste. Er hat seinen Eltern zur Obhut und Unterstützung seine Freundin hinterlassen. Was aus allen diesen guten Menschen geworden ist, habe ich nie erfahren können.

    Der Abschied von Mährisch-Schönberg ist mir nicht allzu schwer gefallen, denn ich hatte mich in dieser Stadt trotz ihrer reizvollen Lage nie so richtig angefreundet. Sie ist mir immer fremd geblieben. Der Unterschied zu meiner vielseitigen Heimatstadt Troppau mit ihrem lebhaften Treiben und den reichhaltigen kulturellen Angeboten war für mich viel zu groß.

    Am 4. Januar 1945 in Troppau wieder angekommen, wusste ich zunächst mit meiner vermeintlich neuen Freiheit ohne Verpflichtungen nichts anzufangen und nervte erst einmal meine Mutter. Das Leben in der Stadt hatte sich in eigenartiger Weise zunächst wieder etwas beruhigt. Ich verkroch mich hinter meinen Büchern und verordnete mir selbst einen Hausarrest. Manches Mal stieg ich nach dem Einbruch der Dunkelheit auf unser Dach, beobachtete im Osten den abwechselnd feuerroten bis goldgelb aufblitzenden Nachthimmel und hörte noch aus weiter Ferne das Donnergrollen des Kriegslärms, der aber zum Glück noch nicht näher kam. Die Front war ca. 30 km vor der Stadt.

    Am 12. Januar 1945 begann an der gesamten Ostfront die große Offensive der Russen.

    Schlagartig wurde es auch in Troppau wieder unruhiger. Die schon üblichen, täglichen Luftalarme blieben noch ohne nennenswerte Auswirkungen, die Truppenbewegungen wurden immer lebhafter und nervöser. Der Flüchtlingsstrom nahm wieder zu und wurde durch die Stadt in Richtung Westen, also Altvater- und Riesengebirge, ohne Aufenthalt, durchgeleitet. Die Lage an der bisher kaum näher kommenden Frontlinie wirkte auf mich allerdings nicht gerade beruhigend und die immer noch positiven Frontberichte waren für mich ein sicheres Zeichen dafür, dass es allmählich abwärts geht. Ganz nach dem Motto: „Vorwärts Kameraden, es geht zurück". Die Städtenamen der Schlachtfelder klangen immer vertrauter. Am meisten beunruhigte es mich aber, dass ich noch keine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst erhalten hatte, nachdem die meisten meiner Altersgenossen schon eingezogen waren.

    In meiner nun folgenden Berichterstattung muss ich noch erwähnen, dass meine Mutter einen Untermieter namens Enenkel in Kost und Quartier beherbergte, der schon vor dem Tod meiner Großmutter bei uns wohnte und in der nahegelegenen Innenstadt einen kleinen Zeitungskiosk mit Tabakhandel betrieb. Für mich war er einfach der Enenkel, zuständig für alles, Lehrmeister und später beliebtes Opfer im Schachspiel, manchmal ein bisschen Vaterersatz, mit einem versteckten Hang zum Kommunismus. Zwischen uns beiden herrschte so eine Art Hassliebe. Dieser Enenkel wollte, als die militärische Lage in und um Troppau immer brenzliger zu werden drohte, meiner Mutter schmackhaft machen, mit ihm zusammen die Stadt in Richtung Westen zu verlassen, obwohl er der Meinung war, von den Russen nichts befürchten zu müssen. Davon wollte meine Mutter allerdings gar nichts wissen. Sie wollte in Troppau bleiben und wenn es sein sollte, auch sterben. Enenkel wurde von meiner Mutter so abgeschmettert, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Irgendwie hat mir dieses Verhalten meiner Mutter imponiert, aber ich wollte weder vom Tod meiner Mutter etwas hören, noch an meinen eigenen Tod denken, obwohl ich inzwischen schon selbst miterleben musste wie schnell der Tod im Krieg zuschlagen kann. Ich dachte mehr an Verteidigung und wie ich mich daran beteiligen könnte. Solange der Staat mich nicht rief, hatte ich keine Möglichkeit dazu und befürchtete schon, dass er mich vergessen hat.

    Es muss Mitte Januar gewesen sein, als ich mich beim Meldeamt der Stadt als Rückkehrer aus Mährisch-Schönberg meldete und damit wieder offizieller Troppauer Bürger wurde. Vorsorglich hatte ich vermieden anzugeben, dass ich mich bereits sei zwei Wochen in der Stadt herumgetrieben hatte. Ich wurde danach aber auch nicht befragt. Inzwischen war in der Jahnturnhalle, in der Nähe meines Elternhauses in der sich auch das Wehrbezirkskommando befand, eine Erfassungsstelle für den Volkssturm eingerichtet worden. Die russischen Truppen wurden zu dieser Zeit an der Oder, etwa einen zweitägigen Fußmarsch entfernt festgehalten. Hier war auf deutscher Seite eine starke Verteidigungsarmee zur Abwehr eines Angriffs aufgestellt, die unter Mitwirkung einer für die Angreifer ungünstigen Wetterlage noch dem Druck der sowjetischen Truppen standhielt. Die regulären Militäreinheiten des deutschen Heeres wurden durch die in aller Eile gebildeten Volkssturmeinheiten verstärkt. Dazu kamen dann auch noch versprengte Truppeneinheiten. Im Volkssturm wurden überwiegend Angehörige der Jahrgänge 1928/29 erfasst, die für keine Sondereinheiten der Luftwaffe, Marine, Panzer, Nachrichten- und Sanitätseinheiten infrage kamen. Dazu kamen leicht verletzte Soldaten als Ausbildungs- und Führungskräfte sowie einige bis dahin vom Kriegsdienst freigestellte Arbeitskräfte aus kriegswichtigen Betrieben, die in den wenigen bis dahin noch nicht zerstörten Betrieben durch Frauen ersetzt wurden. Da die meisten dieser Kandidaten in Wehrertüchtigungslagern bereits vormilitärisch ausgebildet waren, wurden sie nur noch in mehrtägigen Schnellkursen an scharfen Waffen gedrillt und hoffnungslos unerfahren, direkt in den Kampf gehetzt. Im Volksmund auch „Kanonenfutter" genannt.

    Nachdem ich trotz meiner Rückmeldung noch immer keine Einberufung hatte, wurde ich gegen Ende des Monats Januar immer unruhiger und bekam meine Unruhe nicht mehr in den Griff.

    Auch meine Mutter, die sich wohl aus anderen Gründen ihre Sorgen um mich machte, konnte mich nicht mehr beruhigen. Immer öfter stieg ich des Abends auf das Dach unseres Wohnhauses. Das Donnergrollen wurde von Zeit zu Zeit immer vernehmbarer und die Blitze immer häufiger.

    Inzwischen ist in unserem Frontabschnitt auch das Geschwader der Sturzkampfbomber (STUKAS), die speziell in der Panzerbekämpfung aus der Luft gefürchtet und erfolgreich waren, eingetroffen.

    Geschwaderkommandant Rudel war mit den allerhöchsten Kriegsorden dekoriert, ebenso wie sein Kollege von den Jagdfliegern, Moelders. Der Feuerschein des Kampfes erinnerte mich an meine Zeit in Halle, als auch hier der Abendhimmel feuerrot aufleuchtete und in mir eine dumpfe Ahnung von Tod, Schrecken und Verderben der hilflosen Zivilbevölkerung aufkam.

    In meiner augenblicklichen Lage wurde die Untätigkeit für mich immer bedrückender. In der Stadt sah ich keine vertrauten Gesichter mehr, die zweieinhalb Jahre Abwesenheit von Troppau machten mich zum Fremden in meiner geliebten Heimatstadt. Auch zuhause fühlte ich mich nicht mehr wohl und völlig wertlos. Meine Rundgänge in der Stadt wurden immer kürzer und endeten meistens an der Oppabrücke vor dem Vorort Katharein, wo die meisten Tschechen wohnten.

    Ebenso erging es mir an der innerstädtischen Grenze zu den Vororten Jaktar und Gilschwitz, die ich so gut wie nie betreten hatte. In diesen überwiegend tschechischen Vororten rumorte es schon unter der tschechischen Bevölkerung. Die meisten Tschechen freuten sich bereits auf eine Zeit baldiger Befreiung und benahmen sich entsprechend aufsässig, vorerst noch vorsichtig gedämpft, mit Absingen von Spottliedern und kleineren Pöbeleien.

    Der lange Arm der Gestapo mit ihren Spitzeln und verdeckten Agenten war fast überall zu spüren und verhinderte noch offene Unruhen.

    In dieser Situation fasste ich einen Entschluss, dessen Tragweite und mögliche Folgen mir mit Sicherheit nicht bewusst gewesen sind. Ohne mich über andere Möglichkeiten eines sinnvollen Einsatzes in einer der zahlreichen Hilfsorganisationen auch nur Gedanken zu machen, in denen ich zum Beispiel auch meine erlernten Kenntnisse im Nachrichtendienst nutzen konnte, entschloss ich mich spontan und auch ohne nur mit einem einzigen Menschen darüber zu sprechen, für eine freiwillige Meldung zum Volkssturm. Ich hatte mir fest vorgenommen, bei der Verteidigung meiner Heimatstadt aktiv mitzuwirken. Bombenangriffe alliierter Luftstreitkräfte in Ziegenhals (Niederschlesien) und Halle/Merseburg habe ich heil überstanden. Das waren meine ersten wirklich schrecklichen Erlebnisse dieses Krieges, die ich aber Gott sei Dank körperlich unbeschadet überlebt habe.

    Ich machte mir keine Gedanken darüber, welche Folgen dieser Entschluss für mich haben kann und ahnte schon seit längerer Zeit, dass dieser Krieg für uns ein Ende mit Schrecken nehmen wird, aber das alles war mir in meiner plötzlich erwachten jugendlichen Euphorie völlig egal. Vielleicht wollte ich von diesem Zeitpunkt an auch mein Schicksal selbst in die eigenen Hände nehmen, denn ein Ausweichen gab es ohnehin nicht und ich gehörte auch nicht

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