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Einmal Stettin - und zurück?
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eBook277 Seiten3 Stunden

Einmal Stettin - und zurück?

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Über dieses E-Book

Einmal Stettin - und zurück?
Der Architekt Frank, Anfang vierzig, führt ein überschaubares, gemütliches Leben in Süddeutschland. Das ändert sich jäh im Mai 2004: Als Unruhen in Polen ausbrechen, wähnt er seine Internetbekanntschaft Anna in Gefahr und begibt sich Hals über Kopf zu ihr nach Stettin. Bald stellt er fest, dass die junge Frau es keineswegs nötig hat, von ihm gerettet zu werden. Vielmehr ist sie selbst gemeinsam mit ihrer Mitbewohnerin Petra in die revolutionären Umtriebe verstrickt. Das Dreiergespann gerät von einer brenzligen Situation in die nächste, bis nur noch die Flucht aus Stettin bleibt – ein waghalsiges Vorhaben. Schließlich will Frank nicht nur sein Leben retten, sondern auch Anna für sich gewinnen …
Ein packender Thriller über ein deutsch-polnisches Abenteuer, der im Lichte der jüngsten Vorkommnisse in Osteuropa zeigt, wie schnell erdachte Geschichten Wirklichkeit werden können.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Okt. 2014
ISBN9783735747495
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    Buchvorschau

    Einmal Stettin - und zurück? - Alex D. Hildebrandt

    Für Doc Mü

    (Der beste Deutsch- und Geschichtslehrer den es gibt.)

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Byalistok

    Stettin

    Bucht von Alcudia,

    Stuttgart Flughafen

    Pforzheim

    Warschau

    Pforzheim

    Stettin

    Deutsch-polnische Grenze

    Warschau

    Nahe Stettin

    Warschau

    Stettin

    Warschau

    Stettin

    Stettin

    Warschau

    Stettin

    Stettin

    Brüssel

    Warschau

    Stettin

    Stettin

    Auf der Ostsee

    Hannover

    Epilog

    Berlin

    Warschau

    Berlin

    Prolog

    Brüssel

    13. Dezember 2002

    Die Fernsehkameras und die Fotografen standen in einer Reihe. Ein Blitzlichtgewitter prasselte auf die beiden Staatsmänner nieder, die sich da die Hand gaben.

    „Wir begrüßen das freie Polen in der Mitte der europäischen Völker", sagte der eine. Und der andere, mit einer weiß-roten Schärpe geschmückt, erwiderte auf Polnisch: „In diesem Moment hat für Polen der Zweite Weltkrieg ein für alle Mal ein Ende gefunden. Wir sind zurück auf unserem Platz in Mitteleuropa. In Frieden, in Freiheit und gleichberechtigt!"

    Das zwischenzeitlich abgeebbte Blitzlichtgewitter schwoll erneut an. Die beiden Herren tauschten Urkunden aus. Es war das offizielle Ende der erfolgreichen Beitrittsverhandlungen Polens zur Europäischen Union. Die überreichten Urkunden bestätigten dies – und nichts anderes. Der Beitrittsvertrag sollte am 16. April des Jahres 2004 unterzeichnet werden und dann zum 1. Mai 2004 in Kraft treten. Dies würde die größte Erweiterung des Staatenbundes seit seiner Gründung bedeuten. Die meisten Europapolitiker in den Mitglieds- und auch in den Beitrittsstaaten traten nun immer wieder stolz vor die Kameras und erklärten diesen historischen Schritt zum endgültigen Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas.

    Gebetsmühlenartig wiederholte man die schönsten Bilder, die nun von der Zukunft Polens gemalt wurden; die nicht unerhebliche Anzahl an Gegnern, vor allem unter den Nationalisten und den Landwirten, fand kein Gehör. Kommentare wie die der Nationalisten anlässlich der Rede Johannes Raus vor dem polnischen Parlament – „Was wir feiern sollen, ist ein Grund zur Trauer, nicht zur Freude, denn die Bedingungen wurden uns diktiert, vor allem von Deutschland" –, wurden heruntergespielt.

    Aus der Koalition der Ängstlichen, die sich als die Verlierer des Beitritts sahen, erwuchs ein gefährliches Bündnis, das mit Protesten im Jahr 2003 auf sich aufmerksam machte. Anfang 2004 trafen sich führende Köpfe der Nationalisten, der Vereinigung für Polen-Litauen – eine Gruppe, die einem ehemaligen Staatsgebilde aus dem 16. Jahrhundert nachtrauerte –, militante Gegner aus den Reihen der Bauernpartei und Kommunisten zu einem Geheimtreffen in Byalistok, um ihr weiteres Vorgehen gegen den Beitritt abzusprechen. Nur so viel war klar: Die Gegner des Beitritts wollten das „Ja" des Referendums vom Juni 2003 nicht akzeptieren.

    Unerwartete Schützenhilfe kam aus Weißrussland, das unter Diktator Lukaschenko aus Moskau – inoffiziell – Unterstützung bekam. Entlang der Grenze zu Weißrussland wurden Depots gebaut, in denen Waffen versteckt wurden, und Anfang 2004, als die Beitrittseuphorie immer größer wurde, war auch der Zorn und der Hass der Beitrittsgegner groß genug, um ihren Plan in die Tat umzusetzen und die gewählte polnische Regierung der, wie die Gegner es nannten, „Verräter und Verkäufer des Vaterlandes" mit Gewalt zu stürzen.

    Das Vorhaben war, den Staatsstreich gegen die Regierung mit einem Aufstand im ganzen Land zu verbinden. Sinn und Zweck war für die Nationalisten und Kommunisten, sich als Retter aus dieser Not zu präsentieren. Für sie stand die Eigenständigkeit Polens auf dem Spiel, die es zu erhalten galt. Der Schlag sollte noch vor dem Beitrittstermin ausgeführt werden. Eine Rückkehr zu einer Demokratie westlicher Art war nicht geplant. Eher eine Mischung aus nationalistischer Militärdiktatur und zentralistischer Wirtschaftslenkung, wodurch Wohltaten für das Volk finanziert werden sollten. Das Vorbild war der Peronismus der vierziger und fünfziger Jahre in Argentinien. Allerdings fehlte dafür eine charismatische Figur wie Peron, ganz zu schweigen von einer Volkstribunin wie seiner damaligen Frau Eva – besser bekannt als Evita.

    Man beschränkte sich zunächst darauf, Pläne zu machen, Vorräte anzulegen und auf den richtigen Moment zu warten. Der kam nicht. Der Beitrittstermin rückte näher, nichts geschah. Als nun auch noch der 1. Mai als traditioneller Feiertag der Arbeiter mit Feuerwerk und ohne Zwischenfälle begangen worden war, resignierten einige in der Bewegung. Nun war Polen dem – wie es in den Gegnerkreisen hieß – „Club der Kapitalisten und Ausbeuter" offiziell beigetreten. Der richtige Zeitpunkt war verstrichen.

    Byalistok

    25. Mai 2004

    Der Beitritt, die Einführung des EU-Rechtes auch für Investitionen und die Erklärung eines „Flaggentages" in Polen brachten das Fass dann doch zum Überlaufen. Die „Verräter" hatten nicht nur die Souveränität des Landes geopfert, sondern auch das Symbol des Landes, die Staatsflagge, für sich instrumentalisiert. So sahen es zumindest die Aufstandswilligen. Nun war der Zeitpunkt gekommen. Die radikalen Kräfte hatten genug vom Warten. Sie begannen, die lang in den Schubladen liegenden Pläne in die Tat umzusetzen. Aus dem Kaliningrader Oblast wurden übers Meer und in der Nacht auch über Land Waffen über die Grenze gebracht. Fahrzeuge kamen aus Litauen und Weißrussland, wo Extremisten aus den unterschiedlichsten Gründen den Umsturz unterstützen. Aus ausländischen Armeebeständen, deren Hoheitszeichen unkenntlich gemacht worden waren, wurden nun Fahrzeuge mit Funk- und Störsendern herangebracht, Munition wurde mit Kurieren im ganzen Land versteckt und abtrünnige Armeeeinheiten aufgefordert, sich dem bewaffneten Kampf gegen die Regierung anzuschließen. Die ersten heimlichen Rekrutierungsbüros wurden eröffnet. Sogar ganz im Westen des Landes – in Stettin, wo der Feind zum Greifen nah war.

    Stettin

    26. Mai 2004

    Anna und Petra liefen nebeneinander. Immer wieder sahen sie sich um und versicherten sich mit Blicken gegenseitig, dass sie niemand verfolgte. Vor zwei Tagen waren sie in die Stadt gekommen. Schon vor den Unruhen, die mit dem Staat-streichsversuch einhergingen, waren Anna und Petra sich einig, dass sie sich freiwillig melden würden. Nicht als Krankenschwestern oder zum Blutspenden – nein. Beide wollten zu den Partisanen auf der richtigen Seite, wie sie beide meinten, zu den regierungstreuen Blauen. Schon während ihrer Jugend hatten beide in einer Organisation, die der GST, der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik in der DDR, ähnlich war, eine Wehrsportausbildung genossen und Kampfsport gemacht. Sie wollten nun mit gezielten Einzelaktionen den Gegnern, also den Roten, wie die Truppe der Nationalistisch-Kommunistischen Allianz hieß, schmerzhafte Schäden beibringen. Jetzt, auf dem Rückweg aus dem Rekrutierungsbüro, sprachen sie kein Wort. Der Befehlshaber der Sektion West hatte sie einzeln empfangen und sie beide als „Einzelkämpferinnen mit Sonderaufgaben" engagiert. In Zeiten des Internets sollten sie ihre Anweisungen per Computer oder Handy erhalten sowie auf diesem Weg ihre Erfolgsmeldungen – verschlüsselt – melden.

    Petra war blond, mittelgroß und hatte das Gesicht eines Engels, dem man die brutale, dunkle Seite nicht ansah. Sie hatte es selbst immer gewusst und sich auch davor gefürchtet, dass dieses gefährliche Potenzial ausbrechen könnte. Doch sie hatte auch eine weiche Seite. Liebte Blumen, sang gerne, trieb Sport wie Basketball und Laufen – und sie war eine typische Frau, wenn sie an Schaufenstern vorbeikam. Jetzt, da die Situation es erforderte, war sie froh und auch stolz, dass sie eine fast männliche Härte an den Tag legen konnte. Sie wusste nicht genau, was sonst ihre dunkle Seite wachrief, aber hier und jetzt war es Wut. Wut darauf, dass die Gleichen, die Polens Karren Anfang der Achtziger in den Dreck gefahren hatten, sich nun als die aufspielten, die für diesen Schlamassel eine Lösung parat hielten.

    Anna, ein bisschen kleiner als Petra, aber schlanker und durchtrainierter, zog genauso viele Blicke auf sich. Dies sollte sich in den folgenden stürmischen Tagen als Vorteil erweisen. Auch in Anna loderte ein Feuer, das in ihren hellblauen Augen zu funkeln schien und das sie zu kanalisieren versuchte. Mal war es leidenschaftliche Lust, mal sportlicher Ehrgeiz, mal auch brutale Kraft, welche sie im Karate- und Sportschützenverein auslebte. Ihr Antrieb war die Demütigung, die man ihrer Familie angetan hatte, und die Rache für das ihrem Vater Angetane.

    Zwei Straßen von ihrer Bleibe entfernt trennten sich die beiden. Anna ging direkt nach Hause, Petra musste noch etwas besorgen.

    Bucht von Alcudia,

    Mallorca

    27. Mai 2004

    Frank lag im Sand und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Es war neun Uhr. In drei Stunden würde der Bus zum Flughafen starten. Er hatte im Hotelzimmer bereits alles gepackt und nur das Nötigste für die letzte Stunde noch nicht in den Koffer getan.

    „Excuse me, Mister", wurde er geweckt.

    Seine Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne schirmend, sah er, wie eine ältere Dame mit Stock neben ihm stand.

    „Do you speak English?", fuhr sie fort. Frank antwortete: „Yes, I do. What can I do for you, Miss?"

    Eigentlich hatte er sich deshalb abseits der Hotelstrände einen Platz gesucht, um die letzten Stunde in Ruhe zu verbringen, doch er war auch kein Unmensch und stets hilfsbereit. Er konnte also diese ältere, wohl aus Großbritannien stammende Dame nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und erhob sich von seinem Handtuch. Auch sonst war Frank ein sehr umgänglicher Mensch. Er hatte genug Lebenserfahrung, um zu wissen, wie im Leben der Hase läuft, aber noch genug Interesse und jungenhafte Neugier, um sich Neuem nicht zu verschließen.

    Mallorca war dafür sicher nicht das beste Beispiel – schließlich wollte er hier nur dem Stress des Alltags auf eine möglichst bequeme Art entfliehen. Aber ferne und nahe unbekannte Länder interessierten ihn, und wo andere alte Steine ansahen, wandte sich sein Interesse oft so alltäglichen Dingen zu wie Tageszeitungen, Graffitis an Hauswänden oder den nationalen aktuellen Fernsehnachrichten. Er brachte Elisabeth – so hieß die Britin – nun zu ihrem Hotel zurück und machte sich dann auf den Weg ins eigene Hotelzimmer, um seine Koffer zu Ende zu packen.

    Stuttgart Flughafen

    27. Mai 2004

    Es war kalt, als Frank aus der Condor-Maschine ausstieg. Wenige Minuten vorher hatte der Kapitän „Stuttgart, Regen 16 Grad" durchgesagt. Er war wieder im deutschen Sommer angekommen.

    Nachdem Frank sich seinen Koffer geschnappt hatte, ging er direkt runter zur S-Bahn. Er hatte Glück, eine abfahrbereite Bahn stand wartend da. Die Türen offen. Frank trat ein, setzte sich auf eine der vielen leeren Bänke und kaum saß er, schlossen sich die Türen des Zuges und er fuhr los. Der Weg zum Hauptbahnhof wurde ihm lang. Die Tropfen hangelten sich an der Scheibe hinunter und er ließ Station um Station an sich vorbeiziehen. Dann meldete sein Handy eine Kurznachricht: „Wann kommst du genau an – mache mich gleich auf den Weg zum Bahnhof." Statt Freude, dass sich seine Freundin Sandra meldete, empfand er einen stumpfen Widerwillen, am liebsten hätte er „Nerv nicht" zurückgesendet. Doch brav schrieb er: „Sitze in der S-Bahn. Komme 21.28 Uhr am Bahnhof an."

    Jetzt ging es unter die Erde. Das hieß noch zehn Minuten bis zum Bahnhof.

    Dort angekommen, fuhr er die Rolltreppen hoch und gleich auf eine Auskunftstafel zu – schade, er hatte den Anschlusszug gerade verpasst. Jetzt hatte er doch eine Stunde Zeit. Mehr als genug, um sich mit Sandra zu treffen und ihr den Laptop wiederzugeben. Er hatte sich das mittelmäßige Gerät gekauft, wohl wissend, dass sich eine solche Anschaffung für die paar Male im Jahr nicht lohnen würde, die er es benötigte. Aber Sandra konnte einen Computer brauchen, würde sich aber nie selbst einen kaufen. Also hatte er den Laptop im Internet ersteigert, und wenn er ihn nicht brauchte, bekam sie ihn.

    Sandra war eine gut aussehende Frau, nur wenig jünger als Frank selbst, eine fanatische Sportlerin. Sie versuchte, ihren Frank immer dazu zu bekehren, mehr Sport zu treiben. Doch damit erreichte sie genau das Gegenteil, denn Frank fühlte sich in seiner Rolle als Musik liebende Couchpotato wohl und ihre wiederkehrenden Versuche, ihn ins Fitnesscenter mitzunehmen, störten ihn. Sie hatte es einmal sogar fertig gebracht, ihn ohne sein Wissen in einer Muckibude anzumelden, wie er die Fitnesstempel abschätzig nannte. Obwohl sie dafür einen Haufen Geld ausgab, blieb Frank standhaft und machte ihre Anlage zur klassischen Fehlinvestition.

    Jetzt, am Infoschalter im Bahnhof in der Mitte der großen Bahnhofshalle, wartete er auf sie. Doch wieder nur eine Kurzmitteilung: „Wo bist du?".

    Um die Kommunikation abzukürzen, rief er an und sagte, er sei „an der Uhr mit den vier Füßen". So bezeichnete Frank die Riesenuhr, die die Deutsche Bahn in allen größeren Bahnhöfen zusammen mit dem sogenannten Infopoint als Informations- und Anlaufstelle platziert hatte.

    Die fünf Minuten, bis Sandra kam, zogen sich zu einer kleinen Ewigkeit hin. Und wieder eroberten ihn die Gedanken, die ihn schon auf der Fahrt mit der S-Bahn in Beschlag genommen hatten – und die ihn wohl nicht so schnell loslassen würden. Je länger er stand und auf Sandra wartete, desto bewusster wurde ihm, wie wenig sie ihm in der Woche Urlaub gefehlt hatte. Und wenn er sich etwas während seines Urlaubs dazugewünscht hatte, so war es nichts, was er mit Sandra hätte erleben können.

    Frank war groß, blond, Anfang vierzig, was man ihm aber nicht ansah. Als selbstständiger Architekt war er gut situiert. Im Beruf lief alles seinen geordneten Gang. Er hatte sich auf Innenarchitektur spezialisiert, und da hatte man es zwar gelegentlich mit kapriziösen, aber in der Regel solventen Kunden zu tun. Seine Freunde bewunderten ihn für seinen Beruf und schätzten ihn als hilfsbereit und unkompliziert.

    Seine Spezialisierung brachte es mit sich, dass er auch im Ausland Kunden hatte, die sich neue Geschäftsräume oder Wohnungen, manchmal ganze Villen von ihm entwerfen ließen. Für Außenstehende wirkte sein Beruf aufregend und abwechslungsreich, er selbst hoffte aber noch auf einen Kick – etwas Ungewöhnliches, Unvorhergesehenes.

    Wenn es seine Zeit zuließ, war Frank ein Wissensfreak – wie er es selbst bezeichnete. Er interessierte sich sehr für das Zeitgeschehen, schaute fast jede Dokumentation, die im Fernsehen lief, und hatte sich beim Fall der Mauer bestätigt gefühlt, dass es von Vorteil war, sich mit Zeitgeschichte zu beschäftigen. Immerhin konnte er damals die Geschehnisse besser einordnen als die Mehrheit seiner Freunde, für die Politik öde und die Deutsche Einheit lediglich die Verschiebung eines Feiertages vom 17. Juni auf den 3. Oktober bedeutete. Aktuell befasste er sich mit der Osterweiterung der EU. Schon früh hatte er von Unruhen in Polen gehört, wo eine Koalition aus Bauern und Arbeitern, die Angst um ihre Arbeitsplätze hatten, zusammen mit alten Kadern der untergegangenen Volksrepublik Polen ein Bündnis geschmiedet hatten, das mit Demonstrationen und Streiks seinem Unmut über den geplanten Beitritt Luft machen wollte. Alles das interessierte ihn. Doch Sandra hatte nur ihren Sport und Fitness im Kopf und konnte seinen Interessen so gar nichts abgewinnen.

    Da kam sie: keine Vierzig, blond, eine Figur, der man ansah, dass sie exzessiv Sport trieb. Doch das traf es nicht richtig. Jede Faser von Sandra war Sport. Hatte sie mal zwei Tage keine Zeit auf ihrem Fahrrad verbracht, wurde sie grantig. Im Winter floh Sandra in eines der Fitnesscenter, in denen sie Mitglied war.

    Jetzt stand sie vor ihm. Fast förmlich begrüßten sie sich, eher wie zwei gute Freunde denn als zwei Menschen, die in der Vergangenheit intimere Zeiten miteinander verbracht hatten. Selbst der lange Kuss ergab sich nur, weil Sandra still hielt und Frank die trügerischen Sekunden der Nähe genoss.

    Er übergab ihr das mitgebrachte Geschenk sowie den Laptop mit dem lapidaren Hinweis: „Wenn du einen Kassenbon findest, wirf ihn weg. Hab ihn nach dem Einkaufen nicht gefunden. Kann sein, dass er noch dran klebt."

    Sie saßen in einer Bahnhofsbar, tranken Bier. Er erzählte, wie wunderschön die Woche auf Mallorca gewesen war – ohne nur einmal zu erwähnen, er habe sie vermisst. Hatte er ja auch nicht. Und sie schilderte ihm, wie stressig es im Krankenhaus zuging und dass sie noch nie so viel gearbeitet habe. Die Zeit verging schnell – schnell genug. Sandra brachte Frank zum Zug und da kam ein kleiner Hauch von Wärme auf. Als Frank sofort in den Zug stieg, blieb sie erstaunt vor der Waggontür stehen. Ein Blick, so zärtlich, wie er ihn bei ihr schon lange nicht mehr gesehen hatte, flackerte kurz auf.

    „Du musst doch noch nicht rein!"

    Doch das war alles. Sie forderte ihn nicht auf, eine Nacht bei ihr in Stuttgart zu bleiben. Für eine kurze Weile kam er zu ihr auf den Bahnsteig zurück, dann stieg er wieder ein, die Tür schloss sich und der Regionalzug nach Pforzheim setzte sich in Bewegung. Die Realität hatte ihn endgültig wieder.

    Frank fuhr zufrieden und müde durch die immer noch verregnete Nacht nach Hause, die Leute beobachtend. Da, die beiden Geschäftskolleginnen, die sich über eine Mitarbeiterin ausließen, hier das ältere Ehepaar, das scheinbar versuchte, den Fahrplan auswendig zu lernen, indem sie sich immer wieder gegenseitig vorbeteten, welches die nächste Station sein und welche danach folgen würde. Und dies an jedem neuen Bahnhof aufs Neue. Direkt vor ihm der dösende junge Mann, der ab und an kurz aufblinzelte, wenn der Zug langsamer wurde. Mit jedem Halt kam auch Frank seinem Ziel näher – und dann, kurz nach 23 Uhr, stand er in Pforzheim auf dem Bahnsteig.

    „Endlich – man braucht 90 Minuten von Mallorca nach Deutschland und vier Stunden von Stuttgart nach Pforzheim", dachte er bei sich. Das war übertrieben, jetzt war er ja da. Es war bereits nach Mitternacht – der 28. Mai. Ein Donnerstag. Natürlich regnete es immer noch – Frühsommer in Deutschland. Die Jacke zugezogen, lief er unbeschirmt zehn lange nasse Minuten nach Hause.

    Als er die Tür öffnete, fand Frank alles vor, wie er es verlassen hatte. Frau Meier, die bei ihm putzte, würde erst am Freitag wieder kommen, bis dahin musste er noch mit einer Wohnung vorlieb nehmen, der man ansah, dass sie bewohnt wurde.

    Es war spät – er war müde und hatte keine Lust mehr, seinen Koffer auszuräumen. Etwas aber wollte er noch tun – seine E-Mails abfragen. Während der Computer hochfuhr, setzte er sich vor den Fernseher und schaute die Spätnachrichten. Das alte Lied: ein neuer Lebensmittelskandal hier, ein neuer Minister

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