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Ich will ein Kind: Buch 2 Tagebuch über das Leben mit einem frühtraumatisierten Pflegekind / Adoptivkind
Ich will ein Kind: Buch 2 Tagebuch über das Leben mit einem frühtraumatisierten Pflegekind / Adoptivkind
Ich will ein Kind: Buch 2 Tagebuch über das Leben mit einem frühtraumatisierten Pflegekind / Adoptivkind
eBook404 Seiten4 Stunden

Ich will ein Kind: Buch 2 Tagebuch über das Leben mit einem frühtraumatisierten Pflegekind / Adoptivkind

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Über dieses E-Book

Wer ein Pflegekind nimmt, will Gutes tun: Benachteiligten Kindern ein besseres Leben geben und den eigenen Kinderwunsch erfüllen.

Josephine Himmelreich gibt mit diesem Tagebuch einen ehrlichen Einblick in das Leben mit ihrem Pflegekind. Sie zeigt, dass der Alltag ganz anders verläuft, als man sich das vorstellt.
Der arme, vernachlässigte Knirps entpuppt sich als undankbarer Tyrann. Traurige und lustige Episoden reihen sich aneinander. Es gibt reichlich Ärger, kleine Fortschritte und ganz viele Fragen. Wiederkehrende Fragen, die oft nur unbequeme Antworten kennen. Doch am Ende siegt die Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Die Adoption ist ein erster Schritt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Aug. 2014
ISBN9783735768827
Ich will ein Kind: Buch 2 Tagebuch über das Leben mit einem frühtraumatisierten Pflegekind / Adoptivkind

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    Buchvorschau

    Ich will ein Kind - Josephine Himmelreich

    Josephine Himmelreich

    Ich will

    Folgende Fortsetzungen sind geplant:

    Dies ist ein Tagebuch.

    Ich schreibe all unsere Erlebnisse auf, wie sie mir in Erinnerung geblieben sind. Ich schreibe sie so auf, wie ich sie empfunden habe.

    Dieses Buch hat nicht den Anspruch, Motivation für die Aufnahme eines Pflegekindes zu geben. Es ist nur ein Tagebuch. Manches klingt banal oder unverständlich, einiges wirkt übertrieben und vieles erscheint dem nicht betroffenen Leser fraglich.

    Wer selbst ein Pflegekind aufgenommen hat, der wird einige Situationen wiedererkennen, der wird lächeln und zweifeln und hoffentlich aus unseren Erfolgen und aus unseren Fehlern immer wieder selbst neuen Mut schöpfen.

    Ich versuche, dieses Buch zwischen eigener Berufstätigkeit und einer Familie mit drei Kindern zu schreiben. Verzeihe man mir schnell gewählte Worte und ungeprüfte Tippfehler.

    Mir sind meine Familie wichtig, mein Mann und meine Kinder – und der Inhalt dieses Buches.

    Vielen Dank.

    Da werden Hände sein,

    die Dich tragen,

    und Arme, in denen Du sicher bist,

    und Menschen, die Dir ohne Fragen

    zeigen, dass Du willkommen bist.

    Khalil Gibran

    www.josephine-himmelreich.de

    Inhaltsverzeichnis

    Danksagung

    Widmung

    Motto

    Vorwort

    Mitte Juli 2001

    September 2000

    Anfang Juli 2001

    August 2001

    Dienstag, 07. August 2001

    Die ersten Tage im August 2001

    Vaterschaftstest und Gehirnströme

    Schlafen

    Überfordert?

    Ronnys Geschichte in Kurzfassung

    Sonderangebot

    Erstes Mama-Wochenende

    Formulare

    Setzkasten

    Badewanne

    Nuckelflasche

    Spazierengehen

    Einkaufen

    Spielzeug

    Tierfreunde

    Malen

    Schmerzen

    Essen kochen

    Frisör

    Bestandsaufnahme

    Anfang September - Cindy

    Nachbarn, Kinder und Katzen

    September 2001 Erste Worte

    Im Wald

    Oktober 2001 Der Spaziergänger

    Skispringer

    Integrationsbescheinigung

    November 2001 Genetik

    Verständnis

    Hustensaft

    Advent 2001

    Weihnachten 2001

    Januar 2002 Die erste Rodelpartie

    Einkaufen, mal wieder

    Februar 2002 Bestandsaufnahme, die zweite

    März 2002 Provokation

    April 2002 Der Wandersmann

    Lungenentzündung

    Mai 2002 Apfelsaft

    Solche und solche Windeln

    Juni 2002 Die Cindy

    Chicken Nuggets

    Sommerurlaub Juli 2002 Windpocken und Beruhigungsmittel

    FKK

    August 2002 Flugübungen

    September 2002 Wir fahren zur Kur

    Hausmeisterdienste

    Kaufhäuser

    Oktober 2002 Na gut

    Im Tierpark

    November 2002 Kopfüber

    Dezember 2002 Striezelmarkt in Dresden

    Weihnachten 2002

    Januar 2003 Musikschule

    Februar 2003 Schlitten fahren

    Buch vorlesen

    März 2003 Richtiger Winter

    Meine Traktor

    April 2003 Landschafts-Crosslauf

    Mai 2003 Das Fahrrad

    Juni 2003 Schneeflöckchen

    Juli 2003 Sommerurlaub in Norwegen

    Ronny im Sandkasten

    An der Leine

    Ronny lernt sprechen

    August 2003 Meine Fahrrad

    September 2003 Das Bad schwimmt

    Komm wir malen eine Sonne

    Oktober 2003 Ronny geht wieder baden

    November 2003 Integrativkind

    Dezember 2003 Unser Pfefferkuchenmann

    Der Weihnachtsmann

    Jetzt ist Weihnachten

    Januar 2004 Toilette

    Februar 2004 Noch einmal Volksskilauf

    März 2004 Aufgewacht

    April 2004 Wann ist Weihnachten

    Mai 2004 Wir malen wieder

    Detailstudium

    Ende Juni 2004 Anerkennung

    Juli 2004 Ferienlager mal anders

    August 2004 Lückendorfer Bergrennen

    September 2004 Freiheiten

    Oktober 2004 Mein Kindergarten

    November 2004 Das Weihnachtsgeschenk

    Dezember 2004 Striezelmarkt in Dresden, zweiter Besuch

    Januar 2005 Ronny übt Skifahren

    Strenge Erziehung

    Februar 2005 Über sieben Berge

    März 2005 Messe in Hannover

    Ostern 2005 Abfahrtski

    April 2005 Welcher Name ist schöner?

    Ronny allein zu Haus

    Gute Nacht Küsschen

    Mai 2005 Kein Fernsehen

    Feierabendlauf

    Fahrradtour zum Feierabend

    Juni 2005 Wie weiter?

    Ergotherapie

    Der Babysitter

    Bergsteiger

    Juli 2005 Dorffest

    Juli bis Oktober 2005 Wir verheizen zwei Kinderpsychologen

    August 2005 echtes Ferienlager

    September 2005 Kreuzweise

    Kletterkünstler

    Ronny klein - ging allein - in die weite Welt hinein.

    Oktober 2005 Solche Trainer und solche Trainer

    November 2005 Wer war´s?

    Advent 2005 Und er kann es doch

    Dezember 2005 Frühförderung

    Peinlichkeiten im Advent

    Behindert?

    Weihnachts-Konzert

    Januar 2006 Anfeuern

    Erziehungsversuche

    Februar 2006 Erziehungsversuche – gleich noch einmal

    März 2006 Schneeberge

    April 2006 Papa-Tag

    Landschafts-Crosslauf – alle Jahre wieder

    Das Türschild

    Mai 2006 Junior-Crossläufer

    Juni 2006 Berglauf

    Gehen wir in die Schule?

    Frau Großer ist geladen

    Das Regionalschulamt

    Der erste Schulbegleiter

    Sommer 2006 Das Murmeltier und der Bär

    Bald bist Du ein Schulkind.

    Resümee und Vorschau

    Anhang

    Randnotizen und Hinweise

    Vorwort

    Wenn man ein Kind zu sich nimmt, das bisher kaum Gutes im Leben erfahren durfte, das vernachlässigt und allein gelassen wurde, das hungern musste, das niemanden hatte, der mit ihm spielt, dann freut man sich darauf, das Kind das alles endlich erleben zu lassen.

    Die Dankbarkeit, das liebevoll-wärmende Kuscheln und das glückliche Strahlen der Kinderaugen werden alle Mühe wert sein.

    Haben wir gedacht.

    Haben wir falsch gedacht.

    Ronny will kein schrecklich schönes Kinderzimmer, kein schrecklich interessantes Spielzeug, keine schrecklich spannenden Bücher, kein schrecklich leckeres Essen, keine schrecklich tollen Erlebnisse, keine schrecklich lieben Eltern. Schon gar nicht will er dafür dankbar sein.

    Ronny will allein für sein Leben zuständig zu sein. Unsere Liebe bringt ihn um.

    Wie will man so einem Kind Liebe geben?

    Wir haben ein Pflegekind in unsere Familie aufgenommen, weil wir noch ein Plätzchen in unserem Leben frei hatten. Ein Platz, gerade groß genug für ein Kind. Eines, mit dem wir gemeinsam leben können.

    Zu diesem Zeitpunkt fehlte uns jegliches Verständnis dafür, dass die meisten Pflegekinder ganz anders sind als eigene. Wir haben unsere lebhafte Tochter großgezogen. Viel schlimmer kann es nicht kommen, dachten wir, und machten Platz für Ronny.

    Die wenigsten Pflegekinder passen auf dieses Plätzchen. Manche machen sich so klein, dass sie ständig durchfallen. Die anderen nehmen derartig viel Raum für sich ein, dass sie weit mehr von unserem Leben beanspruchen als den vorhandenen Platz.

    Ronny passt bis heute nicht auf seinen Platz bei uns. Wir wollten mit ihm leben, er sollte unser Leben vervollständigen. Stattdessen müssen wir unser Leben grundsätzlich ändern, um ihm ein sicheres Leben zu ermöglichen.

    Diese Einsicht haben wir leider erst zehn Jahre später durch sehr viel Leid erfahren. Heute wissen wir, dass wir neben den vielen Dingen, die wir in den ersten Jahren richtig gemacht haben, leider genauso viele Dinge ungünstig oder falsch angegangen sind.

    Mitte Juli 2001

    Ist er das?

    Bestimmt.

    Ich will, dass er das ist!

    Ein einziger kleiner Junge steht am Tor zum Kindergarten und lugt neugierig durch die Eisenstäbe. Das Gesicht zwischen die Stäbe gepresst schauen seine abstehenden Ohren außen an den Stäben heraus. Putzig sieht er aus, freundlich und lieb und ein wenig verschmitzt. Wenn das unser Ronny ist, dann habe ich ihn jetzt schon gern.

    Rückblick: Juli 2000

    Laura, unsere inzwischen zwölfjährige Tochter, ist kaum noch zu Hause zu halten. Sie will unbedingt auf die Sportschule. Grundsätzlich kann ich sie verstehen. Der Sport ist ihr Ein und Alles. Wenn sie trainieren kann, dann ist sie glücklich. Aber muss sie deshalb schon nach der sechsten Klasse weg? Welche Mutter gibt ihre einzige Tochter freiwillig so zeitig aufs Internat? Ich will nicht, dass Laura auf die Sportschule geht, wenigstens jetzt noch nicht.

    Also streike ich, diskutiere, male ihr die schrecklichsten Bilder auf. Laura bleibt hartnäckig. Sie will auf ihre Sportschule: »Alle anderen Kinder aus meiner Altersklasse sind schon seit einem Jahr an der Sportschule. Ich fange viel zu spät mit dem Trainieren an. Du bist schuld, wenn ich nicht gut werde. Hast Du mich lieb? Willst Du das Beste für mich? Dann lass mich gehen.« Das sitzt. Ich muss aufhören, nur an mich zu denken.

    Laura hat sich offensichtlich genau überlegt, was sie will. Ich werde ihr den Wechsel zur Sportschule nicht mehr verbieten können. Es kostet mich zwar noch einige Zeit und sehr viel Überwindung, bis ich ihr endlich erlaube, nächsten Sommer auf die Sportschule zu wechseln.

    So! Jetzt geht meine Laura also auch noch weg. Marc ist die Woche über dienstlich unterwegs. Ich werde ganz allein in unserem schönen Haus hier oben auf dem Berg sitzen und Trübsal blasen.

    Erst vor einem Jahr sind wir aus unserer Neubauwohnung ins Gebirge gezogen, damit wir mitten in unseren geliebten Bergen wohnen können. Doch ganz allein? Allein machen die schönsten Berge keinen Spaß. Und womit soll ich mich die dunklen Abende lang beschäftigen?

    So geht das nicht.

    Ein neues Kind muss ins Haus!

    Leichter gesagt als getan. Eigene Kinder bekommen wir aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Die Versuche mit künstlicher Befruchtung haben noch größere gesundheitliche Probleme geschaffen. Was bleibt?

    Wir könnten ein Kind adoptieren. Die Wartelisten für Adoptionen sind lang, sehr lang. Zu lang für uns, wir sind immerhin schon Mitte Dreißig. Außerdem habe ich große Bedenken, die sprichwörtliche Katze im Sack zu kaufen. An kleinen Kindern steht ja nicht dran, was drin steckt. Es gibt auch keinen Beipackzettel.

    Nächtelang grüble ich, traue mich nicht, mit Marc darüber zu sprechen. Ich habe Angst, er könnte meine bevorstehende Einsamkeit als Vorwurf an seine Reisetätigkeit verstehen. Ganz im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass ich ihn jeden Tag zu Hause haben möchte. Momentan will ich keinen Jeden-Tag-Ehemann.

    Ich will ein Kind.

    Mir fällt noch etwas ein: Habe ich nicht schon mehrfach etwas von Pflegekindern gehört?

    Wer organisiert das?

    Wie funktioniert das?

    Wer entscheidet das?

    Im Internet bekomme ich schnell heraus, dass das Jugendamt im Landratsamt für Pflegekinder zuständig ist. Pflegekinderwesen heißt die Abteilung. Pflegekinderwesen – das klingt unangenehm bürokratisch, so nach Verwaltung und Anträgen und Ablehnung.

    Misstrauisch rufe ich eine gewisse Frau Hummel an, schildere nur zaghaft und stockend meine Überlegungen. Die Stimme am anderen Ende klingt mehr nach Pflege als nach Wesen. Sie klingt, als könnte sie nicht nur zu Kindern liebevoll sein. Frau Hummel antwortet mir sachlich, freundlich und vor allem entgegenkommend. Sie nimmt mir meine Scheu, meine Ängste und die gewisse Peinlichkeit, die ich mir nicht eingestehen will. Ich fühle mich bei ihr willkommen, als ob sie gerade heute auf meinen Anruf gewartet hätte.

    Endlich habe ich auch den Mut, mit Marc über meine Gedanken zu sprechen. Ich erzähle ihm von meinem Telefonat mit Frau Hummel und meiner Frage nach einem Pflegekind. Marc reagiert begeistert. Er kann meine Bedenken im Nachhinein überhaupt nicht verstehen und hat gedanklich das Pflegekind schon in sein Herz geschlossen. Für diese Momente habe ich meinen Mann besonders lieb. Er denkt nicht ständig darüber nach, was eventuell alles schief gehen könnte. Er versucht nicht, mögliche Probleme vorher tiefsinnig zu ergründen. Er freut sich einfach nur ehrlich und lässt mich an seiner Freude teilhaben.

    Es liegt wieder so eine Hoffnung in der Luft.

    Endlich.

    Wenige Tage später treffen wir uns bei Frau Hummel zu einer ersten Beratung. Es wird ein langes Gespräch. Geduldig schildert die äußerlich resolut wirkende Frau alle Schwierigkeiten, die wir vorher bedenken sollten. Zu jedem möglichen Problem gibt sie gleich wieder einen Lösungsansatz und ganz viel Mut für uns mit. Mit Frau Hummels Worten lassen sich alle Hindernisse überwinden. Sie schafft es auf Anhieb, dass wir uns bei ihr und bei dem Gedanken an ein Pflegekind richtig wohl fühlen.

    Hätte hier ein bürokratisches Pflegekinder-Wesen mit uns gesprochen, dann würde Ronny heute nicht bei uns leben.

    September 2000

    Wir haben seitenweise Fragebögen ausgefüllt, unsere Vermögensverhältnisse offengelegt, Einkommensnachweise kopiert und Führungszeugnisse anfertigen lassen. Wenn man jede werdende Mutter vor der Schwangerschaft so gründlich prüfen würde wie Pflegeeltern, dann gäbe es wohl bald keine Kinder mehr.

    Das ist leider nicht das einzige unangenehme Gefühl beim Abarbeiten der Pflegeeltern-Antrags-Prozedur. Geraten wir beim Beschaffen oder Abgeben der Unterlagen an andere Mitarbeiter im Landratsamt, wird uns der Unterschied zu Frau Hummel sofort deutlich. Alle anderen behandeln uns, als ob wir die Bittsteller wären. Sicherlich ist das nicht ganz falsch. Ich bin es, die unbedingt ein Kind haben will. Von Frau Hummel weiß ich aber auch, dass das Jugendamt froh ist, wenn es die Kinder nicht in Kinderheimen unterbringen muss sondern familiärer in Pflegefamilien geben kann. Vor allem sollen Pflegefamilien für das Landratsamt deutlich preiswerter sein als Kinderheime. Das Jugendamt will also auch etwas von uns. Warum ist es dann nicht möglich, uns wie Helfende, Gleichgesinnte wohlwollend zu behandeln?

    Irgendwann sind alle Unterlagen zusammen. Schlussakkord ist ein Hausbesuch. Üblicherweise putzt man dazu sein Haus oder seine Wohnung auf Hochglanz. Was sollen wir tun? Seit zwei Monaten haben wir die Handwerker im Haus, die das gesamte Erdgeschoss umbauen. Erst haben sie die Wände wie einen Schweizer Käse durchlöchert, jetzt kämpfen sie mit Stromleitungen und Heizungsrohren. Gegen diesen Staub kommt man einfach nicht erfolgreich an. Wir warnen Frau Hummel vor, sie nimmt es mit der ihr eigenen Gelassenheit.

    Zu Hause im Flur zucke ich noch einmal kurz. In unserem großen Treppenhausfenster auf der halben Höhe steht die Kakteensammlung. Das Kinderzimmer ist oben im Dachgeschoss. Wenn ein Kind die Treppe herunterfällt, dann landet es unweigerlich in den Kakteen. Schmerzhaft. Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass niemals ein Kind die Treppe herunterfallen wird, gerade deshalb nicht, weil im Treppenfenster die Kakteen stehen. Soll ich die Kakteen wegräumen, damit Frau Hummel sich nicht daran stört? Ich wüsste nicht, wo ich die Kakteen stattdessen hinstellen soll. Ich lasse sie stehen.

    Zum Hausbesuch bringt Frau Hummel noch eine neue Kollegin mit. Frau Korselt heißt sie und bemüht sich sichtlich, eine ähnliche Ruhe wie Frau Hummel anzunehmen. Allerdings mit deutlich weniger Erfolg.

    Wir führen die beiden durch unser Haus. Das Kinderzimmer findet großes Wohlwollen. Es ist das größte Zimmer in der oberen Etage und hat die schönste Aussicht auf das ganze Gebirge. Hier wollten wir unser Schlafzimmer einrichten. Doch schon bei der ersten Hausbesichtigung hatte Laura das Zimmer für sich okkupiert. Protestieren half nicht. Vor allem dann nicht, wenn man, wie ich, nur halbherzig protestiert. Es fällt mir immer wieder sehr schwer, meiner Tochter einen Wunsch auszuschlagen.

    Dafür reagiert Laura jetzt unerwartet erwachsen. Wenn das Kind kommt, wird sie sich das winzige Gästezimmer wohnlich einrichten und dem Kleinen das große Zimmer zum Spielen überlassen, erklärt sie ungefragt und ganz von selbst. Keiner hätte das von ihr verlangt. »Aber ich gehe doch sowieso auf Sportschule.« Da waren sie wieder, meine Probleme.

    Frau Hummel geht schmunzelnd an den Kakteen vorbei, Frau Korselt steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Beide sagen nichts. Es wären zwei völlig verschieden Sätze geworden.

    Unser Anwesen wird für gut befunden. Von nun an sind wir zugelassene Pflegeeltern.

    Anfang Juli 2001

    Seit dem Hausbesuch haben wir fast nichts mehr vom Jugendamt gehört. Wohlwollend und gut gemeint hat man uns zu Seminaren und zum Treff der Pflegeeltern eingeladen. Wollten wir an einem Seminar teilnehmen, fiel das Seminar aus. Zu den Treffs mit den Pflegeeltern fühlten wir uns ohne Pflegekind noch nicht berufen.¹

    Marc wird ungeduldig und beschließt, sich beim Jugendamt in Erinnerung zu bringen. Im Amt teilt man ihm mit, dass Frau Hummel im Babyjahr ist. Glückwunsch. Noch immer überkommt mich ein gewisser Neid auf Frauen mit erfülltem Kinderwunsch. Frau Korselt ist jetzt für uns zuständig. Nach unserem ersten Treffen beim Hausbesuch hatten wir von Frau Korselt einen eher unsicheren Eindruck. Der wiederholt sich jetzt für Marc auf für uns positive Weise. Als Marc seine Frage nach unserem Pflegekinderantrag stellt, atmet Frau Korselt erleichtert auf. »Ja, da bahnt sich etwas an.« Marc ist wohl offene Türen eingerannt oder er war einfach nur zur rechten Zeit am rechten Ort.

    Frau Korselt sucht gerade nach Pflegeltern für einen lebhaften, kleinen Jungen und ist sichtlich beruhigt, dass Marc den Jungen sofort für uns beansprucht.

    Noch lebt der knapp zweijährige Ronny bei seiner Mutter. Diese hat vom Gericht viele Auflagen bekommen, wie sie für den Jungen zu sorgen hat. Bisher hat sie keine Auflage dauerhaft erfüllt. Es kann deshalb nur eine Frage von wenigen Tagen sein, bis das Gericht auf Antrag des Jugendamtes das Kind von der Mutter wegnimmt. Sorgerechtsentzug ist der gerichtliche Fachbegriff. Den Antrag hat das Jugendamt beim Gericht schon abgegeben. Marc ist begeistert, ich bin voller Zweifel.

    Ach könnte ich doch Marcs Offenherzigkeit teilen. Mir fällt es schwer, mich für ein Kind zu entscheiden, das ich nicht kenne. Wenn es hässlich ist? Wenn es einen Eierkopf hat und schielt? Ich bin unfair, das weiß ich. Nur komme ich nicht so leicht dagegen an. Jedes Kind hat seine guten Seiten. Vielleicht ist gerade der Eierkopf besonders anhänglich.

    Ich möchte gern Mäuschen spielen. »Kann ich den Jungen mal sehen?«, frage ich vorsichtig telefonisch bei Frau Korselt an. »Ja«, antwortet sie unerwartet freizügig, »kein Problem.« Ich hatte ein klares, ablehnendes Nein erwartet. Meine Frage war schon etwas vermessen. Stattdessen nur Wohlwollen und Entgegenkommen. Das tut gut. Mit einem Schlag verwandelt sich mein Zweifel in zappelige Aufgeregtheit.

    Eine der gerichtlichen Auflagen an die leibliche Mutter verlangt, den Jungen jeden Tag in die Kindereinrichtung zu bringen. Es ist die einzige Auflage, die seine Mutter mehr als drei Tage lang einhält.

    Frau Korselt hat sich mit mir am Kindergarten verabredet. Sie wird mir den Jungen zeigen.

    Wie fühlt man sich, wenn man sich sein neues Kind im Kindergarten aussuchen geht? Wie im Kaufhaus? Das Kleid gefällt mir, das nicht? Ich suche nach einem Wort für mein mulmiges Gefühl und finde nichts.

    Stattdessen bleiben meine Gedanken an zwei Kinderaugen hängen. Ist er das? Bestimmt. Ich will, dass er das ist!

    Ein einziger kleiner Junge steht am Tor zum Kindergarten und lugt neugierig durch die Eisenstäbe. Das Gesicht zwischen die Stäbe gepresst schauen seine abstehenden Ohren außen an den Stäben heraus. Putzig sieht er aus, freundlich und lieb und ein wenig verschmitzt. Wenn das unser Ronny ist, dann habe ich ihn jetzt schon gern.

    »Da ist ja unser Ronny«, ruft Frau Korselt und zeigt auf den kleinen Jungen am Gartentor. Meine Bedenken sind weggeblasen, meine Zweifel sind mir unverständlich. Wenn der Junge jetzt nicht gleich einen epileptischen Anfall oder etwas ähnlich Abschreckendes bekommt, dann nehme ich ihn sofort mit. Das wird unser Ronny. Das ist doch völlig klar. Wie konnte ich nur fragen?

    Wir betreten den Kindergarten und gehen auf eine der Erzieherinnen zu. Die Kindergärtnerin empfängt uns betont freundlich und schüttelt jedem die Hand. Dann erzählt sie viele Dinge über Ronnys richtige Mutter, die ich als Fremde sicher nicht erfahren sollte.

    Der Erzieherin höre ich ihr nur mit halbem Ohr zu. Mich interessiert der Junge, ihn beobachte ich intensiv. Ronny spielt nicht mit den anderen Kindern. Er spielt gar nicht. Ziellos läuft er durch den großen Garten, greift sich ein Spielzeug, trägt es ein Stück und legt es wieder weg.²

    »Der Junge hört schlecht, Sie sollten sein Gehör ... .« Die letzten Worte der Kindergärtnerin höre ich schon nicht mehr. Ronnys abrupte Reaktion genau in diesem Moment ist mir viel wichtiger. Er bleibt wie angewurzelt stehen, hebt den Kopf und lauscht. Ich höre nicht sehr gut. Nur mit Mühe erkenne ich durch den Redeschwall der Kindergärtnerin das Pfeifen der Dampflok unserer Schmalspurbahn. Ronny hat sie schon länger gehört. Er hört offensichtlich sehr gut. Wenn die Kindergärtnerin das nicht erkennt, dann hat sie den Jungen nur gedankenlos abgetan. Ihre oberflächlichen Beobachtungen sind für mich nicht mehr wichtig. Ich will gehen. Ich weiß, dass ich Ronny heute nicht mitnehmen darf. Je länger ich hier stehe, desto schwerer fällt mir der Abschied.

    Wir gehen.

    Die Zeit bis zur Entscheidung des Gerichts wollen wir nutzen, um für den Jungen alles vorzubereiten. Bei Freunden borgen wir uns die Grundausstattung: Kindersitz, Reisebett, Hochstuhl, Hosen, Jacken, Schlafzeug. Marc holt die Sachen ab und stapelt alles erst einmal im Kinderzimmer. Laura, die in wenigen Tagen endlich auf ihre Sportschule wechseln wird, kommt aus dem Trainingslager nach Hause. Sie blickt in ihr vollgestopftes Kinderzimmer und protestiert: »Ihr habt mich wohl schon ausquartiert?« Schallend laut lachen wir gemeinsam los. Dann erzählen wir ihr endlich von Ronny und unserer Hoffnung und dass er bald bei uns einziehen wird.

    August 2001

    Drei Wochen sind vergangen, drei endlos lange Wochen. Das Gericht hat noch immer keine Entscheidung getroffen. Marc wird unruhig. Am liebsten würde er täglich auf dem Jugendamt anrufen. Das Jugendamt hat sein Möglichstes getan. Jetzt muss das Gericht entscheiden.

    Wer schon einmal mit Gerichten zu tun hatte, der weiß, dass man Entscheidungen mit Nachfragen nicht beschleunigt. Wir üben uns in Geduld, nicht gerade erfolgreich. Trotzdem vergehen die Tage irgendwie.

    Dienstag, 07. August 2001

    Laura hat sich mit dem Möbelberg in ihrem Zimmer arrangiert. Sie packt die Sachen für die Sportschule, morgen werden wir sie ins Internat bringen. Ich sitze im Büro und bin schlecht gelaunt. Draußen ist wunderschönes Wetter und ich muss bis spät abends hier drinnen aushalten. Nur Marc kann die Sonne genießen. Er hat sich vor einiger Zeit im Vertrieb selbständig gemacht. Dadurch ist er oft die ganze Woche unterwegs, manchmal aber auch wochentags zu Hause. So wie heute. Er will die Sonne für ein Ausdauerläufchen nutzen.

    Kurz nach zwei klingelt mein Telefon im Büro. Gedankenversunken und mürrisch hebe ich ab. »Hier ist Frau Korselt vom Jugendamt. Ich habe den Ronny bei mir, kommen Sie ihn abholen?«

    »Ja!«

    Mehr bekomme ich nicht heraus. Frau Korselt versteht mich. Im Büro bleibt schlagartig alles stehen und liegen. Hier ist jetzt nichts mehr wichtig, Ronny ist wichtig.

    Ich rufe zu Hause an, damit Marc ins Jugendamt kommt. Am Telefon meldet Laura sachlich korrekt: »Papa ist laufen.« »Das ist mir egal«, maule ich in meiner Aufregung unpassend. »Lass dir was einfallen«, knurre ich weiter, »Papa muss sofort ins Jugendamt kommen.« Ich wüsste nicht, was ich mir einfallen lassen soll. Unsere Laura schon: Sie kennt Papas Laufrunde, zieht sich die Turnschuhe an und läuft ihm entgegen. »Du sollst sofort ins Jugendamt kommen. Mehr hat Mutti nicht gesagt.« Mehr habe ich wirklich nicht gesagt. Mehr hätte ich vor Aufregung auch nicht herausbekommen.

    Marc zieht sich nur schnell um, das eigentlich erforderliche Duschen muss Ronny zuliebe ausfallen. Kurze Zeit später sitzen zwei völlig aufgelöste, angehende Pflegeeltern vor der versammelten Riege von Mitarbeitern des Jugendamtes und einem weinenden, schmutzigen, kleinen Jungen.

    Wir bekommen sehr viel erklärt und müssen eine ganze Reihe von Formularen unterschreiben. Keiner von uns beiden hört richtig zu. Wir unterschreiben stereotyp, antworten mit »Hmm« und »Ja« und widersprechen nicht. Merkt denn niemand, dass wir momentan nicht das Geringste von dem verstehen, was man uns mit so viel gutem Willen noch schnell mit auf den Weg geben will? Unsere Augen, unsere Gedanken, alles ist nur bei Ronny.

    Dem hat man einen Schokoriegel zu essen gegeben. Zumindest sieht er so aus: Schokolade quer über dem ganzen Gesicht. Jetzt soll er den Mund gewaschen bekommen und schreit bereits laut los, als nur der Wasserhahn aufgedreht wird. Marc nimmt den Jungen auf den Schoß und streichelt ihn. Schon ist Ruhe.

    Irgendwann geht ein glücklicher Papa mit einem kleinen Ronny an der Hand zum Auto und fährt unseren neuen Sonnenschein nach Hause.

    Spät am Abend schläft Ronny endlich. Wir haben wieder Zeit für unsere Große. Laura kuschelt sich traurig an meine Schulter: »Das ist schade. Ich habe mir die ganze Zeit einen Bruder gewünscht. Und jetzt, wo er kommt, gehe ich ins Internat. Aber Ihr werdet Euch bestimmt ganz lieb um ihn kümmern, ja?!« Das werden wir, Laura, versprochen.

    Ronny verbringt die Nacht im Reisebett in

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