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Wer von vorne sticht, kann kein Mörder sein
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Wer von vorne sticht, kann kein Mörder sein
eBook545 Seiten7 Stunden

Wer von vorne sticht, kann kein Mörder sein

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Über dieses E-Book

Roman um einen während der 68er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Kriminalpraxis forschenden Rechtsprofessor, den seine Studien das liederliche Leben lehren -
Der Mörder wurde einst gehängt, der bloße Totschläger jedoch kam mit dem Zuchthaus davon. Der Kriminalprofessor Emil Kannengiesser, Rechtsgelehrter und Chef des Instituts für deutsches und ausländisches Strafrecht an der ehrwürdigen Universität Freiburg im Breisgau, trauert immer noch diesen Zeiten nach, wo sich doch sein wissenschaftliches Hauptwerk gerade mit einem der den einfachen Totschlag zum Mord verschärfenden Merkmale im Strafrecht befasst, der heimtückischen Tötung des Opfers. Ihn ereilt das Forscherglück, mit der von seinem Assistenten Assessor Henne geleiteten praktischen Arbeitseinheit Kriminalistik seines Instituts an der Aufklärung eines sich in unmittelbarer Nachbarschaft ereignenden Tötungsdelikts beteiligt zu werden, in dem der Ehemann seine frischgetraute Frau ohne jede Gegenwehr von vorne erdolcht hat. Wenn auch hierbei seine strafrechtswissenschaftlichen dogmatischen Erkenntnisse zutiefst erschüttert werden, erlangt seine wissenschaftliche Arbeit dennoch Bedeutung für Leben und Tod des nach Texas geflüchteten Täters, wobei sich die Tat gar als Teil eines Karussells zum Waschen von Drogengeldern darzustellen scheint. In den Schlingen dieses Drogenkartells droht sich schließlich Kannengiesser selbst zu verfangen, als er mit einem Freudenmädchen die Unzucht praktisch erkundet, um sich gegen die tiefen gesellschaftlichen Veränderungen der 68er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu wappnen und als einer der führenden konservativen Strafrechtler gegen das große Reformvorhaben dieser Zeit, das Sexualstrafrecht von den jahrhundertealten Fesseln überkommener Moral zu befreien, anzukämpfen. Zeigt doch gerade der Werdegang des nun in Texas von der Todesstrafe bedrohten deutschen Täters, wohin ein unsittlicher Lebenswandel führt, wenn man der das bisherige Sexualstrafrecht prägenden Unzucht von Ehebruch über Prostitution und Promiskuität bis hin zur Homosexualität und der Notzucht frönt. Doch die Liederlichkeit macht selbst vor Kannengiesser nicht halt, auch wenn sie dem Freiburger Mörder den elektrischen Stuhl erspart, und eröffnet seinem Assistenten Assessor Henne sogar die Möglichkeit, endlich zu promovieren, an sich unabänderliche Voraussetzung der von ihm eingenommenen Dienststelle.

SpracheDeutsch
HerausgeberKarsten Cascais
Erscheinungsdatum2. Apr. 2014
ISBN9781311090928
Wer von vorne sticht, kann kein Mörder sein
Autor

Karsten Cascais

Karsten Cascais ist ein deutscher Publizist, Verfasser wissenschaftlicher und belletristischer Texte, er betreibt unter unterschiedlichen screen names verschiedene politische und philosophische gesellschaftskritische Blogs. Nach einem Studium der Rechte und Philosophie arbeitete er in Wissenschaft, Wirtschaft und Recht. Seit den neunziger Jahren lebt er überwiegend in Südwest- beziehungsweise Südeuropa und war an verschiedenen, auch internationalen Projekten zur Erforschung übergreifender Gesellschafts- und Kommunikationsstrukturen beteiligt.

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    Buchvorschau

    Wer von vorne sticht, kann kein Mörder sein - Karsten Cascais

    Abstrakt ist die Gerade, die Natur aber kennt keine Gerade, sondern in ihr ist die Gerade nur ein Sonderfall der Rundung, die als Gerade auch nur von uns Menschen in ihren sie kennzeichnenden Eigenschaften erkannt oder genauer erdacht wird.

    So, wie er im Leben stand, mit anderen sprach, sich gab, auch sich selbst empfand, war alles an ihm gerade, mithin abstrakt. Sein Äußeres indessen gehörte der Natur, rund schien alles an ihm zu enden. Nicht nur sein Bauch, der ihm als Endvierziger schließlich zustand, nein, ebenso seine Waden, Oberschenkel, Arme, Hände, selbst seine Finger und schließlich ganz besonders sein nur mit einem Kranz behaarter Kopf. Vor allem sein Kopf, der war kugelrund, mit Ausnahme seines Kinns, das zusammen mit dem Hals eine eigene Rundung bildete. Die Rundheit seiner äußeren biologischen Existenz stand in einem offenen Widerspruch zu seinem inneren Wesen. Noch niemals hatte jemand ihn etwas Rundes sagen hören, es sei denn, man sähe es als rund an, dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, fünf gerade sein zu lassen. Nein, er unterschied in Allem, immer und überall und bis zum bitteren Ende. Stets fand er den letzten und somit entscheidenden Gesichtspunkt, Vielfalt und Mannigfaltigkeit indessen ließ er niemals gelten, waren sie doch nur Erscheinungen eines einheitlichen Ganzen das von ihren einzelnen Formen losgelöst allein in abstrakter Weise existierte. Selbst wenn er lachte, dann trat es nicht aus seinem Inneren in einer Weise heraus, dass ihm das Lachen anzusehen gewesen wäre. Nein, selbst sein Lachen war gleichsam nur ein abstraktes Abbild des Begriffs Lachen, so wie man in einem Lehrbuch nachlesen würde, was man tun müsse, um zu lachen. Oder so, wie man es manchmal liest, wenn ein Schriftsteller versucht, symbolisch das Lachen seiner Figuren darzustellen. Also etwa ha, haha, hahaha. Dabei kam es äußerst selten vor, dass er etwa mehrmals hintereinander ha, haha, hahaha sagte. Normalerweise erkannte man seine innere, zum Lachen neigende Einstellung daran, dass seine Augenwinkel leichte Falten warfen, sein Mund sich ein wenig in die Breite zog und er dann einige Mal heftig durch die Nase Luft hinausblies, etwa wie das dreimalige Gegenteil eines starken Einatmens. Seine Mitarbeiter entnahmen dieser Geste regelmäßig, ebenfalls zum Lachen eingeladen zu sein. Insbesondere pflegte er auf diese Weise darauf hinzuweisen, wenn er glaubte, eine witzige Bemerkung gemacht zu haben. Wenn es gar lustig zuging, dann - es geschah bislang nicht sehr oft - setzte er eine seiner beiden, von jeder Hand getragenen Aktentaschen, die er ständig mit sich führte, ab, schnaufte vier- bis fünfmal aus, nahm die abgestellte Tasche wieder auf und erklärte ha, haha, hahaha. Einen solchen Heiterkeitsausbruch indessen haben, wie schon angedeutet, bislang nur sehr wenige, die ihn kannten, miterleben können.

    Es ist recht eigenartig, dass, wenn man von einem Menschen zu erzählen beginnt, man zumeist mit seinen eher seltenen Eigenschaften anfängt, obgleich doch dasjenige, das man von ihm darstellen möchte, viel besser aus seinen vorherrschenden Merkmalen zu verstehen wäre. So auch bei ihm, der den einfachen Namen Emil Kannengiesser trug. Der heute in wahren und erdachten Geschichten kaum noch vorkommende Vorname Emil ist darauf zurückzuführen, dass unser Hauptdarsteller zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, also zu einer Zeit geboren wurde, als dieser Vornamen noch keineswegs als unmodern galt. Wie schlicht der Name Emil Kannengiesser auch klingen mochte, eine weit größere Bedeutung erlangte er zusammen mit seinen Titeln: Prof. Dr.jur.utr. Emil Kannengiesser, die ihm zu führen erlaubt waren. Das ist der vollständige Zivilname des Helden dieser Geschichte. Das Wesen des Professors Dr. Emil Kannengiesser wurde nun in der Tat nicht durch das Lachen gekennzeichnet, sondern durch den Ernst. Sein Ernst war der entscheidende Zug seines Charakters. Lachen spiegelt die Schönheit des Lebens wider, Trauer seine Mühsale. Ernst aber verneint beides und führt zu einer abstrakten Lebensform, darauf aus jedes Gefühl zu vermeiden. Gefühle jedoch, darüber war sich der Professor völlig im Klaren, waren einer abstrakten Institution unwürdig. Kannengiesser indes betrachtete sein Leben als eine Institution.

    Er besaß eine große Familie mit sieben Kindern, denn die Definition des Begriffs Familie setzt eine hohe Zahl von Kindern voraus, je mehr Kinder, umso sicherer erscheint die begriffliche Erfassung. Dies folgt bereits daraus, dass man die mittlerweile weitverbreitete Form der Familie mit nur zwei oder gar einem Kind nicht schlicht Familie, sondern Kleinfamilie nennt. Kannengiesser aber hielt es mit seinen Pflichten, die ihm das Leben aufgab, sehr genau und hatte seine Familie ohne eine sie begrifflich einschränkende Verengung gegründet. Später erkannte er jedoch ebenso die Last, die eine Familie solchen Ausmaßes mit sich brachte und hat in von ihm veröffentlichten wissenschaftlichen Stellungnahmen verschiedentlich vorgeschlagen, den herkömmlichen Begriff der Familie zu überdenken und dabei den Gepflogenheiten und der tatsächlichen Übung mehr Gewicht beizulegen. Er selbst hatte jedoch mit der Gründung seiner Familie schon verantwortungsvoll begonnen. Seinen ersten Sohn zeugte er, nachdem er nach seiner Habilitation seinen ersten Ruf auf einen Lehrstuhl für Strafrecht erhalten hatte. Das geschah bereits in solch jungen Jahren, dass er heute, obwohl noch nicht fünfzigjährig, bereits der Leiter eines ebenso großen wie anerkannten Instituts für deutsches und ausländisches Strafrecht an einer sehr schön gelegenen Universität war. Die Schönheit der von ihm bewohnten Gegend kannte er freilich nur aus den Schilderungen seiner Besucher, dennoch wiederholte er auch Dritten gegenüber manchmal diese ihm mitgeteilte Beurteilung, als sei es seine eigene.

    Dem Vorstand eines derart bedeutenden Instituts obliegen weit mehr Aufgaben, als ein Außenstehender erkennen konnte. So musste er nicht nur sein Institut mit seinen vielen wissenschaftlichen Mitarbeitern verwalten, über die Anschaffung der viele tausende Bände umfassenden Bibliothek wachen und einen Teil dieser Bücher auch selbst lesen und hierüber und über andere Dinge wiederum eigene, die Bibliothek erneut vergrößernde Veröffentlichungen verfassen und sein Institut und Fachgebiet ebenso wissenschaftlich vertreten, nein, darüber hinaus hatte er auch noch seine Studenten zu unterrichten, die in Scharen in seine Vorlesungen strömten - zu Beginn des Semesters mehr, zu seinem Ende hin weniger -, wo er ihnen die materiellen Grundlagen des deutschen Strafrechts, stets mit Hinweisen auf die Bestimmungen ausländischer Rechtsordnungen ergänzt, erläuterte. Schließlich verwandte er einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitszeit für seine eigenen rechtswissenschaftlichen Forschungen. Er hatte ein Buch im Umfang von dreihundert Seiten über den Kaufhausdiebstahl unter Berücksichtigung von Zuwanderern aus der dritten Welt geschrieben und dabei Erkenntnisse von beachtenswertem Gewicht gefunden, die selbst andere Rechtsgebiete noch beeinflussten. Seine dogmatischen Schriften zum Strafrecht trugen ihm große und weit über die Grenzen Deutschlands hinausreichende Anerkennung ein, wie sein fünfhundert Seiten umfassendes Werk über die verschiedenen Schichten des Vorsatzes und der Absicht des Täters, der sein Opfer von hinten ersticht, in besonderem Maße zeigt.

    Nun mag man sich zu Recht fragen, wie ein derart ausgelasteter Mann in einem Roman überhaupt noch interessieren könne, wo doch seine Zeit ohnehin zu nichts mehr reichen dürfte, zumindest nicht zu Dingen, die auch jenseits seiner eigentlichen Fachdisziplinen von Interesse wären. Und doch, so wenig man es auch zu glauben vermag, die Seite seines Lebens, der sich diese Geschichte zuwendet, wurde bisher noch nicht einmal erwähnt. Ein derart vielschichtiges - um sich eines wichtigen Fachbegriffs seines dogmatischen Hauptwerks zu bedienen – Leben wie dasjenige von Kannengiesser konnte nur ein Mensch führen, der Gaben besaß, über die andere normalerweise nicht verfügten. Seine Hauptbegabung bestand darin: alles, was er sah, was ihm widerfuhr, auf den Kern der Dinge zurückzuführen. Diese Methode half ihm, Zeit zu sparen, weswegen er spät abends oder des Nachts, wenn er sich scheute, das Leben seiner stark angewachsenen Familie zu teilen und allein noch in seinem Institut weilte, Muße fand, in seiner Bibliothek kriminologische und später auch kriminalistische Werke zu studieren. Zuerst war es ein gerichtsmedizinisches Buch, dem sich seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte. Er hatte es wahllos herausgegriffen und aufgeschlagen und sah auf einer Seite die Fotografie des Brustbildes eines toten Mannes mit geöffnetem Mund, in dem man deutlich die oberen und unteren Zahnreihen erkennen konnte. Dort, wo sich normalerweise der zweite Zahn links oben neben dem Eckzahn befand, klaffte eine tiefe schwarze Lücke, die auch Teile der angrenzenden Zähne in Mitleidenschaft gezogen hatte und wohl hinunter bis zur Pulpa reichte. Auf der anderen Seite des Gebisses - und das erregte sein Interesse ungemein – oben neben dem rechten Eckzahn war von dem zweiten Zahn nur noch ein Stumpf übrig, der ein wenig über das Zahnfleisch hinausragte, ansonsten aber von einer ähnlichen, nur kleineren schwarzen Lücke ersetzt. Kannengiesser sah abwechselnd die eine und dann die andere Lücke an, verglich sie immer wieder und schüttelte den Kopf. Er stand zwischen den fast vier Meter hohen, von Büchern überquellenden Regalen auf einer Leiter in dem nur spärlich beleuchteten Raum mit den kriminologischen und kriminalistischen Werken und wunderte sich über die schwarzen Zahnlücken. Schließlich las er den Text, der die Abbildung erläuterte. Es handele sich hierbei, wie es dort hieß, um einen hinterrücks erschossenen Mann im Alter von 59 Jahren, der ein starker Pfeifenraucher gewesen sei. Er habe die Gewohnheit besessen, seine Pfeife immer an derselben Stelle zwischen den Zähnen zu halten, die darunter zunehmend gelitten hätten. Nach wohl fünfundzwanzig Jahren sei auf der linken Seite wegen der ständigen Abnutzung eine so tiefe Lücke entstanden, dass er seine Pfeife nur noch unter großen Schmerzen habe halten können. Deswegen habe er, nunmehr etwa siebenundvierzig Jahre alt, von der alten Stellung abgelassen und fortan die Pfeife auf der rechten Seite zwischen den Zähnen gehalten. Wäre der Mann, hieß es im Schlusssatz, nicht mit neunundfünfzig Jahren ermordet worden, dann hätte vermutlich die restliche Zeit seines Lebens noch ausgereicht, auch auf der rechten Seite den zur Stabilisierung seiner Pfeife benutzten Zahn bis hinunter zur Pulpa abzuschleifen. Emil Kannengiesser las diesen Absatz mehrmals und schüttelte dabei weiterhin den Kopf. Betraf doch der hier geschilderte Sachverhalt den gleichen Gegenstand, dem er sich fast drei Jahre gewidmet hatte, als er seine Arbeit über die Vielschichtigkeit des Vorsatzes und der Absicht des Täters, der sein Opfer von hinten ersticht, abgefasst hatte. Dass es sich bei der Abbildung um ein erschossenes Opfer handelte, war zwar zu beachten, vermochte indessen nicht die entscheidenden Gesichtspunkte zu verändern. Nein, die Ähnlichkeit war offensichtlich, und mit einmal erkannte er ganz klar, wie einseitig seine bisherige Methode gewesen war, als er sich ausschließlich mit dem dogmatischen Merkmal der Heimtücke im Tatbestand des Mordes beschäftigt hatte. Niemals hätte er einem solchen Sachverhalt mit dem hinterrücks erschossenen Pfeifenraucher gerecht werden können - von seinem bisherigen verengten begrifflichen wissenschaftlichen Selbstverständnis aus betrachtet. Alle seine Überlegungen, die ihn, als er immer noch auf der Leiter stand, überfielen, können hier nicht wiedergegeben werden, sie rührten an den Festen seiner Wissenschaftstheorie und Erkenntnislehre. Das Ergebnis dieser sich ihm hier anbahnenden gedanklichen und auch methodischen Krise jedoch eröffnete dem Leben des Rechtsprofessors Dr. jur. Emil Kannengiesser solche Perspektiven, die er sich während seines bisherigen wissenschaftlichen Werdegangs niemals erträumt hätte und die er, selbst wenn er sie sich erträumt hätte, vielleicht sogar verachtet hätte. Denn er beschloss, in Zukunft seine Forschungen über die begrifflichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs durch die tatsächlichen Abläufe der gegen sie erfolgenden Verstöße, einschließlich der Existenz des Täters, zu ergänzen und studierte künftig allesamt die sich mit diesen Aspekten befassenden Werke der kriminologischen und kriminalistischen Abteilung seiner Bibliothek. Es erschloss sich ihm dabei eine neue Welt, was aber nicht bedeutete, dass er es versäumt hätte, diese neue Welt jeweils auf die ihr eingeborenen Kerne zurückzuführen. Ihn interessierte etwa nicht das Konkrete des von hinten erschossenen Pfeifenrauchers, dies wäre unwissenschaftlich gewesen, nein, er verfolgte eine ziemlich gewagte Hypothese, dass nämlich die Lücke in der Zahnreihe des Pfeifenrauchers in einem noch aufzudeckenden Zusammenhang mit der Art seines frühen Endes stehen müsse. Der Nachweis einer solchen Verbindung würde nicht nur für alle gleichgelagerten Fälle, sondern für die gesamte Rechtswissenschaft, wenn nicht sogar darüber hinaus, in der Tat eine revolutionäre Erkenntnis darstellen, einem Paradigmenwechsel gleich, einer Umkehrung von Ursache und Wirkung entsprechend.

    Das Leben eines Wissenschaftlers unterscheidet sich grundsätzlich von dem Leben aller anderen Menschen, denn Wissenschaftler sein bedingt eine totale Existenz. Ein wahrer Wissenschaftler könnte niemals die Fragen des täglichen Lebens mit anderen Mitteln angehen als die seines Forschungsgebietes. Ein wirklicher Wissenschaftler hat daher auch keine eigentlichen Hobbys, weil jede Beschäftigung wiederum in eine neue Wissenschaft ausarten würde. Kannengiesser hatte vor zwei Jahrzehnten einmal Münzen gesammelt, da er sich der Totalität und Eindimensionalität seines Lebens als Wissenschaftler bewusst geworden war und diese intellektuelle Isolation durchbrechen wollte. Nach einem Jahr schrieb er bereits den ersten, heute noch grundlegenden Aufsatz über die bei den Ausgrabungen in Akretyrion auf Santorin in Griechenland gefundenen Münzen und recht bald zitierte man seine in der so schwer abgerungenen Freizeit verfassten Arbeiten mit großer Achtung als die Meinung eines der führenden Numismatiker. Aber bald musste Kannengiesser feststellen, dass eine vollständige Durchdringung des Gegenstandes seines neuen Hobbys zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, so viel, dass gar seine Arbeit als Strafrechtswissenschaftler unter seinem Hobby leiden würde. Er gab die Numismatik kurz entschlossen wieder auf und beschied sich von neuem mit der eindimensionalen Totalität seiner strafrechtswissenschaftlichen Existenz. Ganz anders jedoch entwickelte sich nunmehr seine Zuwendung zur Kriminologie und mehr noch zur Kriminalistik. Nachdem er alle grundlegenden und Standardwerke dieser Gebiete durchgearbeitet und die Liste der laufenden Fachzeitschriften seines Instituts einschlägig erweitert hatte, war er sich sicherer denn je, dass er mit dieser neuen, aber auch zeitraubenden Beschäftigung seinem angestammten Fachgebiet der Strafrechtswissenschaft mehr dienen konnte als mit seinen bisherigen Methoden und erwartete davon neue dogmatische Einsichten zu den einzelnen Merkmalen der Strafrechtsbestimmungen, die ihm ansonsten für immer verschlossen geblieben wären. Deswegen brach er seine kriminalistischen Studien auch nicht ab, als sich herausstellte, dass es nicht mehr ausreichte, sich ihnen nur abends oder nachts zu widmen. Im Gegenteil, es gelang ihm, sie in den Rang eines eigenen Forschungsprojekts zu erheben, so dass sie nunmehr auch tagsüber während der Dienststunden betrieben werden konnten. Zugleich richtete er eine Forschungsstelle Kriminalistik ein, abgekürzt Fok genannt, der er einen seiner ihm am vertrautesten wissenschaftlichen Assistenten und auch eine Sekretärin zuordnete.

    Dies geschah alles bereits vor Jahren, mittlerweile - wir befinden uns in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts - war die Fok (also die Forschungsstelle Kriminalistik) eine bei allen Kriminalisten bekannte Einrichtung, an die selbst hartgesottene Praktiker sich wandten, wenn kein anderer Weg mehr weiterführte. Nicht wenige Verbrechen, die die Öffentlichkeit aufs Heftigste bewegten oder auch erregten, konnten erst mit Hilfe von Prof. Dr. Emil Kannengiesser und seiner Fok aufgeklärt werden. Das war aber auch seinem Assistenten zu verdanken, dem Assessor Henne, der dafür sorgte, dass Kannengiesser bei der Beschäftigung mit der Kriminalistik immer eine Hand frei hatte, auch indem er ihm von seinen beiden Aktentaschen, die der Professor stets mit sich führte, manchmal wenigstens eine abnahm und sie ihm trug. Henne galt als einer seiner erfahrensten Assistenten und hatte den Professor in dieser Eigenschaft bereits auf seinem akademischen Weg begleitet, der ihn über verschiedene Berufungen auf Lehrstühle mehrerer anderer Universitäten schließlich an die Spitze seines jetzigen Instituts geführt hatte. Er war dem Professor dabei unentbehrlich geworden und hatte sich auch selbst große Verdienste erworben, indessen mit Ausnahme des eigentlichen wissenschaftlichen Bereichs, dem seine von ihm eingenommene akademische Dienststelle an sich entstammte. Von dem Entwurf seiner Doktorarbeit, an der er seit vielen Jahren arbeitete, hatte noch niemand je eine Zeile gelesen.

    2 Die Tote auf dem Polizeihof

    Wollten die Beamten der Kriminalpolizei sich an Prof. Kannengiesser wenden, durften sie am ehesten während der Semesterferien auf seine Hilfe rechnen. Denn dann verfügte der Professor über mehr Zeit als üblich, weil er von seinen Pflichten zur Lehre befreit war und keine Vorlesungen abhalten musste. Heute aber war Januar, eines der letzten Jahre des sechsten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts hatte gerade erst begonnen und das Wintersemester dauerte noch an, als die Kriminalpolizei in Freiburg im Breisgau in einem sehr merkwürdigen Fall die Ermittlungen aufzunehmen gezwungen wurde. Kriminalobermeister Stasch versah im Bereitschaftszimmer der örtlichen Kripo den Nachtdienst. Draußen war es bitterkalt. Vor ein paar Tagen hatte es lange geschneit und der Schnee lag heute selbst noch in der Oberrheinebene, obwohl er sich gewöhnlich nach jedem Schneefall immer sehr schnell wieder auf die Höhen des Schwarzwaldes zurückzog. Bei einem Einsatz musste Stasch sogar Schneeketten aufziehen, um in den Schwarzwald hoch nach St. Peter zu fahren, wo sich ein Mönch das Leben genommen hatte. Jetzt saß Stasch in der warmen Dienststube, trank seinen Pulverkaffee und hoffte, bei dieser Kälte nicht nach draußen zu müssen. Diese Hoffnung bestand nicht zu Unrecht, denn erfahrungsgemäß - und Stasch verfügte als langjähriger Kriminalbeamter über solche Erfahrung - geschehen bei Temperaturen unter null Grad kaum Verbrechen. Er war nicht allein, obwohl sich im Augenblick niemand außer ihm im Zimmer befand. Sein Kollege hatte sich im Nebenraum hingelegt um zu schlafen. Das entsprach zwar nicht der Dienstvorschrift, jedoch der Übung. Auf diese Weise konnten sie sich jedenfalls abwechseln und im Notfall war zumindest einer von beiden ausgeruht.

    Stasch hatte gerade die Tasse abgesetzt, als er die Tür zum Flur des Hauses, in dem seine Dienststelle untergebracht war, schlagen hörte. Er blickte zur Uhr, es war genau dreißig Minuten nach Mitternacht. Jemand schritt die Treppe hoch und klopfte an der Tür, die zu dem Vorraum führte, der nur durch eine Glastür getrennt vor dem Bereitschaftszimmer lag. Sie wurde geöffnet und ein Mann trat ein, der sich unsicher umsah und sich, wohl geblendet von dem durch die Glastür in den Vorraum dringenden Licht des Bereitschaftszimmers, nur zögernd dessen Eingang näherte. Dort klopfte er erneut an und betrat, nachdem ihn Stasch hierzu aufgefordert hatte, dieses Zimmer. Der späte Besucher trug einen dunkelblauen Mantel, der zugeknöpft war, jedoch ohne Schal, sodass man eine weinrote Krawatte auf einem weißen Hemd erkennen konnte. Er hatte volles Haar, sein aufgeschwemmtes Gesicht wurde von einer dunklen Hornbrille beherrscht. Er mochte Mitte dreißig sein. Nachdem er eingetreten war und die Glastür wieder geschlossen hatte, verbeugte er sich ein wenig und sagte zu Stasch, der hinter seinem Schreibtisch eine dienstliche, das heißt straffere Haltung eingenommen hatte: „Gestatten Sie die Störung zu so später Stunde, aber ich sehe, Sie sind noch wach und müssen zur Nacht uns Bürger treu behüten. Das wachsame Auge des Gesetzes schläft niemals. Stasch wollte unwirsch reagieren, er hielt den Mann für angetrunken, beherrschte sich jedoch. „Mein Name ist, fuhr der Besucher fort, „Doktor Linsener, Dr. Georg Linsener, ich bin Studienrat und habe Ihnen meine Frau mitgebracht, die ich unten im Wagen allein gelassen habe. Den Wagen habe ich in Ihrem Innenhof geparkt. Meine Frau ist tot, vermutlich ermordet. Daraufhin verbeugte er sich erneut und verließ das Zimmer. Stasch wollte ihn zuerst zurückrufen und den Unfug nicht auf sich beruhen lassen. Schließlich verbrachte er nicht die Nächte in den Amtsräumen der Kriminalpolizei, um von angetrunkenen Nachtschwärmern zum Narren gehalten zu werden. Dann ließ er den angeblichen Studienrat doch ziehen und lachte sogar über diesen gedrechselt wirkenden Mann. Eine Zeitlang dachte er darüber nach, was Menschen wohl zu solchen Streichen veranlassen könnte? Vielleicht eine Wette. Nun, dachte Stasch, die hat der Studienrat jetzt wohl gewonnen, und er musste nochmals schmunzeln. Dann hörte er wieder Schritte und erneut ein Anklopfen und noch einmal trat Dr. Linsener ein. „Entschuldigen Sie, habe ich meinen Hut hier liegenlassen? Zuerst wollte Stasch 'jetzt aber raus' brüllen, verneinte dann aber einfach wahrheitsgemäß die Frage. „Dann habe ich ihn wohl in meinem Wagen vergessen, mutmaßte der Besucher und ging wieder hinaus. „Vergessen Sie nicht, Ihre Frau mitzunehmen!, rief Stasch ihm noch hinterher, jedoch hatte dieser bereits die Tür des Vorzimmers wieder geschlossen. Stasch lachte noch einmal und fand, er habe sich wacker geschlagen. Der Mann werde zu seinen Freunden zurückkehren und berichten, wie humorvoll die Polizei bei ihrer Wette mitgespielt habe. Dabei hatte ihm erst kürzlich seine Frau vorgehalten, überhaupt keinen Humor zu besitzen, er sei ein richtiger Polizist. Hierüber hatte er sich sehr geärgert und er stellte sich nun vor, wie er ihr von diesem nächtlichen Besuch erzählen werde. Anschließend dachte er über seine Freunde und Kollegen nach, die wirklich kaum über Humor verfügten. Humorvoll sein, das ist, so fand er, wenn man über sich selbst lachen könne und dazu wären sie niemals in der Lage. Er aber könne über sich selbst lachen, wie dieser nächtliche Vorfall schließlich bewiesen habe.

    Er dachte wieder an seine Frau und ihre Reaktion, wenn er ihr von diesem Studienrat erzählen werde, und dann sann er über den angeblichen Studienrat nach. Als Kriminalist war er es gewohnt, genau zu beobachten, aber bei dem Studienrat war ihm nichts Besonderes aufgefallen. Er lachte wieder laut auf, diesmal, weil er sich vorstellte, dass der Studienrat wirklich ein Studienrat gewesen sei und sein Namen wirklich Dr. Linsener wäre und er wirklich seinen Wagen mit der Leiche seiner Frau im Innenhof abgestellt hätte. Das wäre ein echter Scherz gewesen. Als er dann nicht mehr lachte, stellte er sich vor, was wohl sein Chef und die Kollegen zu einem solchen Scherz sagen würden, ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ. Eigentlich schien es ihm absurd, als er schließlich überlegte, in ein anderes Zimmer zu gehen, um in den Hof hinunterzusehen. Er machte es dennoch und sah wirklich mitten im Hof einen Wagen, einen BMW, stehen. Mehr konnte er nicht erkennen, denn es war ziemlich dunkel. Was er indes gesehen hatte, versetzte ihn in eine solche Aufregung, dass er seinen Kollegen weckte und mit ihm in den Hof hinuntereilte. Der Kollege kannte den Hauptschalter für die Hofbeleuchtung, die eingeschaltet den ganzen Innenhof mit gleißendem Licht überflutete, in dessen Mittelpunkt der BMW stand. Während er auf den Wagen zulief, sah Stasch, dass er dunkelblau war und ein polizeiliches Kennzeichen der Stadt Freiburg besaß. Erleichtert stellte er fest, dass die Vordersitze leer waren, bei dem Wagen angelangt schien es jedoch im Scheinwerferlicht der Hofbeleuchtung, als befänden sich dunkle Flecken auf dem Beifahrersitz. Er blickte in den Fond, auf die Hintersitze, er war solche Anblicke gewöhnt, sie erschreckten ihn nicht, jetzt aber doch. Denn der Studienrat konnte wohl durchaus ein Studienrat sein und mochte auch wirklich Dr. Linsener heißen, jedenfalls müsse er verrückt sein, dachte Stasch. Denn auf dem Rücksitz lag eine Frauenleiche. Unklar war nur, ob es wirklich seine eigene Frau war. Die Beine der Frau waren auf der Sitzbank ausgestreckt, ihr Rock weit über die Oberschenkel hochgerutscht, ihr Oberkörper hing zwischen der Rücklehne eines Vordersitzes und der Rückbank, ihr Kopf berührte fast den Boden. Stasch stand fassungslos vor dem Wagen und brachte schließlich nur hervor: „Nein." Dann kam auch sein Kollege, der sich ebenfalls wunderte, mehr noch, als Stasch ihm in Stichworten den nächtlichen Besuch schilderte. Stasch ging zurück in das Bereitschaftszimmer und rief die Mordkommission zusammen. Da er allen Mitgliedern erklärt hatte, wieso der Wagen mit der Leiche mitten auf dem Hof der Kriminalpolizei stand, dauerte es weniger lange als üblich, bis alle Beamten eingetroffen waren. Stasch hatte noch nicht einmal einen ersten schriftlichen Bericht beginnen können.

    3 Vor der wissenschaftlichen Entdeckung der Tat

    „Guten Morgen, Herr Professor, sagte mit einem wie gewöhnlich zu einem breiten Grinsen verzogenen Gesicht Assessor Henne, als Kannengiesser in das Zimmer seines Assistenten trat. „Guten Morgen, Herr Henne, erwiderte er den Gruß und stellte eine der beiden mit Büchern prall gefüllten Aktentaschen ab. Henne hatte sich, wie es sich gehörte, von seinem Stuhl erhoben und stand etwa einen Meter vor dem Professor, bevor das allmorgendliche Zeremoniell der Begrüßung begann. Dieses bestand darin, dass sich Kannengiesser nicht darüber schlüssig werden konnte, ob er Henne nun die Hand geben sollte oder nicht. Dabei winkelte er seinen rechten Arm ein wenig an, so dass seine Hand andeutungsweise aus der Vertikalen in die Horizontale zu wechseln schien, wobei er auch schon die Handfläche öffnete, dann aber, als verlasse ihn der Mut, den Arm und somit auch die Hand wieder fallen ließ, um das Ganze nach ein paar Sekunden zu wiederholen, wobei sich von Mal zu Mal die jeweils schon geöffnete Hand immer mehr der horizontalen Lage annäherte. Mitarbeiter und Kollegen, die den Professor gut genug kannten, streckten ihm schon nach den ersten Zuckungen seines rechten Armes ihre Hand entschlossen entgegen, um der Ungewissheit sogleich ein Ende zu bereiten. Nicht jedoch Assessor Henne, der, wie es die Regeln des Anstands verlangten, seine Hand erst dann zum Zeichen des Grußes reichte, wenn der Ältere und ihm zudem noch amtlich Vorgesetzte seinerseits eindeutig seine Hand zum Schlag darbot. Deswegen musste Kannengiesser jedes Mal etwa acht bis zehn Anläufe nehmen, um seine Hand in die rechte Position zu bringen, auf die hin Assessor Henne sich erlaubte, die eigene dort hineinzulegen und ihm noch einmal guten Morgen zu wünschen. Nachdem dies heute geschehen war, setzte sich Kannengiesser auf einen der beiden Stühle an Hennes Besuchertisch, wobei er auch die andere Aktentasche abstellte. Henne nahm auf dem gegenüberstehenden Stuhl Platz.

    „Ach, Herr Henne, begann der Professor wie üblich zu klagen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich alles zu tun habe. Ich komme vor lauter Arbeit zu nichts mehr. Glauben Sie mir, noch nicht einmal die Fachzeitschriften kann ich mehr verfolgen. Gestern wusste mir doch einer Ihrer Kollegen von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu berichten, die ich nicht kannte. Stellen Sie sich vor, ich kannte sie wirklich nicht! Obwohl sie vor sechs Monaten in der Neuen Juristischen Wochenschrift abgedruckt war! Schrecklich! Auch peinlich. Henne nickte verständnisvoll, wobei er für einen Außenstehenden unmotiviert grinste, was jedoch diejenigen, die ihn kannten, nicht wunderte. Sie hatten sich daran gewöhnt, wie auch Kannengiesser. „Ja, ja, Herr Henne. Nicht einmal die Fachzeitschriften. Und das alles wegen dieser Gremien, die uns die so genannte akademische Selbstverwaltung beschert hat. Jetzt gibt es nämlich so viele von ihnen in der Universität, wie viele Leute früher mit den entsprechenden Aufgaben befasst waren. Nur sitzen in den angeblich demokratisch transparenten Gremien manchmal zehn, oft sogar zwanzig Personen. Und jeder muss, weil dies ihn demokratisch legitimiert, eine andere Meinung vertreten. Deswegen sind heute nicht nur zehn- bis zwanzigmal so viele Leute wie früher mit denselben Aufgaben beschäftigt, sondern sie benötigen auch zehn- bis zwanzigmal soviel Zeit wie früher. Und wenn zehn- bis zwanzigmal länger über eine Sache beraten worden ist, dann weiß schließlich niemand mehr, worum es eigentlich noch geht. Nur die Zeit ist verstrichen. „Aber, Herr Professor, wandte Henne vorsichtig ein, „immerhin werden jetzt doch alle Gruppen der Universität an den Entscheidungen beteiligt und die Entscheidungsfindung ist ein dialektischer Prozess, der die unterschiedlichen Klasseninteressen zur synthetischen Lösung bringt. Das ist demokratische Selbstverwaltung. „Herr Henne, gehen Sie, mit diesen Floskeln werden Sie doch nicht unserer Lage gerecht. Lassen Sie sich das von mir gesagt sein. Der einzige Unterschied zu früher ist der, dass heute niemand mehr weiß, welche Entscheidung getroffen werden soll, wogegen es früher wenigstens einer wusste. Und geht es nicht nur um Korinthen? Denn freilich, sollen die Entscheidungen richtig sein, so können sie sich ohnehin nur aus der Sache ergeben. Oder wollen Sie in Ihren demokratischen Gremien auch darüber befinden lassen, wie viel zwei mal zwei sind? Henne kannte Kannengiessers Standpunkt und schwieg deswegen, obwohl dessen Zweifel am Sinn der akademischen Selbstverwaltung ihn auch persönlich trafen. Assessor Henne saß selber in nicht weniger als elf solcher Gremien und er sah es als seine eigentliche Aufgabe im akademischen Wissenschaftsbetrieb an, dort die Interessen des von ihm vertretenen Mittelbaus des wissenschaftlichen Personals wahrzunehmen. Mit dieser zeitlich außerordentlich umfangreichen Inanspruchnahme begründete er auch den nicht dokumentierbaren, offenbar nur schleichenden Fortschritt seiner Arbeit an seiner eigenen Dissertation, obgleich die von ihm eingenommene Dienststelle nach den Verwaltungsvorschriften den Abschluss einer solchen Dissertation vorausgesetzt hätte. Seine Selbstverwaltungsaktivitäten waren zudem der Grund, warum Kannengiesser, wenn er Henne sprechen wollte, ihn nur vormittags nach seiner Vorlesung aufsuchte. Denn nachmittags hielt sich Henne regelmäßig in einem seiner drittelparitätisch besetzten Versammlungen auf.

    „Sie kennen doch, Herr Henne, den Fall, fuhr Kannengiesser unvermittelt fort, „den unser Bundesgerichtshof schon vor langer Zeit entschieden hat. Dort hatte ein Mann in einer so genannten Kneipe eine Frau mit besonders liederlichem Lebenswandel, ein so genanntes Flittchen, kennen gelernt und war anschließend mit ihr hinaus auf die Straße gegangen, in der Absicht, mit ihr den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Sie begaben sich in ein von der dort herrschenden Dunkelheit verborgenes Gelände und lehnten sich an einen behelfsmäßig errichteten Zaun, der eine drei Stockwerke tief ausgeschachtete Baugrube umgab. Dabei kam es zum Austausch von Zärtlichkeiten zwischen beiden, man nennt das wohl auch Knutschen. Der Mann nahm schließlich an der Frau noch ein so genanntes Petting vor. Als er jedoch zum Geschlechtsverkehr übergehen wollte, lehnte die Frau zu seinem Erstaunen ab. Nunmehr entdeckte der Mann, dass gleich neben der Stelle, wo sie an dem Zaun lehnten, sich in eben dieser Abtrennung, die ihnen Stütze bot, eine Lücke befand. Er wiederholte den Versuch, mit der Frau den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Als aber auch dieser Versuch scheiterte, umarmte er sie heftig, küsste sie, wobei sich nach sachverständiger Feststellung vermutlich auch ihre Zungen berührten, man spricht hier wohl von einem Zungenkuss, schob sie mit seinem Knie langsam in Richtung der Zaunlücke und stieß sie dort hinunter. Wohlgemerkt, er hielt die Frau in seinen Armen, Gesicht an Gesicht, vermutlich Mund an Mund, fasste sie dann mit beiden Händen an den Schultern und stieß sie von vorne, hören Sie, Herr Henne, von vorne sage ich, ja, er stieß sie von vorne mit aller Gewalt, da er ja auch ihre Arme, die seinen Hals umschlungen hielten, lösen musste, hinunter in die Baugrube, wo sie an den Folgen der Verletzungen, die sie sich beim Sturz zuzog, sogleich verstarb. Unser Bundesgerichtshof hat in letzter Instanz diesen Mann nicht wegen Totschlages, sondern wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Hiergegen habe ich mich in mehreren Veröffentlichungen gewandt. Der Bundesgerichtshof hatte ausgeführt, der Täter sei ein Mörder, weil er heimtückisch gehandelt habe, denn er habe die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers, das ihm in diesem Augenblick besonderes Vertrauen entgegengebracht habe, ausgenutzt. Nun war ich der Ansicht, dass nur derjenige heimtückisch handeln kann, der sein Opfer von hinten angreift und tötet. Von vorne nämlich kann das Opfer stets seinen Feind sehen und seine feindliche Absicht erkennen, und sei es auch nur in der letzten Sekunde vor seinem Tod. Es weiß, diesem Menschen kann ich nicht mehr trauen. Bei einem Angriff von hinten indessen ist dies bereits logisch ausgeschlossen. Und wie Sie wissen, Herr Henne, habe ich in meinem Werk über die Vielschichtigkeit des Vorsatzes und der Absicht des Täters, der sein Opfer von hinten ersticht, auch sehr viel rechtsvergleichendes Material aus dem Ausland verwendet. Aber Sie werden sich wundern, Herr Henne, es ist etwas Ungeheuerliches geschehen, etwas Unerhörtes. Ich beginne daran zu zweifeln, ob unser Bundesgerichtshof hier tatsächlich falsch entschieden hat, als er den Täter wegen Mordes und nicht nur wegen Totschlages verurteilt hat. „Aber weswegen, Herr Professor?, staunte Henne in der Tat. „Es ist schwer, so etwas einzugestehen. Aber ich kann nicht mehr ausschließen, dass ich das Merkmal der Heimtücke, die das Handeln des Täters kennzeichnet, zu äußerlich gesehen habe. Eigentlich ist es doch etwas Innerliches, wenn sich ein Opfer sicher fühlt, es keinen Angriff auf seine körperliche Integrität und sein Leben gewärtigen muss. Dabei stellt sich mir zunehmend mehr die Frage, ob dieses Vertrauen auch dann fortbestehen kann, wenn der Feind von vorne angreift. Sehen Sie, dieser Mann mit seinem so genannten Zungenkuss, man kann hier doch nicht mit völliger Sicherheit ausschließen, dass sich die Frau wirklich bis zum Schluss arglos in seinen Armen aufgehalten hat. Kannengiesser stand auf, nahm seine beiden Aktentaschen und schritt zur Tür. „Ja, das ist ein sehr schwieriges Problem", fügte er noch an und ging hinaus. Er war dabei derart in Gedanken versunken, dass er vergessen hatte, auch darüber nachzudenken, ob er Henne zum Abschied die Hand geben sollte oder nicht.

    Assessor Henne nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz und setzte die morgendliche Lektüre der Badischen Zeitung fort. Bei den örtlichen Nachrichten fand er eine Fünfzeilennotiz, die er überflog, ihn aber auch als Assistent der Fok nicht weiter interessierte. Dass nämlich gestern eine Frau ermordet worden sei. Das Nähere müsse noch aufgeklärt werden. Dem normalen Bürger mag ein Mord immer als etwas Besonderes erscheinen und sein Interesse wecken. Aber in Deutschland geschahen so viele Morde, dass ein Mord die Fok nicht nur wegen der örtlichen Nachbarschaft, in der er begangen worden war, auf den Plan rief. Dazu hätte es schon besonderer Umstände bedurft.

    4 Die Ermittlungen

    „Vielen Dank, dass Sie sofort gekommen sind, begrüßte Kommissar Meuseman Dr. Koller, auf den er vor dem Gebäude des gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Freiburg gewartet hatte. Koller gab ihm die Hand und nickte kurz, dann sprach er mit zittriger Stimme: „Gehen wir hinein! Meuseman führte Koller durch den Hintereingang in das Gebäude. Über eine Rampe gelangte man durch ein geöffnetes Rolltor in die im Souterrain gelegenen Einrichtungen des Instituts, wie die Seziersäle und den Aufbewahrungsraum für die Leichen. Die Rampe führte unmittelbar zum Vorraum der Leichenkammer, so dass die Leichenwagen ihre Fracht ohne Umwege anliefern konnten. Dr. Vollarius, der Oberarzt am Institut war, kam den beiden entgegen und schüttelte ihnen mit einem betont ernsthaften Gesichtsausdruck die Hände. Er führte sie zu einer mit Blech verkleideten beigen Wand, in der sich drei Reihen hoch jeweils vier nebeneinander liegende mit stählern wirkenden Türen, die überdimensionierten Backöfen glichen, verschlossene Luken befanden. Eine solche Tür, verriegelt wie ein Schott, öffnete Dr. Vollarius und holte die auf einem rollenden Brett liegende Leiche des im Wagen auf dem Innenhof der örtlichen Kriminalpolizei gefundenen Opfers hervor. Koller starrte regungslos auf die Stelle, wo sich unter dem weißen Tuch, mit dem der Körper bedeckt war, der Kopf abzeichnete. Als Dr. Vollarius das Gesicht freilegte, nickte Koller kurz, kaum bemerkbar, und wandte sich ab. Er war wie versteinert, seufzte nicht, schien gar zu atmen aufgehört zu haben. Langsam schritt er über die Rampe zurück hinaus ins Freie. Meuseman folgte ihm in einem größeren Abstand.

    „Es ist schrecklich, sagte Koller zum Kommissar, als dieser ihn eingeholt hatte. Mit einem betroffenen Kopfnicken stimmte Meuseman ihm zu und begann mit einer kurzen Schilderung der Vorgänge, die Kollers Tochter in den Gewahrsam der Polizei gebracht hatten. „Der Linsener, nein, das glaube ich nicht. Das traue ich ihm nicht zu. Niemals, das nicht, stieß Koller schließlich hervor. „Aber Sie als Arzt, Herr Dr. Koller, kennen doch wohl die Menschen, versuchte Meuseman ihn zu beruhigen, „und wissen sicherlich, wie sehr man sich in ihnen täuschen kann. Koller nickte heftig, wiederholte es, hörte gar nicht mehr damit auf und wiederholte bekräftigend: „Ja, ja, ja ja, jajaja, was Meuseman stutzig machte. „Hätte Linsener denn einen Grund gehabt, Ihre Tochter zu töten?, fragte er, zweifelte scheinbar aber sogleich seine eigene Frage an, „nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Immerhin war er mit ihr gerade erst verheiratet. „Aber das ist es doch!, rief Koller erregt, „Ellen wollte sich schon wieder scheiden lassen! „Gleich nach der Hochzeit?, fragte Meuseman einigermaßen überrascht. „Sie waren noch nicht einmal kirchlich getraut, antwortete Koller, „diese Woche sollte in unserer Kirche erst die Hochzeit sein. Sie gingen durch den Park mit seinen blattlosen Laubbäumen, in dem die Universitätsinstitute lagen. Auf einer Bank, die man vergessen hatte, über den Winter wegzuräumen, nahmen beide ohne Absprache Platz. Und ohne weitere Fragen Meusemans begann Koller zu erzählen. „Der Linsener, wissen Sie, Herr Kommissar, ist ein schwieriger Mensch. Wie oft hat der meiner Ellen schon während ihrer Verlobungszeit das Leben zur Hölle gemacht. Und immer wieder kam er wie am Boden zerschmettert zu ihr gekrochen, er könne nicht ohne sie sein und Ellen nahm ihn jedes Mal wieder auf. Einmal sogar hat sie die Polizei holen müssen, weil er, als sie ihn nicht zu sich in ihre Wohnung hineinließ, vor ihrer Tür derart tobte, dass sie um ihr Leben fürchtete. Seine Stimme stockte, er machte eine Pause, sprach dann aber entschlossen weiter: „Er hatte sie zuvor geschlagen. Tagelang musste sie eine Brille tragen, bis die Blutergüsse in ihrem Gesicht wieder abgeschwollen waren. Danach habe ich mit Linsener gesprochen, er schien wieder einmal völlig verzweifelt zu sein, voll von Selbstvorwürfen und versprach, sich in eine psychotherapeutische Behandlung zu begeben. In letzter Zeit ging es dann besser. Das glaubte ich jedenfalls. Im kleinen Kreis fand vorige Woche die Trauung vor dem Standesamt statt. Erst bei der kirchlichen Trauung sollte gefeiert werden. Nach dem Standesamt ging Linsener mit Ellen in seine Wohnung, zog seinen schwarzen Anzug aus und verkündete der fassungslosen Ellen: 'Jetzt bist du vor dem Gesetz meine Frau, gehörst mir und hast zu tun, was ich dir sage. Kümmere dich gefälligst selbst um die kirchliche Trauung. Ich bin heute Mittag mit Freunden zum Essen verabredet. Bis morgen brauchst du nicht mit mir zu rechnen.' Ellen kam ganz aufgelöst zu uns, doch wir konnten sie nicht trösten. Linsener kehrte tatsächlich erst am nächsten Tag zurück, ohne Erklärung, ohne Entschuldigung. Da nahm Ellen ihre Sachen aus der Wohnung und zog zu uns. Was sollten wir ihr noch raten? Sie kam von alleine darauf und erklärte am nächsten Tag, als sei es die größte Selbstverständlichkeit: 'Ich lasse mich scheiden.' Sie fuhr zu Freunden nach Baden-Baden, mit denen sie sich besprechen wollte. Ich war froh, ihr nicht raten zu müssen. Dem Linsener hatte sie in einem Brief alles geschrieben. Koller machte eine Pause. „Wann ist sie zurückgekehrt?, fragte der Kommissar. „Ich habe sie eben erst wieder gesehen, gab Koller zur Antwort und begann zu schluchzen, er fand aber sofort seine Beherrschung wieder und sprach mit fester Stimme weiter: „Sie sollte gestern zurückkommen. Mittags hatte Linsener bei uns angerufen und um eine Unterredung, so nannte er es wörtlich, gebeten. Ich entgegnete, dass ich nicht wüsste, was es zu besprechen gäbe. Dann weinte er am Telefon, dieser grässliche Mensch, er weint immer, wenn er nichts zu sagen hat. Ich wusste von Anfang an, dass er zu nichts taugte. Nicht weil er von kleinen Leuten abstammte, aber er schämte sich dessen und sein Ziel war es, so etwas wie ein Parvenü zu werden, denn noch war er nicht einmal das. Am Telefon flehte er mich an, ihm zu erlauben, zusammen mit Ellen zu uns zu kommen. Wenn Ellen ihn mitbrächte, räumte ich ein, dann dürfe er sie selbstverständlich begleiten. Denn unser Haus sei auch Ellens Zuhause. Das war alles, seitdem habe ich nichts gehört, weder von ihm noch von Ellen. Er zögerte, wartete und ergänzte: „Ich vergaß noch zu erwähnen, dass ich ihm auch gesagt habe, wann Ellen ankommen würde. Den Tag kannte er, vielleicht hatte sie ihm das in ihrem Brief geschrieben. Die genaue Uhrzeit, ja, die habe ich ihm verraten. Wie schrecklich, ach Gott, hätte ich doch nicht mit diesem Scheusal gesprochen!, fügte er wieder schluchzend an. „Noch wissen wir nicht, ob Ihr Schwiegersohn wirklich Ihre Tochter umgebracht hat, versuchte Meuseman ihn zu beruhigen, jedoch vergeblich. „Verschonen Sie mich bitte mit dem Hinweis auf diese Verwandtschaft!, fuhr Koller auf, bevor er nach einer Pause jedoch wieder leiser einräumte: „Sie haben recht. Und doch, ich traue es ihm zu." Sie erhoben sich beide und Meuseman bat Koller, ihn zur Anfertigung eines Protokolls noch einmal in seinem Büro aufzusuchen. Koller verabschiedete sich, stieg in seinen Wagen und entfernte sich langsam von dem gerichtsmedizinischen Institut, in dem in einer Kühlkammer die Leiche seiner Tochter lag.

    Als Meuseman in seine Dienststelle zurückkehrte, teilte man ihm sogleich mit, dass Dr. Spürli aus Basel eingetroffen sei und sich den Wagen, in dem das Opfer in den Hof der Kriminalpolizei gebracht worden war, eindringlich und gründlich angesehen habe. Dr. Spürli galt als Kapazität bei der Spurensicherung. Er stand einer entsprechenden, auch wissenschaftlich arbeitenden Abteilung des Polizeidepartements in Basel-Stadt vor und wurde bei schwierigen Fällen hin und wieder auch von seinen Freiburgern Kollegen zu Hilfe gerufen. Ob indessen der gegenwärtig zu untersuchende Kriminalfall einen solchen Schwierigkeitsgrad aufwies, dass man Dr. Spürlis Fachwissen benötigen würde, stand jedoch noch gar nicht fest. Dennoch hatte der Vorstand der örtlichen Kriminalpolizei ihn herbeigerufen, weil ihm insbesondere die die Polizei betreffenden Umstände des

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