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für andere, für uns: Roman
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eBook521 Seiten7 Stunden

für andere, für uns: Roman

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Über dieses E-Book

Eine starke Frau sucht ihren Platz in der katholischen Kirche

Nach dem Tod des Großvaters beschließt Rita, in Innsbruck Theologie zu studieren. Nach einer Unterbrechung schließt sie das Studium ab und wird Pastoralassistentin. In ihrer neuen Gemeinde macht sie sich schnell unentbehrlich. Doch bei aller Berufung zur Religion und zum christlichen Glauben ist Rita mit dem Status quo des Systems Kirche nicht einverstanden. Schritt für Schritt schafft sie sich Freiräume, um die katholische Kirche nach ihren Vorstellungen zu verändern.

- Frauen und Kirche: Rita weigert sich, in ihrem Wirken unsichtbar zu sein
- Maria 2.0: Welches höchste Amt kann eine Frau in der katholischen Kirche ausüben?
- Religion und Diskriminierung: Ein christlicher Roman für Frauen, die eine Veränderung der Kirche anstreben
- Katholische Priesterin? Kann Rita an den Mauern der mächtigen Institution Kirche rütteln?
- Kirche und christlicher Glaube im Hier und Jetzt: Zeit für Erneuerung

Kirche im Umbruch: Eine katholische Frau bricht althergebrachte Strukturen auf

Stille Zuarbeit für den Priester, gute Seele der Gemeinde – alles, ohne zu sehr im Rampenlicht zu stehen: Doch Rita weigert sich, die traditionell unsichtbare Rolle der Frau in der katholischen Kirche zu akzeptieren. In Rückblenden erzählt die Autorin Claudia Endrich Ritas Geschichte: von ihrem Glauben an Gott, vom Theologiestudium, das sie zunächst abbricht, vom Jesuitenpater Sébastien, in den sie sich während des Studiums verliebt, oder von ihrer damaligen Mitbewohnerin Judith. Und von ihrer Motivation, das abgebrochene Studium doch noch zu beenden. Denn Rita will mehr: Gegen alle Widerstände kämpft sie für das Recht, ihre Berufung so leben zu können, wie sie es für richtig hält.

Ein christlicher Roman über eine mutige Frau, die für Gleichbehandlung in der katholischen Kirche kämpft. Ob ihr das gelingt? Lesen Sie selbst!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Juni 2024
ISBN9783987909313
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    Buchvorschau

    für andere, für uns - Claudia Endrich

    1

    Folgen Sie mir." Rita bemühte sich, dem Pfarrer dicht auf den Fersen zu bleiben. Beide verließen sein Büro, in dem sie gerade ihren Dienstvertrag unterschrieben hatte, und nahmen die Stufen der hellen, glatt polierten Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss. Die Stufen waren so glatt, dass man aufpassen musste, nicht auszurutschen, wenn man es noch nicht gewohnt war, sie rasch und leicht zu bewältigen. Waren sie einfach nur sorgfältig poliert worden oder hatten die vielen Menschen, die das Büro des Pfarrers aufsuchten, mit ihren Schritten jede Unebenheit aus den Stufen geschliffen? Rita setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, dabei vergrößerte sich ihr Abstand zu Pfarrer Stöckl, der mit viel Routine die Stufen hinunterhechtete. Als Rita im Erdgeschoss angekommen war, beeilte sie sich, wieder zu ihm aufzuschließen, und betrat nur kurz nach ihm das Pfarrbüro. Er setzte an, ihr den Raum zu zeigen, vermutlich um ihr zu erklären, wo welche Dokumente zu finden waren, wie das Telefon funktionierte, wo sie seine Post ablegen sollte. Aber Rita schob sich an ihm vorbei, schritt den Raum ab, um Maß zu nehmen und ihren eigenen Platz darin zu vermessen. Am Fenster mit Blick auf den Kirchplatz blieb sie stehen. Sie zog die Sichtschutzrollos hinauf, die sich glücklicherweise nicht verhedderten, wie das bei solchen Rollos oft der Fall ist, und öffnete das Fenster weit, so weit, dass Pfarrer Stöckl hinter der geöffneten Scheibe verschwand.

    „Schön", sagte sie. Und sie meinte es ernst. Dieser wohlgeordnete, klar abgegrenzte Arbeitsbereich hatte rein gar nichts mit dem chaotischen Hinterzimmer der kleinen Dorfbibliothek in Genzano di Roma zu tun, für die sie in den letzten Jahren verantwortlich gewesen war. Das Zimmer war ein großes gewöhnliches Durcheinander gewesen, als sie angekommen war, und im Laufe der vier Jahre, die sie dort verbrachte, hatte sie daraus erfolgreich ein vermutlich niemals mehr reparables, explodiertes Stillleben gemacht. Die italienische Bürokratie war unerträglich kompliziert, aber glücklicherweise auch sehr nachsichtig, weil es meist etwas Besseres zu tun gab, als fehlenden Schriftstücken hinterherzulaufen. So hatte Rita regelmäßig ungeöffnete Post und halb ausgefüllte Formulare auf dem Schreibtisch vergessen, bis sie unter neuen Dokumenten verschwunden waren, und hatte nur sehr selten die Konsequenzen dafür zu spüren bekommen. Was zählte, war, dass die Bibliothek besser besucht war als alle anderen Dorfbibliotheken in der Provinz, und vor allem, dass hier Menschen jeder Herkunft und Lebensgeschichte Italienisch lernten, bei ihr, Rita, und ihrer Mitarbeiterin Rosalia.

    Pfarrer Stöckl war sehr angetan gewesen von ihrer Berufserfahrung. Ihre Neigung zum Chaos hatte sie geflissentlich verschwiegen. Sie hatte sich jedenfalls vorgenommen, es dieses Mal anders zu machen.

    Er hatte sie nicht wiedererkannt. Auch ihr Name schien bei ihm keine Erinnerung ausgelöst zu haben. Sie hatten zwei Semester lang dieselben Lehrveranstaltungen besucht, Bibelhebräisch und Christologie, aber da waren noch etwa zwanzig andere Studierende, und die Priester-Seminaristen waren ja meist unter sich geblieben. Vermutlich hatte er damals gar nicht mitbekommen, dass sie das Studium abgebrochen hatte. Im Bewerbungsgespräch hatte er zwar angemerkt, dass er zur selben Zeit in Innsbruck studiert hatte, aber es schien ihn nicht weiter zu verwundern, dass er dieser Theologiestudentin nie begegnet war.

    Rita aber erinnerte sich. Sie hatte sich schon erinnert, als sie in der Stellenausschreibung seinen Namen gelesen hatte. Ein wenig faul, aber immer freundlich, so war ihr Michael Stöckl von Sébastien manchmal beschrieben worden. Als einer von denen, die Pfarrer werden wollen, weil sie sich danach nie mehr Gedanken um ihren beruflichen Weg machen müssen. Die, wenn sie sich einmal in einer Gemeinde eingewöhnt haben, nie wieder eine andere Tätigkeit aufnehmen wollen. Er war also schon am Ziel.

    Durch die Fensterscheibe sah sie ihn an und sah parallel dazu die Reflexion ihres eigenen Gesichts. Sie sahen beide noch genauso aus wie vor acht Jahren in Innsbruck, und doch hatte sich die Welt seither tausendfach um die eigene Achse gedreht. Dass sie ab heute hier die Pastoralassistentin sein würde, war keine göttliche Fügung. Es war ihr Wille, und sie hatte ihn bekommen.

    Er schien sich zu freuen, dass sie den Raum und die Kirche vor dem Fenster so intensiv kontemplierte, und verhielt sich, immer noch mit sanftem Lächeln im Türrahmen stehend, ruhig. Rita ließ das Fenster offen stehen und schaute sich nun mit ein paar kräftigen Schritten im Raum um, entlang an den Regalen und den Wänden. Die klare Ordnung war auch auf den zweiten Blick gut erkennbar. Sämtliche Aktenordner waren mit exakten Bezeichnungen und Jahreszahlen versehen, jedes Einschubfach war mit Hilfe eines Etikettiergerätes benannt worden, die Etiketten lösten sich nicht einmal an den Rändern ab, keines war schief. Die handschriftlich betitelten Ordner wiesen eine etwas altmodische, aber immer noch ruhige Stiftführung auf.

    „Frau Meisinger hat immer sehr viel Wert auf ihre Ordnung gelegt, hörte sie den Pfarrer sagen. „Nach ihrer ersten Chemotherapie kam sie zurück und regte sich furchtbar auf, weil ich so ein Durcheinander angerichtet hatte. Innerhalb von zwei Tagen war alles wieder in Ordnung gebracht. Er lachte leise und blickte zur Decke hinauf, als würde er Frau Meisinger im Himmel zuzwinkern.

    „Was für ein Segen. Sie müssen mir eigentlich gar nichts erklären, ich werde hier alles auf Anhieb finden." Rita stützte eine Hand auf der Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls ab, so als wäre das nicht ihr erster, sondern ihr zigtausendster Arbeitstag. Er sah sie für den Bruchteil eines Moments erstaunt an, dann übernahm eine zufriedene Bequemlichkeit seine Gesichtszüge.

    „Aber ja, durchaus. Und falls doch etwas unklar sein sollte, können Sie mich ja jederzeit fragen. Die Kaffeemaschine steht vor der Tür, in Richtung Pfarrsaal, die ist auch selbsterklärend. Es entstand eine kurze Stille, in der Rita den Pfarrer sanft lächelnd betrachtete. Dann klatschte er einmal kurz in die Hände, wie um sich selbst zum Aufbruch zu bewegen. „Kommen Sie erst einmal in Ruhe an und leben Sie sich ein. Morgen haben wir unsere erste Besprechung, und dann können Sie auch bald die ersten seelsorgerischen Tätigkeiten übernehmen.

    Warum sie ihr Studium abgebrochen und später wieder aufgenommen habe, hatte er sie im Bewerbungsgespräch gefragt. Für beides hatten ihre Eltern herhalten müssen. Keine Kirchgänger. Eher das Gegenteil. Es gibt das, was du siehst, sonst nichts, hat ihr Vater ihr immer gesagt, schon als sie noch ein Kind war. Geglaubt hatte sie ihm das nie, widersprochen erst spät. Ihren Eltern zuliebe habe sie das Studium also abgebrochen, und dann auch ihnen zuliebe wieder aufgenommen – besser einen Abschluss in Theologie als gar keinen, meinten die beiden. Sie könne ja nicht ihr Leben lang in diesem italienischen Dorf hocken und Bücher in Regale sortieren. In Wahrheit hätten die beiden nichts dagegen gehabt. Dass sie jetzt Pastoralassistentin war, würde sie nicht mit ihnen diskutieren. Es war die Seelsorge, die Rita in diesen Beruf zog.

    „Ich freue mich darauf. Rita lächelte den Pfarrer offen an. „Sagen Sie, … sollen wir uns nicht duzen? Diese furchtbare Formalität ist eines der Dinge, die ich an der katholischen Kirche schon immer unerträglich gefunden habe. Ich bin Rita. Sie streckte ihm die Hand hin.

    Der Pfarrer nickte eifrig. „Natürlich, das hatte ich sowieso, also … nur wegen des Bewerbungsgesprächs und am Anfang … Michael." Er senkte den Kopf, als er ihr die Hand reichte, und hielt trotzdem den Blickkontakt mit hochgezogenen Augenbrauen aufrecht.

    Er verabschiedete sich und Rita schloss hinter ihm die Tür. Sie ging die fünf Meter, die es brauchte, um von der Tür zum offenen Fenster zu gelangen, und lauschte dabei dem leisen Widerhall ihrer Schritte in den Wänden. Draußen zogen die Menschen vorbei, manche geschäftig, andere ohne Eile. Ältere Ehepaare mit kleinen Einkaufstaschen, junge Mütter mit großen, Kinder auf dem Heimweg vom Kindergarten oder der Schule. Wenn man misstrauisch sein wollte, konnte man das Ganze für eine Szene aus der Truman Show halten. Vermutlich würden hier jeden Tag dieselben Menschen vorbeikommen, ganz ohne Drehbuch und Skript täglich beinahe die exakt selben Weglinien ziehen, sich gegenseitig in derselben Art grüßend oder ignorierend. Nur die Kinder würden häufiger von ihren üblichen Routinen abweichen. Rita würde sich in die Choreografie einfügen, täglich zur selben Zeit hier erscheinen, Gewohnheiten aufbauen, immer um elf Uhr eine Laugenstange beim Bäcker gegenüber holen, mittags ihr mitgebrachtes Essen am Schreibtisch oder draußen in der Sonne essen. Vielleicht würde sie aber auch bald, wenn die Gemeinde sie erst einmal kannte, immer wieder irgendwohin zum Essen eingeladen werden. Vielleicht würde aber auch nur der Pfarrer eingeladen werden.

    Manche der Passantinnen sahen sie neugierig durch das immer noch offene Fenster an. Frau Meisinger war lange hier gewesen, wenn auch schon länger nicht mehr sehr nah bei den Menschen, wie Michael ihr erzählt hatte. Für den kleinen Teil des Dorfes, der sich aktiv am kirchlichen Leben beteiligte, war ihre Ankunft sicher eine Neuigkeit, über die es sich zu reden lohnte. Und es machte sicher einigen Spaß, sie genau zu beobachten und zu beurteilen, sie an ihren Taten und mehr noch ihrem Auftreten zu messen. Dem Großteil der Bevölkerung war es aber bestimmt auch herzlich egal, wer hier die Geschäfte führte, wer die Erstkommunion und Firmung vorbereitete, Lesungen, Vorträge und Bibelkreise organisierte, wer im Altersheim und im Kinderdorf Besuche machte und Wortgottesdienste abhielt. Viele würden gar nicht mitbekommen, dass es hier einen Wechsel gegeben hatte.

    Aber … die allermeisten würden Zeit ihres Lebens irgendwann mit der Kirche in Berührung kommen, und dann würde sie da sein. Dann würde der Text in der Gemeindezeitung von ihr stammen, dann würde die Idee für eine Spendenaktion am Weihnachtsmarkt von ihr kommen. Dann würde sie diejenige sein, die den Kindern erklärt, dass es egal ist, welchen Namen man Gott gibt und zu welchem Feiertag man seine Liebe feiert. Dann würde sie diejenige sein, die einer Person die Hand hält, wenn sie ihren letzten Weg antritt. Rita schloss das Fenster. Die Sichtschutzrollos ließ sie offen.

    2

    Sie habe gar nicht viel dazu beigetragen, würde sie allen sagen, die sie im Ort auf das „piccolo miracolo", das kleine Wunder, ansprachen. Natürlich würden alle lachen und Ritas Bescheidenheit abtun. Aber es war die Wahrheit. Aminata hatte ihr Kind ganz allein zur Welt gebracht. Rita und Rosalia hatten bloß ihre Hand gehalten, mit ihr geatmet und dafür gesorgt, dass sie es so bequem wie möglich hatte.

    Wie passend, dachte Rita, als alles vorbei war. Die Frau lag mitten in der Bibliothek, zwischen den Science-Fiction- und Abenteuerromanen. Während der Geburt hatte sie diese Regalreihen gar nicht bemerkt, zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, nach außen Ruhe auszustrahlen und innerlich nicht in Panik zu geraten.

    Ein Kind zur Welt bringen? Zuerst hatte Rita kurz und schrill gelacht, aus dem Bauch heraus. „Ich kann doch kein Kind zur Welt bringen. Non è possibile."

    Rosalia hatte sie darauf an den Schultern geschüttelt und mit weit aufgerissenen Augen aus wenigen Zentimetern Entfernung angesehen, Nasenspitze an Nasenspitze. „Signora, Sie müssen!"

    Doch als die beiden Aminata einen Platz zum Hinlegen einrichten wollten, hatte diese nur kurz gelacht und war demonstrativ in die Hocke gegangen. Es war offensichtlich nicht ihre erste Geburt. Selbst das warme Wasser und Tuch, das Rita gleich zu Beginn geholt hatte – so etwas machten sie doch in Filmen oft bei Hausgeburten – benutzten sie am Ende gar nicht. Es war zu heiß aus dem Hahn gekommen. Eigentlich brauchten sie es auch gar nicht. Erst ganz zum Schluss, als das Baby geboren war, konnte Rita mit dem abgekühlten Wasser Aminata das schweißnasse Gesicht abtupfen und den kleinen Abdoulaye säubern. Auch die Nabelschnur hatte Rita überfordert. Aminata interpretierte dies als rücksichtsvolle Zurückhaltung gegenüber dieser wichtigen Geste und bat Rita, ihr die Schere zu reichen, woraufhin Rita eilig eine Schere suchte und sie notdürftig desinfizierte.

    Während der ganzen Zeit, fünf quälend langen Stunden, hatte Rita immer wieder gebetet: „Jesus, mein Freund, lass mich wissen, was zu tun ist. Guter Gott, lass es keine Komplikationen geben."

    Mehr als einmal war sie kurz davor gewesen, den Notruf zu wählen, aber Aminata hielt sie mit der ihr verbliebenen Kraft davon ab. Aminata hielt sich illegal in Italien auf. Sie fürchtete die Folgen einer offiziellen Aufnahme ins Krankenhaus.

    Als es endlich geschafft war, konnte Rita es kaum glauben. Sie hielt den kleinen Abdoulaye in ihren Armen, ging mit ihm durch die Bücherreihen, während Aminata erschöpft einen kurzen Schlaf hielt. Auch er schlief.

    So klein, und schon illegal, dachte Rita. Doch nicht vor Gott. Wenn das die Weihnachtsgeschichte wäre, wären Rosalia und ich Ochs und Esel gewesen, dachte Rita und lachte in sich hinein. Wie die beiden haben wir dumm und fast untätig zugesehen, aber wir werden für immer Teil dieser Erzählung bleiben.

    Das Baby lag warm in ihren Händen, der kleine Körper schien zu vibrieren und immer mehr Wärme zu verströmen. Abdoulaye atmete langsam ein und stieß die Luft mit einem starken Stoß durch die Nase wieder aus. „Hast du dir das Atmen selbst beigebracht? Wirst du dir alles, was du je brauchen wirst, selbst beibringen? Rita lächelte, als der Kleine seinen Kopf leicht bewegte, und sie beschloss, es als Nicken zu deuten. „Recht hast du. Sei immer aufmerksam, dann lehrt die Welt dich alles, was du brauchst.

    Das Kind rührte sie sehr. Sie meinte, seine Ähnlichkeit mit Aminata zu erkennen. Und sie empfand Ehrfurcht vor der Art, wie es völlig schutzlos und vertrauensvoll in ihren Armen lag, darauf angewiesen, dass sie es gut mit ihm meinte.

    „Du brauchst im Leben jemanden, der dich beschützt, Abdoulaye. Jemanden, der dir und deiner Mutter beisteht. Der euch immer daran erinnert, dass alles gut wird. Jemanden, auf den ihr immer zählen könnt."

    Sie zog ihren rechten Arm unter dem Baby hervor und schob es ganz auf ihren linken Arm. Mit ihrem Daumen machte sie ein kleines Kreuzzeichen auf Abdoulayes Stirn. Seine Wärme durchströmte ihren Daumen, als sie seine weiche Haut berührte.

    „Hiermit taufe ich dich, Abdoulaye, damit du im Leben nie allein bist, sondern immer begleitet wirst von den guten Mächten, die um uns sind. Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ob du ihn bei diesen Namen nennst oder anderen ist ganz egal. In Gott hast du immer Mutter und Vater, wenn du sie brauchst. In Gott hast du einen Freund, wenn du einen brauchst. In Gott darfst du dich selbst lieben, wenn du einmal an dir zweifeln solltest. Du bist ein Kind Gottes."

    Mit diesen Worten wiederholte Rita das Kreuzzeichen auf der kleinen Stirn. Abdoulaye begann zu weinen, laut und schreiend. Sie brachte ihn zu Aminata, die ihn auf ihre Brust legte und Rita dankbar anlächelte.

    „Ecco! Siehst du, sagte Aminata leise in gebrochenem Italienisch. „Allah hat dir die Kraft gegeben, den Jungen gesund zur Welt zu bringen. Weil ich ihn darum gebeten habe. Rita lachte und setzte sich im Schneidersitz zu ihrer Freundin. „Ja, und ich werde ihn bitten, mir diese Aufgabe kein zweites Mal zu geben, Inschallah."

    In der folgenden Nacht tat Rita kein Auge zu. Bis zu diesem Tag hatte sie jahrelang nicht mehr gebetet, sich nicht mehr an Gott gewandt. Hatte geglaubt, ihn nicht zu brauchen. Sie hatte dabei nie aufgehört, an ihn zu glauben. Es wäre lächerlich, ernsthaft zu denken, dass der Mensch alle möglichen Daseinsformen vollständig kennt und in seiner Gewalt hat, so hatte sie es immer schon gesehen. Bereits als Kind, als sie ihrem Vater erzählte, dass ihre Freundin Mira beim Spielen im Hof gestürzt und nur knapp nicht auf einen Betonpfeiler, sondern daneben in die weiche Wiese gefallen war.

    „Ich habe es Opa erzählt, vorhin am Telefon. Er sagte, sie habe einen Schutzengel gehabt! Ihr Vater hatte daraufhin gelacht und gesagt: „Zufälle gibt es, Schutzengel nicht, mein Schatz. Sie hatte nichts darauf geantwortet, aber insgeheim hatte sie ihm nicht geglaubt. Sie hatte den Schutzengel gespürt, auch wenn dieses Gefühl erst durch ihren Großvater einen Namen bekommen hatte. Und so glaubte sie schon ihr ganzes Leben lang an eine höhere Kraft.

    Woran sie aber irgendwann, am Ende ihres ersten Studienjahres in Innsbruck, stark zu zweifeln begann, war die Fähigkeit der Kirche, diese göttliche Kraft in der Welt zu verbreiten und den Menschen daraus Trost zu spenden. Messen, Rituale, Sakramente – alles Blendwerk. Und damit auch die antrainierte Gewohnheit zu beten. Beten machte niemanden zu einem besseren Menschen. Es hatte Ritas Probleme damals nicht gelöst, nicht einmal gelindert. Und sie hatte irgendwann akzeptiert und sich damit abgefunden, dass Gott wohl einen Weg mit einigen Sackgassen für sie vorgesehen hatte.

    Sie hatte sich ihrem kraftlosen Glauben ergeben wie eine Eremitin, die erkennt, dass es einen König im Land gibt, von dem sie aber nichts wissen will. Und nun war sie aus ihrer Einsiedelei herausgetreten. Hatte sich an Gott gewandt, in Panik, in Sorge, ohne darüber nachzudenken. Und er hatte ihr geholfen. Auch wenn es Zufall gewesen sein mochte, wie ihr Vater argumentiert hätte, so war er doch da gewesen, das hatte sie gespürt. So wie damals bei Miras Sturz.

    Und Rita hatte nicht nur gebetet … Doch das wurde ihr erst richtig bewusst, als die Sonne bereits aufging. Die Tragweite ihrer Tat – jene simple Geste –, die ihr so unbedeutend, so einfach erschienen war, entfaltete sich erst im sanften Morgenlicht, im Tau auf den Wiesen, deren Gräser plötzlich so viel Lebensenergie und Kraft auf Rita ausstrahlten wie schon lange nicht mehr.

    Sie hatte getauft.

    Sie hatte Liebe und Zuversicht weitergegeben, in ihrer reinsten Form, ungetrübt von Zweifeln, ungetrübt von vergänglichen Sorgen oder strategischen Überlegungen. Sie hatte pure Liebe geschenkt, eine Liebe, die sie jahrelang in sich eingeschlossen gehalten hatte, bis ein neues Wesen sich ihrer würdig erwies.

    An jenem Tag, als die Sonne, die ihr am Morgen so vieles offenbart hatte, am Abend wieder hinter den braunen Hügeln verschwand, bat Rita Rosalia, die Bibliothek weiterzuführen. Nach vier Jahren, die sie sehr genossen hatte, würde sie nach Österreich zurückkehren und ihr Theologiestudium wieder aufnehmen.

    3

    Rita fand es unerträglich, wenn Klischees sich bewahrheiteten. Besonders schlimm war es, wenn diese sie selbst betrafen. Und so stellte sie zu ihrer großen Enttäuschung fest, dass sie größtenteils auf ihre Mitstudierenden angewiesen war, wenn sie jemanden suchte, der ihre Empfindungen bei der Geburt von Abdoulaye nachvollziehen konnte. Weder in ihrer Familie noch in ihrem Freundeskreis konnte sie verständlich machen, wie dieser Moment sie wieder zu einer aktiven Christin gemacht hatte. Sie begann, wieder Messen zu besuchen und für sich allein zu Hause zu beten – immer in der Hoffnung, wieder Momente dieser puren Liebe zu erleben. Sie kamen allerdings fast nie, doch Ritas Gewissheit, diese Empfindung warte da draußen auf sie, war trotzdem wieder entfacht. Und so blieb sie dabei.

    Das Theologiestudium erlaubte ihr, in der Theorie danach zu forschen, was das Rezept für dieses außergewöhnliche Gefühl war. Sie studierte die Arten, wie Priester ihre Messen feierten, analysierte die Strukturen verschiedener Gebete, beobachtete Rituale bei Hochzeiten, Begräbnissen und Taufen. Sie wollte wissen, worauf sie selbst ansprach und worauf die anderen Menschen reagierten. Wann flossen Tränen, wann zitterten Hände? Wann schloss jemand die Augen oder verbarg sein Gesicht in den gefalteten Händen?

    Es war eine Professorin an der Fakultät, die ihren Wahn, das Übermenschliche rational fassbar zu machen, beendete. Im Kurs über Spirituelle Theologie regte Rita sich über alle Maßen darüber auf, dass der Text, den sie lesen sollten, keine konkreten Antworten gab, sondern am Ende die Definition für viele spirituelle Belange an eine göttliche Macht abschob. „Genau darum geht es aber, Rita, hatte die Professorin mit leicht verständnislosem Lächeln daraufhin gesagt. „Spiritualität bedeutet eben das – zu akzeptieren, dass wir nicht diejenigen sind, die die letzten Antworten geben. Alle menschengemachten Regeln müssen automatisch profan und unvollendet sein. Und ein spirituelles Erlebnis in uns oder anderen können wir fördern, aber nicht erzwingen.

    Rita musste erkennen, dass sie recht hatte. Die Menschen reagierten stets in unterschiedlichen Momenten emotional. Auch sie selbst fand manche Messen schrecklich fad, andere mitreißend und tröstlich, und konnte nur im Ansatz benennen, woran das lag. Insgeheim ahnte sie, dass die Antwort auf ihre Frage in ihrer Zeit in Innsbruck lag. Doch dort wagte sie nicht zu graben. Nie waren ihr Glaube, ihre Fähigkeit zu lieben und ihre Hoffnung auf ein erfülltes Leben größer gewesen. Aber sie wusste auch, dass ihr Vertrauen in das Leben damals fast zugrunde gegangen wäre. Die Antwort konnte nicht dort zu finden sein, in einer Zeit, die sie als jugendliche Naivität abgehakt hatte.

    Damals war es ihr nur um sich selbst gegangen, um ihr eigenes Glück. Heute empfand sie ein unbändiges Bedürfnis, anderen Menschen zu diesem Gefühl zu verhelfen, das sie selbst erneut ergriffen hatte. Sie wollte ihnen sagen, dass alles gut werden würde. Sie wollte, dass sie Vertrauen schöpften, in Gott, in ihre eigene Zukunft. Dafür musste sie selbst zuerst ihr Vertrauen gewinnen. Das wurde ihr rasch klar, als sie begann, bei den Gottesdiensten in der Gemeinde zu assistieren.

    Pfarrer Michael stellte Rita gleich am folgenden Sonntag der Gemeinde vor. Es waren wegen der Sommerferien nur wenige zur Messe gekommen, vielleicht 25 Personen. Rita übernahm zum ersten Mal die Aufgabe, die Eucharistie auszuteilen. Ein Moment, Freude weiterzugeben, dachte sie bei sich und hatte glühende Wangen, als sie mit der goldenen Schale vor dem Altar stand. Als sie dann zum ersten Mal „Der Leib Christi" sagte, entkamen ihr diese Worte viel zu laut. So laut, dass die Orgelspielerin sich verspielte und verwirrt nach ihr umsah. Von da an wurde sie mit jedem Mal, als sie diese wichtigen Worte aussprach, leiser. Und ihr fiel auf: Die meisten hoben kaum den Blick, als sie vor ihr standen.

    Drei Frauen kamen nach der Messe auf sie zu, um sich vorzustellen, alle drei waren im Kirchenbeirat und beim Kirchenchor aktiv. Michael erzählte ihr später, dass die drei eine Art Wettstreit um die fleißigste Mitarbeit in der Kirchengemeinde laufen hätten. Den wenigen anderen, die nach der Messe nicht gleich verschwanden, stellte Rita sich selbst vor. Ein sehr alter Herr, der Zauner hieß und ihr sogleich erzählte, dass er schon sein ganzes Leben lang im Ort wohne und schon sieben Pfarrer kommen und gehen gesehen habe, kommentierte dann auch gleich ihr Alter.

    „No so a junger Hupfer! Der Herr Pforrer isch jo a grod ersch von der Schul kumma! Oba besser wie no so a Ausländer, die hamma olle ned gscheid verstondn!" Rita lächelte dünn und wechselte rasch das Thema.

    Am nächsten Morgen begann sie ihre zweite Arbeitswoche im Pfarrbüro. Sie schloss die Tür auf, nahm die Post mit hinein, sah sich im penibel sortierten Büro von Frau Meisinger um, dachte an ihre Bibliothek in Genzano und fragte sich: Habe ich mich richtig entschieden? Wozu ist mein Glaube gut, wenn ich so leicht zu verunsichern bin?

    In diesem Moment klopfte es an die Fensterscheibe. Rita sah nur eine kleine Hand und einen braunen Lockenkopf. Sie warf die Post auf ihren Schreibtisch und ging hinüber, öffnete das Fenster und schaute hinunter. Da stand ein etwa siebenjähriger Junge mit Schulrucksack und blinzelte zu ihr hinauf, sein offener Mund stellte eine beeindruckende Zahnlücke zur Schau.

    „Bist du Frau Rita?"

    „Ja, die bin ich. Und wer bist du?"

    „Maurizio heiße ich. Meine Mamma hat gesagt, dass du mir ein Kreuzzeichen geben kannst, stimmt das?"

    Verwundert sah Rita ihn an, dann blickte sie nach links und rechts, um zu sehen, ob irgendwo Schulkameraden versteckt einem vermeintlichen Streich beiwohnten. Doch niemand war zu sehen. Maurizio redete weiter.

    „Ich hab gestern die Messe verschlafen, und normalerweise bekomme ich dort immer ein Kreuzzeichen. Ich brauche das heute für den Mathetest, weißt du."

    Rita musste kurz tief Luft holen, um Tränen der Rührung zurückzuhalten. Zufall, hätte ihr Vater gesagt, dass der Junge genau in diesem Moment geklopft hatte. Ein Zeichen, da war Rita sich sicher. Sie gab Maurizio das Kreuzzeichen auf die Stirn, unfähig, irgendwelche Worte dazu zu sprechen. Ihr Daumen glühte, so wie damals bei Abdoulaye. Sie spürte diese besondere Wärme in ihrem Finger sogar noch, als sie dem kleinen Lockenkopf nachwinkte, der nach einem kurzen „Dankeschön, Frau Rita!" davongelaufen war.

    4

    Sie verkniff sich das Grinsen, während sie zusah, wie Michael sichtlich nervös seine Hände knetete. Er saß auf dem Gästestuhl vor ihrem Schreibtisch, die Beine in der grauen Bundfaltenhose übereinandergeschlagen, sein schon etwas plumper Oberkörper im schwarzen Kollarhemd hing leicht schief auf dem feingliedrigen Stuhlgestell aus Edelstahl. Erstaunlich, dass er erst 37 ist, dachte Rita. Das erklärt allerdings seine diplomatische Unsicherheit. Ein junger Hupfer, wie der alte Mann, dieser Herr Zauner, nach der Messe gesagt hatte.

    „Wie ich sehe, hast du dich gut eingelebt bei uns, ja?" Michael wanderte mit den Augen durch den Raum, erste Ansätze einer beginnenden Unordnung waren erkennbar. Rita ignorierte seinen kritischen Blick.

    „Ja, danke, ganz hervorragend!"

    „Fühlst du dich denn wohl? Bist du zufrieden mit deinen Aufgaben?" Er vermied es weiterhin, Blickkontakt herzustellen, und schaute nun aus dem Fenster.

    „Also dafür, dass ich erst seit zwei Monaten da bin, fühle ich mich schon sehr gut eingearbeitet. Langsam werde ich auch mit den Menschen der Gemeinde vertrauter, das ist wunderbar."

    Michael nickte, scheinbar geistesabwesend. Beide hielten die entstandene Stille aus, dann öffnete Michael den Mund. Es dauerte weitere zwei Sekunden, bis er einen Ton und Worte zustande brachte.

    „Apropos Menschen. Er knetete wieder seine Finger. „Diese Woche hatte ich ein Gespräch mit einem Paar zur Ehevorbereitung. Sie erzählten mir, dass sie viele Dinge bereits mit dir besprochen haben und dass sie vor allem wegen der Formalitäten bei mir seien. Nun wandte er seinen Blick Rita direkt zu. „Stimmt das? Hast du das Erstgespräch mit ihnen selbst geführt?"

    Rita hatte es schon kommen sehen. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass er so schnell sein würde. Sie lächelte entspannt und lehnte sich zurück.

    „Ja, natürlich habe ich das gemacht. Das ist ja keine große Sache. Ein bisschen über die gegenseitigen Erwartungen sprechen, was eine Ehe bedeutet, was kirchliche Ehe im Speziellen heißt und so weiter. Wir haben uns fast zwei Stunden lang sehr gut unterhalten, die beiden schienen danach sehr zuversichtlich. Ich soll dir doch genau auf diese Art Arbeit abnehmen, oder?"

    Michael wiegte den Kopf wie in einer Endlosschleife hin und her. „Das ist mir einfach ein bisschen zu schnell gegangen, weißt du. Mir wäre es lieber, du überlässt das vorerst noch mir und setzt dich vielleicht noch ein paarmal dazu. Was hältst du davon?"

    Rita zuckte die Schultern. „Von mir aus, gern. Aber wenn dein Kalender voll ist und ich den Leuten erst in drei oder vier Wochen einen Termin anbieten kann, dann finde ich, sollte ich doch wohl einspringen und übernehmen können."

    Michael rückte den Kollar, der bereits perfekt saß, zurecht. „Wenn es nicht anders geht, in Ordnung. Aber bitte sprich das vorher mit mir ab."

    „Wird gemacht, Chef. Rita konnte sich einen kleinen Unterton nicht verkneifen. Michael wollte gerade aufstehen, als Rita noch etwas sagte. „Dir ist schon klar, dass wir exakt dasselbe studiert haben, oder? Ich musste keinen einzigen Kurs weniger als du absolvieren, um meinen Titel zu bekommen.

    „Hier geht’s nicht um Titel, Rita, hier geht es um Berufserfahrung."

    „Und die kriegt man nicht vom Zuschauen."

    „Zuschauen gehört aber natürlich dazu."

    „Wurdest du in dieser Art von deinem Vorgänger geschult?"

    „Mein Vorgänger ist im Amt verstorben, das ist etwas anderes. Wäre jemand da gewesen, um mit mir eine Übergabe zu machen, so hätte ich natürlich auch zuerst hospitiert. Ich hätte es mir sogar gewünscht. Glaub mir, der Sprung ins kalte Wasser macht keinen Spaß. Eine Ehevorbereitung geht noch, aber spätestens für eine Beerdigung brauchst du ein bisschen Vorbereitung."

    Rita hatte die Arme verschränkt und deutete mit ihrer Miene an, dass sie von seinen Worten nicht überzeugt war. Michael legte Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand an seine Nasenwurzel und sah sie über seine Finger hinweg mit durchdringendem Blick an.

    „Mein erster Todesfall in der Gemeinde war eine Totgeburt. Kannst du dir das vorstellen? Darauf bereitet dich niemand vor. Bei einer Beerdigung sollst du normalerweise über das Leben des Verstorbenen sprechen. Wovon sprichst du bei einer Totgeburt? Wie willst du hier den Willen Gottes erklären und Trost spenden?"

    Rita schluckte. Sie dachte an Aminata. An ihr Gebet. Lass es keine Komplikationen geben. Was wäre mit ihrem Glauben passiert, wenn Abdoulaye nicht gelebt hätte? Betroffen presste sie die Lippen aufeinander.

    „Was hast du getan? Was hast du gesagt?"

    Michael nahm die Hand vom Gesicht und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

    „Was hättest du gesagt?"

    Sie überlegte, rollte ihren Bleistift über den Schreibtisch.

    „Vielleicht, dass Gottes Wege unergründlich sind. Dass wir nicht wissen können, warum so etwas passiert, aber dass wir es vielleicht viel später erfahren werden. Dass niemanden Schuld trifft."

    Michael nickte mit einer kleinen Kopfbewegung. „Das ist ein Anfang. Aber es ist auch ziemlich platt, findest du nicht? Du musst die Trauernden in ihrem Schmerz abholen. Du musst ihnen eine Perspektive geben. Ich sage es dir, wie es ist: Ich konnte das damals nicht. Er hob entschuldigend die Hände. „Aber ich habe auch gelernt zu akzeptieren, dass wir nicht jedes Leid wandeln können. Dass die Menschen den Großteil des Weges ohnehin selbst gehen müssen und wir nur danebenstehen können. Damit zumindest jemand an ihrer Seite ist.

    Rita schnaubte. Das klang ja ganz nett. Aber auch ein bisschen faul.

    In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Als die Uhr neben ihrem Bett anzeigte, dass es ein Uhr fünfundzwanzig war, stand sie auf, setzte sich an ihren Schreibtisch und klappte ihren Laptop auf. Sie begann zu schreiben, reihte Worte aneinander, ohne lange nachzudenken. Von Entscheidungen, die nicht die eigenen sind, und von Leben, die zu Ende gehen, bevor sie sich selbst überhaupt begriffen haben. Sie schrieb eine Grabrede für das totgeborene Kind.

    Wenn wir glauben, dass Gott uns bereits am Beginn unseres Daseins alles mitgibt, was wir für dieses Leben brauchen, dann können wir auch eine Seele ehren, die nicht lange leben durfte. Alles, was sie ausmachte, trug sie bereits in sich. Alles war da – Begabungen, Träume, Liebe. Auch dieses noch so junge Wesen hatte eine Aufgabe in dieser Welt. Hat schon etwas für uns getan, wofür wir dankbar sein dürfen.

    Sie strich durch und schrieb neu, immer und immer wieder, wischte sich die Tränen ab, die lautlos und unaufhörlich aus ihren Augen flossen. Es war zwar nur eine Übung, aber es war auch real. Ein junges Leben war zu Ende gegangen. Heute, irgendwo, und damals, an einem bestimmten Ort. Sie arbeitete an jedem Wort mit einer Ernsthaftigkeit, als wäre das Begräbnis am nächsten Tag.

    Als sie den letzten Punkt gesetzt hatte, schien es ihr, als hätte sie eine Stunde lang nicht geatmet. Die Uhr zeigte zwei Uhr dreiunddreißig. Sie zog ihren Mantel und die Gummistiefel über ihren Pyjama und ging aus dem Haus, hinaus in die freien Felder, betrachtete den dunklen Himmel mit den deutlich erkennbaren Sternen. Sie wollte schreien. Den Schmerz, der sich in ihr festgesetzt hatte, brutal hinauswerfen in die kalte Nachtluft, für immer. Die Menschen in den Häusern rundum hätten sich wohl erschreckt. Also riss sie den Mund auf, unterdrückte die Kraft ihrer Stimmbänder und stieß nur einen heiseren, durchgehenden Luftstrom aus ihren Lungen hervor. Die Tränen waren aufgebraucht. Der Abschied war vollzogen.

    Sie kehrte um, ging zurück zur Straße, auf die gegenüberliegende Seite, zum Haus ihrer Eltern, wo noch Licht brannte, obwohl es weit nach Mitternacht war. Ihre Mutter ging nie vor drei Uhr früh schlafen. Rita betrat die Küche, ohne anzuklopfen.

    „Ich wollte dich schon anrufen und fragen, was los ist, warum noch Licht bei dir brennt, sagte Sibylle zur Begrüßung. „Aber dann dachte ich, du hast vielleicht Besuch …

    Rita schüttelte nur den Kopf.

    Ihre Mutter war offensichtlich gerade dabei, die Küchenschränke auszumisten. Eigentlich war sie immer dabei, irgendwo auszumisten. Rita wunderte sich manchmal, dass überhaupt noch etwas im Haus zu finden war. In einem Plastikmüllsack sah sie bereits eine bunte Ansammlung alter Tupperdosen leuchten. Sie nahm die oberste heraus, befand sie für noch brauchbar und stellte sie auf den Tisch.

    „Räumst du schon wieder meinen Müll aus?"

    „Nein, Mama, aber die hier ist noch gut, die nehme ich mit."

    Ein prüfender Blick über den Brillenrand ihrer Mutter hinweg traf Rita, dann widmete Sibylle sich wieder dem Inhalt eines Küchenschranks.

    „Alles ist vergänglich, mein Kind, alles kann ersetzt werden. Merk dir das! Auch dein Gott, für den du jetzt wieder so schwärmst, ist vergänglich. Irgendwann werden die Menschen ihn vergessen haben, und – zack! – gibt’s ihn nicht mehr."

    Rita war zu müde, um in die Diskussion einzusteigen. Sie war sich mit ihren Eltern in quasi allem uneinig, und bis vor Kurzem hatte sie sich deshalb bemüht, ihr Leben so weit wie möglich von ihnen entfernt zu führen. Aber sie wurden älter. Das war ihr bewusst geworden, als die beiden in der Pension beschlossen hatten, aus Wien wegzuziehen, aufs Land, in ein kleines Häuschen mit ebenerdigem Badezimmer und geräumiger Garage. Auch wenn sie jetzt noch keine Hilfe brauchten, konnte sich das rasch ändern. Und so war sie nach dem Abschluss ihres Theologiestudiums in ihre Nähe gezogen. Es war nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte, und seit einem Jahr wohnte sie sogar direkt gegenüber. Dass beide schon lange aus der Kirche ausgetreten waren, hatte sie akzeptiert. Trotzdem erinnerte ihre Mutter sie bei jeder Gelegenheit daran.

    „Vergiss nicht, wenn ich tot bin, will ich verbrannt und entsorgt werden. Kein Begräbnis, kein Grabmal, kein Klimbim. Der Tod ist ein reinigender Prozess – für alle. Es ist wie mit dem Ausmisten: Man muss Platz schaffen, damit Neues nachkommen kann. Kannst du dir vorstellen, wie überfüllt der Himmel wäre, wenn es tatsächlich ein ewiges Leben im Jenseits gäbe? Unvorstellbar!" Sie lachte und warf die nächste Tupperdose in den gelben Müllsack. Durch die halbtransparente Folie des Müllsacks konnte Rita ein gezeichnetes Goldenes Dachl erkennen. Es war ein Souvenir aus Innsbruck, das sie ihren Eltern einmal mitgebracht hatte.

    5

    Innsbruck ist nicht Wien. Das war Ritas erster Gedanke, als sie am Bahnhof ankam. Aber auch nicht Zwettl oder Wieselburg. Das war der zweite. Diese erste Einordnung nach dem Ausschlussprinzip gefiel ihr. Deshalb hielt sie sich in den nächsten Tagen auch an diese Methode, um ihren neuen Lebensmittelpunkt kennenzulernen. Die Gassen der Altstadt waren nicht prunkvoll wie der erste Wiener Bezirk, aber auch nicht eintönig wie eine Reihenhaussiedlung. Die Lokale rund um die Uni waren nicht megahip, aber auch nicht sonderlich verstaubt. Und die Berglandschaft, die war zwar nicht ganz wie im Himalaya, aber fast. Auf jeden Fall beeindruckend. Die Abgrenzung zum durchweg flachen Burgenland musste man gar nicht erst suchen, das war zu offensichtlich.

    Die Wohnung ihres Großvaters befand sich zwar nicht in einem Messie-Zustand, aber steril und aufgeräumt war auch anders. Ordentlich zugemüllt mit altem Ramsch, von Maschinenersatzteilen bis hin zu Heiligenbildchen war alles dabei. Die Männer von der Entrümpelungsfirma, die das meiste davon am nächsten Tag abholten, waren zwar nicht so stinkfreundlich wie die Menschen in Nordamerika, aber auch nicht so arg griesgrämig, wie man es von den Bergdorftirolern immer behauptete.

    Der Inn war schwer einzuordnen. Weil er je nach Wetter der vergangenen Tage seine Farbe wechselte. Das einzige Programmkino der Stadt zeigte gute, alternative Filme, ohne dabei zu schräg zu sein. Zum Radfahren war Innsbruck zwar nicht wie Kopenhagen, aber definitiv besser als Rom. Die Clubszene hatte wenig mit Berlin zu tun, bis auf einen kleinen Laden in den Eisenbahnbögen. Ansonsten lag der Vergleich mit St. Pölten leider näher. Die Universität Innsbruck hatte keinen altehrwürdigen Ivy-League-Campus, war aber beeindruckender als die Glaskästen der Fachhochschulen, die sie in den vergangenen Monaten besichtigt hatte.

    Das Grab ihres Großvaters war zwar nicht das eines Bischofs, aber doch etwas mehr als das eines gewöhnlichen Hausmeisters. Die Trauerfeier war kein großes Ereignis gewesen, aber sie war beeindruckt, wie viele Menschen in Innsbruck ihn gekannt und geschätzt hatten. Sie hingegen war die einzige Vertreterin seiner Familie gewesen, konnte aber kaum etwas über ihn sagen. Mit elf Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, über ein Jahrzehnt war das her. Seitdem hatte sie keinen Opa-Urlaub mehr in den Bergen machen wollen. Heute bereute sie es. Fragte sich, was sie alles nicht mehr von ihm erfahren würde. Was er ihr nicht mehr würde beibringen können. Ein paar wichtige Dinge hatte sie trotzdem von ihm gelernt. Zum Beispiel, dass an Gott zu glauben heißt, an das Gute in der Welt zu glauben. Dass man katholisch sein konnte und gleichzeitig bekennender Kommunist. Und dass Gerechtigkeit und Großzügigkeit immer Vorrang haben. Das ist doch was, dachte Rita bei sich, während sie den verstaubten Schreibtisch abwischte, eines der wenigen Stücke, die in der Wohnung bleiben durften. Sie stellte den Bilderrahmen darauf, die kleine Rita auf Opas Schoß. Sie konnte nicht älter als sechs Jahre gewesen sein, auf einer Bank, dahinter der Blick auf Innsbruck, von oben. Sie hatte keine Ahnung, auf welchem Berg das Foto entstanden war. Vielleicht würde sie es bald herausfinden. Bis vor zwei Monaten hätte sie nie gedacht, dass sie hier landen würde. In einer biederen Kleinstadt in den Bergen, die sich einbildete, eine moderne Metropole zu sein. Nur weil die Studenten aus Südtirol und Deutschland in Scharen hierher strömten. Neunzig Prozent der Leute, die sich bei Rita für das zweite Zimmer in der Wohnung meldeten, kamen aus einer dieser beiden Richtungen.

    „Wie kimmsch du zu der Wohnung?", fragte neugierig die einzige Tirolerin, die sich auf Ritas Anzeige gemeldet hatte. Sie trug

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