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Wintermädchen
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eBook348 Seiten4 Stunden

Wintermädchen

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Über dieses E-Book

Bayern 1943. Anna und Rebecca sind beste Freundinnen. Während Annas Vater, ein überzeugter Nazi, in den Krieg zieht, ist Rebecca eines Tages spurlos verschwunden. Deportiert nach Ausschwitz. Anna erlebt einen Missbrauch durch den Liebhaber ihrer Mutter und flieht. Jahre später, Anna führt mittlerweile ein beschauliches Leben in den Bergen, taucht Rebecca unerwartet wieder auf. Sie hat überlebt und steht nun als Frau von Welt in Annas Almhütte. Als Rebecca Annas Ehemann verführt, wird ihre Freundschaft auf die Probe gestellt. Können die beiden Frauen nach all den Jahren wieder zueinander finden?
Ein packendes Drama über das Schicksal zweier starker Frauen und einer tiefen Freundschaft allen Widrigkeiten zum Trotz.
SpracheDeutsch
HerausgeberWOLFSTEIN
Erscheinungsdatum5. Juni 2024
ISBN9783954521302
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    Buchvorschau

    Wintermädchen - Dieter Weißbach

    Die ersten drei Kriegswinter machten ihrem Namen alle Ehre.

    Klohäusl froren ein, die Schule blieb oft wochenlang geschlossen und die Straßen und Wege waren glatt wie Rutschbahnen. Da half auch kein Salz. Wer sich kein Bein brechen wollte, blieb am besten immer da, wo er gerade war.

    Das schienen sich irgendwann auch Vater und Hans zu sagen. Die standen an der Front.

    Im ersten Jahr kamen sie immerhin noch für ganze vier Wochen nach Hause, im zweiten und dritten schneiten sie nur noch über die Feiertage herein. Was mich allerdings nicht wunderte. Sie waren immerhin dabei, ganz Europa niederzukämpfen. Nur der Russ machte noch Schwierigkeiten. Aber den würden sie auch noch kleinkriegen. Gegen die Wehrmacht war kein Kraut gewachsen. Und ihr zur Seite stand die halbe Welt. Wenn die sich auch nur halb so anstrengen würde wie die beiden, dürfte das jetzt nicht mehr lange dauern.

    Es wurde aber auch höchste Zeit. Schon rein gesundheitlich.

    Vater war von Besuch zu Besuch immer dünner geworden, zur dritten Kriegsweihnacht hatte er sich förmlich halbiert. Richtig abgekämpft sah er aus. Nur der Hans hatte noch sein altes Format. Aber der war ja auch ein gutes Stück jünger. Dafür brachte er jedes Mal ein anderes Souvenir mit, wie er sich ausdrückte. Wobei er genau genommen nichts mitbrachte, sondern ständig Teile verlor. Als erstes seine rechte Augenbraue und den linken Mittelfinger. Dann zwei Zehen. Zum dritten Weihnachtsfest schließlich ein Ohrläppchen, das ihm eine russische Partisanin abgebissen hatte. Wie genau es dazu kam, wollte er nicht sagen. Aber da sah man wieder mal, aus welchem Holz diese Untermenschen geschnitzt waren. Wenn die sogar Frauen in den Krieg schickten, die nichts anderes konnten als kratzen und beißen.

    Das vierte Weihnachten feierten wir, also Ludwig, Mutter und ich, zum ersten Mal alleine. Dafür kam ein Brief. In dem stand angeberisches Zeug. Von einem geeinten Europa unter deutscher Führung, und dass sie dafür gerne ihr Leben hergeben würden. So was in der Art. Ich kann mich noch an meinen ersten Gedanken erinnern, nachdem Mutter mit Vorlesen fertig war. Dass die beiden wohl nur deshalb so übertrieben, um Weihnachten nicht nach Hause zu müssen. Weil sie keine Lust hatten, wieder tagelang Schnee zu schippen. Natürlich war das dummes Zeug. Ich wusste ja, wie ernst die Lage inzwischen war und dass es gerade ein wenig hapern würde mit dem Endsieg. Von Gebietsgewinnen hatte man jedenfalls schon länger nichts mehr gehört.

    Also schippten wir eben wie immer selbst. Sogar Ludwig, der sonst nie was musste, schaufelte ein paarmal notgedrungen mit. Ich hielt nebenbei auch noch die Öfen in Gang. Und wenn sich Kundschaft näherte, bin ich schnell hinter die Theke geschlüpft. Die war groß, das Angebot klein. Der überständige Krieg hatte jetzt auch noch die Ernährungslage einkassiert. Lehrlinge hatten wir auch keinen mehr. Der letzte war bei der Wehrertüchtigung und würde nicht mehr zurückkommen. Nur der alte Meister metzgerte weiter vor sich hin. Der wiederum hätte gerne den Ludwig kassiert. Aber wie gesagt, der war zu nichts gebrauchen. Wenn jemals jemand mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen ist, dann er.

    Trotzdem hatte er ständig Angst um sie. Wie eine Diva.

    Als ich einmal maulte, ich hätte auch ein Anrecht auf schöne Hände, schließlich wäre ich eine Frau, lachte Mutter schrill auf, ließ den Schöpflöffel auf Grund laufen und imitierte das überdrehte Bellen des Führers. Ich solle die Augen schließen, dann würde ich sehen, auf was ich ein Anrecht hätte. Außerdem, wurde sie schnell wieder ernst, wäre ich nicht auf feine Finger angewiesen. Und dass ich mich zu einem richtigen Trauerkloß entwickelt hätte. Ob es keine anderen netten Mädchen aus meiner Klasse geben würde, mit denen ich die Weihnachtsferien verbringen könne. Was denn aus Helga geworden wäre, der Tochter vom Bürgermeister? Die hätte ich schon lange nicht mehr mitgebracht. Oder aus Ursula oder Veronika, blätterte sie weitere Namen auf den Tisch. Oder wie wäre es mit Rohrmeiers Josepha und deren Schwestern? So schön hätten wir immer miteinander gespielt.

    Ja, dachte ich genervt: Strickliesel.

    »Soweit ich mich erinnere, hast du Rebecca früher immer für eine eingebildete Ziege gehalten«, nannte sie plötzlich Ross und Reiter, lüpfte den Deckel von den Dampfnudeln und schob den Topf zurück ins Rohr.

    In der Luft blieb ein süßlicher Duft, der mich prompt an den Tag erinnerte, als Rebecca, die Tochter des Viehhändlers Isidor Lobenstein, plötzlich in der Tür der Fleischerei stand. Ausgerechnet jetzt war ich am Därme reinigen. Doch Rebecca, schick angezogen wie immer, rümpfte nicht die Nase, sondern schnappte sich eine Schürze und ließ sich zeigen, wie das ging.

    Von da an waren wir Freundinnen.

    Rebecca wusste viel und reden tat sie noch mehr. Sogar über Politik. Ich hatte von Politik keine Ahnung. Für mich war das Männersache. Dass sie sich dafür interessierte, kam wahrscheinlich daher, dass die Lobensteins keine Söhne hatten. Also bekam sie das eben alles ab. Bei uns daheim war es der Hans. Deshalb hatte der auch Nazi werden müssen. Nur dass Rebecca natürlich gegen die Nazis war. Ihr Vater war schließlich Jude. Ansonsten verstanden wir uns prima. Denn über die wirklich wichtigen Dinge waren wir uns einig. Dass die Lehrer alte Knacker wären, die Jungs in unserem Alter zu nichts zu gebrauchen und dass es praktisch war, dass Rebecca keinen Stern tragen musste. Ihre Mutter war Arierin. Angehörige privilegierter Mischehen waren befreit.

    Den darauffolgenden Sommer fuhren Lobensteins wie immer nach Berlin.

    Wir blieben wie immer zuhause. Wir konnten ja schlecht unseren Laden zusperren. Aber langweilig ist mir trotzdem nicht geworden. Dafür hat Mutter schon gesorgt. Wenn sie mich nicht im Laden gebraucht hat, musste ich dem Meister zur Hand gehen. Im Grunde war ich jedes Jahr froh, wenn die Sommerferien wieder vorbei waren.

    Dann war es endlich soweit.

    Ungeduldig stand ich vor der Metzgerei und wartete auf Rebecca, die einen guten Steinwurf weiter oben wohnte. Aber nicht sie kam die Straße herunter, sondern eine Fremde. Ich weiß noch wie heute, da waren Hüften, die gegen einen taillierten Rock drückten, eine weiße Bluse mit Inhalt, und eine richtige Frisur hatte sie auch.

    Mit einem Wort, sie hatte die Ferien genutzt und war heimlich zur Frau geworden.

    »Was ist? Was schaust du denn so?«

    »Ich … Äh …«

    »Ich weiß, die Wellen. Hat Papa mir spendiert. Süß, gell. Oder gefallen sie dir nicht?«

    »Doch, doch«, versicherte ich schnell.

    »Nein. Ich seh‘s dir an.« Rebecca seufzte und warf ihre Arme in die Luft wie eine Ausdruckstänzerin. »Ich hab ihm gleich gesagt, die sind unarisch.«

    »Also mir gefallen sie«, versicherte ich noch einmal. »Aber du kannst dir ja jederzeit wieder einen Zopf flechten. Länge ist ja noch da.«

    »Auch wieder wahr. Aber jetzt komm. Ich muss dir nämlich was erzählen. Ich sage dir, du machst dir keinen Begriff.«

    »Von was?«, hechelte ich hinterher.

    »Später. In der Pause.«

    »Nein. Jetzt. Sonst kann ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Komm schon.«

    »Also gut«, schnaufte Rebecca und rammte ihre Absätze in den Teer. »Ich hab geküsst. So richtig, mit Zunge.«

    »Echt? Mit wem?«, flüsterte ich angestrengt zurück.

    »Mit einem Pagen vom Hotel. Ein Gefühl war das, sage ich dir, unbeschreiblich.«

    »So gut?«, fragte ich betont gelangweilt zurück.

    »Ja«, stöhnte Rebecca und kniff ihre Knie zusammen, als müsste sie aufs Klo. »Aber kein Wunder, bei dem was da alles ein und ausgeht in so einem Hotel. Der tut wahrscheinlich den ganzen Tag nichts anderes als küssen. Soll ich dir zeigen wie es geht?«

    »Jetzt?! Hier auf der Straße?«, fuhr ich erschrocken auf.

    »Nein. Heute Nachmittag. Natürlich nur wenn du willst.«

    »Ja. Gut. Warum nicht«, tat ich noch einmal möglichst gelangweilt. »Und wo?«

    »Vielleicht hinter der kleinen Kapelle? Sagen wir um drei?«, schlug sie vor und trabte wieder an.

    »Passt«, stieß ich hervor und stolperte hinterher.

    Rebecca war nicht nur eine Frau geworden, sondern auch mit dem Thema Küssen war sie an mir vorbeigezogen. Trotzdem wollte sie immer noch meine Freundin sein, mir sogar zeigen, wie das ging. Und sogar mit Zunge, flüsterte eine Stimme, die sich normalerweise nur meldete, wenn ich in der Nacht in den Laden schlich und ein Paar Wiener abzweigte. Aber dabei lief es mir nie heiß und kalt den Rücken hinunter. Und das Gefühl, schreien zu müssen, hatte ich dabei auch nicht. Ich hatte aber auch noch nie vorgehabt, mich küssen zu lassen. Erst recht nicht von einem Mädchen. Vielleicht war das ja auch verboten. In dem Fall sogar Rassenschande. Andererseits war es nur eine Demonstration. Und natürlich mit Zunge. Sonst wäre es ja keine.

    Entschlossen wandte ich mich wieder dem Unterricht zu.

    Gerade noch rechtzeitig.

    »Anna. Würdest du die Frage bitte wiederholen?«

    »Ja, Herr Lehrer«, rief ich und sprang auf. »Wenn eine deutsche Infanteriedivision dreißig Kilometer am Tag zurücklegt, in wie vielen Monaten steht sie vor Moskau, wenn man eintausendachthundert Küsse zugrunde legt, dass sie in einem durchmarschieren und dass ein Monat dreißig Tage hat.«

    »Anna?«

    »Ja, Herr Lehrer?«

    »Nicht Küsse. Kilometer.«

    »Oh. Entschuldigung. Freilich, Kilometer.«

    Natürlich haben alle gelacht. Aber der Lehrer hat mich nicht lange leiden lassen. Das könne schließlich jedem einmal passieren, sagte er. Selbst einer Schülerin wie Anna, an der die anderen sich gerne ein Beispiel nehmen könnten. Obwohl sie den Kopf wohl bei den erfreulicheren Dingen des Lebens hätte, müsste er sich schon sehr wundern, wenn sie die Lösung nicht parat hätte.

    »Anna?«

    »Zwei, Herr Lehrer«, antwortete ich ohne nachzudenken.

    Dazu wäre ich auch gar nicht fähig gewesen.

    Den Rest des Vormittags hatte ich nur noch Augen für meinen Retter. Wenn meine und Rebeccas Blicke sich trotzdem einmal trafen, tauchte ich schnell weg. Und als endlich die Schlussglocke ertönte, wäre ich am liebsten sitzengeblieben. Weil das nicht möglich war, konnte ich nur hoffen, dass Mutter mich zwingen würde, den ganzen Nachmittag im Laden zu stehen. Oder Därme auszuwaschen. Alle Därme dieser Welt hätte ich ausgewaschen. Oder den Laden gekehrt. Und den Hof dazu. Oder das ganze Haus von oben bis unten feucht durchgewischt. Damit wäre ich bis Ende der Woche beschäftigt. So lange würde ich auch nicht mehr zur Schule gehen.

    An dem Punkt meiner Überlegungen stand ich bereits eine viertel Stunde hinter der Kapelle.

    »Wartest du schon lange?«, keuchte Rebecca und schubste ihr Fahrrad ins Korn.

    »Nein. Ich bin auch gerade erst gekommen. Und ich muss auch gleich wieder weg. Also, was machen wir?«, fragte ich möglichst beiläufig, während mir das Herz bis zum Hals klopfte.

    »Ich dachte, du wolltest, dass ich dir zeige, wie man küsst«, staunte Rebecca.

    »Wollte ich das?«, tat ich überrascht.

    »Ja. Wolltest du«, bestätigte Rebecca mit zusammengezogenen Augenbrauen.

    »Na gut. In Gotts Namen. Wenns sein muss«, seufzte ich.

    Ungefähr so wie Mutter auf die Bitte einer Kundin, anschreiben zu dürfen.

    »Wenns sein muss?«, verrutschte Rebecca die Stimme. »Du wolltest doch … Aber wenn du‘s dir anders überlegt hast …«

    Mit zwei Schritten war sie an ihrem Rad.

    »Nein!«, stieß ich hervor. »Äh. Das heißt … Ich meine, jetzt wo wir schon mal da sind.«

    »Oder sollen wir vielleicht erst mal eine rauchen?«, bot Rebecca überraschend an, was meinen Puls wieder einigermaßen beruhigte.

    Dafür meldete sich ausgerechnet jetzt mein Sinn fürs Praktische.

    »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Also vorher … Ich meine wegen dem Geschmack … im Mund.«

    »Stimmt. Daran habe ich gar nicht gedacht», stellte Rebecca fest und schritt zur Tat. »Dann wollen wir mal. Bevor wir hier noch Moos ansetzen.«

    »Was muss ich tun?«, schnaufte ich aus und schaltete einfach auf Schulbetrieb.

    »Du? Nichts. Du machst das Mädchen und ich den Jungen.«

    »Gleich mit oder erst einmal ohne Zunge?«

    »Natürlich mit. Du willst ja schließlich lernen, wie das geht. Oder hast du Angst, dass du davon lesbisch wirst?«

    »Nein!«, schrak ich auf.

    Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

    »Gut. Dann erkläre ich die Badesaison hiermit für eröffnet«, meckerte Rebecca wie Heinz Rühmann in ›Quax, der Bruchpilot‹, riss mich in ihre Arme und fing an, mein Gesicht abzugrasen.

    Ich wunderte mich zwar, ließ sie aber erst mal machen. Ich sagte mir, eine die in Berlin mit Hotelpagen knutscht, wird schon wissen, was sie tut. Doch als sie einfach nicht auf den Punkt kam, dachte ich, sie hat wohl Schiss bekommen und will sich am Ohr vorbei in die Büsche schlagen. Ist vielleicht auch besser so. Zwei Frauen, die sich heimlich küssen, normal ist das jedenfalls nicht. Genauso wenig wie eine Zunge im Ohr.

    »Iih. Das kitzelt. Lass das!«, jaulte ich auf, aber Rebecca tat als hätte sie nichts gehört. »Sag mal, spinnst du jetzt komplett«, wand ich mich aus ihrem Griff, warf sie rücklings ins Gras und setzte mich auf ihren Bauch. »Doch nicht ins Ohr! Da musst du gar nicht so blöd grinsen. Du und dein Hotelheini, ihr habt doch keine Ahnung. So geht das.«

    Ohne nachzudenken griff ich in Rebeccas Angeberfrisur, bückte mich nach unten und wühlte ihr meine Zunge in den Mund. Und Rebecca wühlte zurück. Solange bis uns die Luft ausging. Dann warf ich mich rücklings ins Gras und dachte zufrieden: ›So. Das wär geschafft.‹

    »Mein lieber Schwan«, murmelte Rebecca, kramte Feuerzeug und Zigaretten aus ihrer Jacke und zündete sich eine an. »Aber wetten, weiter traust du dich nicht.«

    »Was meinst du?«

    »Tu nicht so unschuldig. Du weißt genau, was ich meine. Jemand der so küsst.«

    »Nein. Weiß ich nicht.«

    »Soll ich es dir erklären?«, spöttelte Rebecca.

    »Nein. Weil es da nichts zu erklären gibt.«

    Ich hatte gerade geküsst, dass Rebecca Hören und Sehen vergangen war. Was denn noch?!

    »Erzähl mir doch nichts«, blieb sie dran und steckte mir die angerauchte Zigarette zwischen die Lippen. »Aber ist schon recht, du Meisterküsserin. Ich muss eh los. Mama wartet mit den Vorhängen.«

    Dann lag ich alleine im Gras, paffte Rebeccas Zigarette fertig und dachte nur: ›Zwei Fliegen mit einer Klappe. Erste Zigarette und erster Kuss. Nicht schlecht für den Anfang‹. Danach schwang ich mich in den Sattel und klapperte nach Hause.

    Mutter hatte kaum den Mund aufgemacht, da stand ich schon hinter der Theke und schmetterte: »Die nächste bitte!«

    Und nach Ladenschluss hab ich nicht nur wie üblich den Laden rausgewischt, sondern die Metzgerei gleich mit. Und wäre Mutter nicht eingeschritten, hätte ich wohl auch noch die Treppen geputzt und den Dachboden dazu, in dem hormonellen Zustand, in dem ich mich befand. Nach dem Abendessen bin ich dann direkt ins Bett, da war es noch nicht mal dunkel. Aber das war mir egal. Für heute hatte ich genug erlebt.

    Um vier Uhr wachte ich zum ersten Mal auf. Von da an alle halbe Stunde. Aber als es endlich Zeit war, hätte ich am liebsten verschlafen. Weil man aber nicht absichtlich verschlafen kann, bin ich extra früh los und hab mich noch vor Schulbeginn in meine Bank gesetzt. Und da bin ich geblieben bis Schulschluss, nicht mal in den Pausen bin ich raus. Und die ganze Zeit hab ich Rebecca nicht einen Blick geschenkt. Doch Punkt drei Uhr war ich wieder an der Kapelle.

    Und dabei sind wir geblieben.

    Natürlich nicht jeden Tag. Meistens musste ich ja arbeiten. Im Gegensatz zu Rebecca. Lobensteins hatten eine Zugehfrau. Aber es gab ja auch noch die Sonntage. Wobei wir natürlich nicht nur rumgeschmust haben. Hauptsächlich haben wir geredet. Darüber, wer gerade ein Ritterkreuz verliehen bekommen hatte oder welcher U-Boot-Kommandant gerade tonnagemäßig vorne lag. Besonders die hatten es mir angetan. Das waren so verwegene Kerle mit zerknautschten Mützen, frechem Blick und Drei-Tage-Bart. Aber hauptsächlich interessierten wir uns natürlich für die aktuellen Stars, Mode, Frisuren, Schminktipps, was Mädchen in dem Alter ebenso interessiert.

    Als dann die Bäume angefangen haben, uns mit Blättern zu bewerfen und die Mähdrescher kamen, verlegten wir unsere Aktivitäten in Rebeccas Kinderzimmer. Da mussten wir auch keine Angst mehr haben, dass uns jemand überraschen würde. Ich weiß nicht, ob ihre Eltern wussten, was wir da trieben, aber wenn, waren sie sehr diskret. Und es war ja auch nicht so, dass wir Sex gehabt hätten. Wir waren einfach nur neugierig. Wir betrachteten unsere pubertierenden Körper nicht als Sexualobjekte, eher wie Landkarten, die es zu erkunden galt. Und als wir damit durch waren, waren wir einfach beste Freundinnen.

    Apropos Landkarten: Nicht so gut sah es auf der wirklichen Karte aus, die von damals bekannten Namen nur so wimmelte. Klingende wie Tobruk oder Bengasi, unaussprechliche wie Wschowa, Szprotawa oder Byczyna, und wieder andere, die nur geflüstert wurden.

    Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich Rebecca immer für eine eingebildete Ziege gehalten hab?«, fragte ich Mutter, wieder zurück aus dem Land meiner Erinnerungen.

    »Stimmt das vielleicht nicht?«, fragte sie zurück.

    »Also ›eingebildete Ziege‹ hab ich sicher nie gesagt. Und das tut ja auch gar nichts zur Sache. Ich verstehe nur nicht, wo die hin sind. Weihnachten waren Lobensteins noch nie weg.«

    »Woher willst du denn das wissen?«, wich Mutter aus. »So lange seid ihr jetzt auch noch nicht befreundet.«

    »Eineinhalb Jahre. Und letztes Jahr waren sie da. Wenn sie dieses Weihnachten wegfahren hätten wollen, hätte sie es mir bestimmt gesagt. Außerdem haben wir erst letzte Woche ihre Pyramide aufgebaut.«

    Rebeccas Vater war zwar Jude, aber Weihnachten feierten sie nicht anders wie wir. Mit Baum, Pyramide und allem drum und dran. Und natürlich mit Geschenken, und das nicht zu knapp.

    »Dann haben sie es sich eben anders überlegt. Soll vorkommen«, sagte Mutter leichthin.

    Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mir etwas verheimlichte.

    »Und woher weißt du das?«

    »Ich? Ich weiß gar nichts.«

    »Klingt aber so. Jetzt komm schon, Mama. Du weißt doch was.«

    »Also gut«, schnaufte Mutter und knallte das Besteck auf den Tisch. »Sie sind in Auschwitz.«

    »Und wann kommen sie wieder?«, fragte ich nach und folgte ihr in den Laden.

    Weg von den Dampfnudeln, die wahrscheinlich heilfroh waren. Dampfnudeln fürchten sich nämlich vor nichts mehr, als wenn man andauernd nachschaut. Die fallen dann zusammen, was sich natürlich auch auf den Geschmack schlägt. Außerdem, das Auge isst schließlich mit.

    Aber lieber zusammengefallene Dampfnudeln als gar keine, sagte ich mir beim Blick über die Straße, hinüber zum Haus vom roten Konrad. Der war seit ein paar Jahren in Dachau, auch so ein Ortsname, den die Erwachsenen immer nur hinter vorgehaltener Hand aussprachen.

    »Was weiß ich. Das Beste ist, du vergisst sie«, grollte Mutter hinter der Theke hervor, wo sie den kalten Braten schnitt fürs Rathaus.

    »Aber warum denn?«

    »Weil aus Auschwitz keiner mehr zurückkommt. Aber das behältst du für dich.«

    »Warum?«, schluckte ich trocken.

    »Weil wir sonst in Teufels Küche kommen.«

    »Warum?«

    »Warum, warum, warum!«, brauste Mutter auf und hob zum ersten Mal den Kopf. »Weil das als Hetze ausgelegt werden könnte.«

    »Das verstehe ich nicht. Haben Lobensteins nur dir gesagt, dass sie weggehen?«

    »Lobensteins haben gar nichts gesagt. Mir nicht und auch sonst keinem. Dazu hatten die gar keine Gelegenheit mehr. Aber das ist ja nur die eine Seite.«

    »Und was ist die andere?«

    »Also gut, alt genug bist du ja. Wer … Nein. Anders.« Mutter legte das Tranchiermesser weg und hielt kurz die Luft an, wie immer, wenn sie sich zu etwas durchgerungen hatte. »Wenn du in den Spiegel schaust, ist dir da eigentlich noch nie was aufgefallen?«

    »Warum? Äh. Nein.«

    »Ich meine, im Vergleich zu deinen Schulfreundinnen.«

    »Was ist mit denen?«

    »Mit denen?«, staunte Mutter.

    »Ja. Du hast doch gerade gesagt …« Weiter kam ich nicht. Ihr Blick war eindeutig wie der unseres Lehrers, wenn er davon ausging, dass die Frage durch eigenes Nachdenken gelöst werden konnte. »Du meinst, weil wir auch Juden sind? Es weiß nur keiner?«

    »Was? Nein! Um Gottes Willen. Es ist nur, weil der liebe Gott bei deinem Teint ein bisschen mehr Farbe in den Topf gegeben hat als bei deinen Brüdern. Und dein Gestrüpp geht auch nicht gerade in Richtung arisch blond.«

    »Aber dafür kann ich doch nichts. Und außerdem, so viel arischer schaust du auch nicht aus.«

    »Werd nicht frech, Fräulein. Aber wenigstens hast du verstanden, um was es mir geht. Und dabei ist das Aussehen noch nicht einmal alles. Wie oft hab ich dir zum Beispiel schon gesagt, dass du dich mehr um deine Stimme bemühen sollst. Für was meinst du, zahl ich deinen Stimmunterricht?«

    Mutter brach ab, zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Schürze und zündete sich eine an.

    »Schau, Kind«, blies sie eine pfeilgerade Rauchfontäne Richtung Plafond. »Ich mein es doch bloß gut mit dir. Und deine Stimme, versteh mich nicht falsch, deine Stimme ist wunderbar. Aber viel zu dunkel für dein Alter. Schon beinahe wie die von der Leander.«

    »Das sagt Rebecca auch immer«, stieß ich hervor und ließ mich auf die Fensterbank plumpsen.

    »Dann weißt du ja, was ich meine. Schau … Und geh bitte vom Fenster weg, nicht dass noch jemand aufschnappt, über was wir uns hier unterhalten. Komm zu mir hinter die Theke … So, und jetzt lass dich in den Arm nehmen … Schau, Anna. Ich möchte doch nur nicht, dass du auffällst. Meine Leute kommen nun mal aus dem Osten. Und du kommst eben ganz nach ihnen. Und wie das so ist, wenn man etwas anders ausschaut wie die andern, ratzfatz kommen Gerüchte auf. Und dass du eine Stimme hast wie Zarah Leander ist da nicht gerade hilfreich. So hoch im Kurs steht die nämlich auch nicht mehr. Die ist seit letztem Jahr wieder in Schweden. Die hat den Braten gerochen und das sinkende Schiff verlassen. Sich jetzt noch mit der vergleichen zu wollen, ist nicht gerade hilfreich. Und dann der Name. Die heißt eigentlich gar nicht Zarah, sondern Sara. Und wenn das kein jüdischer Name ist.«

    »Aber was redest du denn da. Das stimmt doch alles gar nicht. Alle lieben sie.«

    Verärgert riss ich meinen Kopf aus ihren Händen.

    Das wusste ich nun wirklich besser. Lobensteins hatten die ›Film-Bühne‹ abonniert, die Rebecca und ich regelmäßig durchackerten. Keine Ausgabe ohne Zarah Leander!

    »Das kann schon sein«, griff Mutter nach meinem Zopf. »Aber nicht die, auf die es ankommt, die entscheiden, wer wegkommt und wer nicht. Ich kann dir den Artikel, den der Himmler über die Leander geschrieben hat, gerne vorlesen.«

    »Was für einen Artikel?«

    »Hab ich vom Bürgermeister bekommen. Letztes Jahr schon. Als er mir gesagt hat, dass ich dich Singstunden nehmen lassen soll. Er hat Papa versprochen, dass er ein Auge auf uns hat.«

    »Aber davon weiß ich ja gar nichts. Ich hab gedacht, du wolltest, dass ich vielleicht mal eine Sängerin werde.«

    »Das kannst du auch. Aber in erster Linie geht es darum, dass deine Stimme heller wird.«

    »Und warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«, gab ich beleidigt zurück.

    »Weil ich dich nicht beunruhigen wollte. Weil du letztes Jahr noch ein kleines Mädchen warst. Und man ist schließlich nur einmal Kind.«

    »Aber vielleicht habe ich ja nur deshalb so eine tiefe Stimme, weil wir doch Juden sind. Nur dass es eben keiner weiß«, sinnierte ich, hin und her gerissen zwischen Mutters ansteckender Panik und dem Wunsch, Rebecca auf der Stelle hinterher zu fahren nach Auschwitz.

    »Ein für allemal, wir sind keine Juden. Weder Papa noch ich«, ließ Mutter meinen Zopf los und schaute mich streng an. »Wie willst du da eine sein. Aber damit du endlich Ruhe gibst«, wurde sie schnell wieder weich, »sollte sich tatsächlich ein Jude in unseren Stammbaum geschwindelt haben, dann ist das so lange her, dass das nicht mehr zählt. Oder hast du schon einmal von Sechzehnteljuden gehört? Oder von Zweiunddreißigsteljuden? … Eben. Also, zum letzten Mal: Wir sind keine Juden. Weder halb noch dreiviertel, noch sonst was. Haben wir uns verstanden …? Anna? Gib gefälligst Antwort, wenn ich dich was frage!«

    »Ja. Ich habs verstanden«, maulte ich, drehte mich endgültig aus dem stürmischen Atem meiner Mutter, hin zum Fenster, um aus sicherer Distanz noch einmal Anlauf zu nehmen. »Aber auch wenn es so wäre, also dass Lobensteins jetzt in Auschwitz sind, so schlimm wie du tust, ist so ein KZ nun auch wieder nicht.«

    »Sag mal, spinnst du jetzt komplett!?«, jaulte Mutter auf.

    »Nein«, gab ich trotzig zurück. »Weil die Juden nämlich nicht in den Osten kommen, damit man ihnen dort was tut. Sie werden da hingeschickt, um das Land urbar zu machen. Damit das dann besiedelt werden kann. Irgendeiner muss ja den Anfang machen, und da schickt man eben die Juden. Weil die ja ursprünglich auch von da herkommen. Die haben da sogar eine eigene Stadt. Theresienstadt, wenn du es genau wissen willst. Die hat der Führer den Juden höchstpersönlich geschenkt. Mit Thermalbädern, Hotels und allem Pipapo. Und die müssen da auch nicht hin, die dürfen. Das kostet sogar richtig viel Geld, wenn man da hinwill. Deshalb kommen da auch nur Juden hin, weil sich das sonst keiner leisten kann. Sogar aus Holland,

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