Momente wie diese: 40 Geschichten aus 40 Jahren Donauinselfest
Von Julya Rabinowich
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Über dieses E-Book
Es sind Momente wie diese, die den Geist des Donauinselfestes einfangen wie keine anderen und die Julya Rabinowich in vierzig literarische Geschichten verwandelt hat. Momente und Geschichten, die berühren, amüsieren und das Warten auf das nächste Donauinselfest versüßen.
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Momente wie diese - Julya Rabinowich
Alpha oder Der Vater des Festes
1983
Die Donauinsel wurde 1972 geboren. Als die Verfasserin dieser Zeilen zwei Jahre alt war und noch in Leningrad lebte, das erst später wieder zu Sankt Petersburg wurde. Wir sind also fast gleich alt, die Insel und ich. Und wir durchlebten auch beide einige Metamorphosen. Manche getrennt voneinander, manche sogar gemeinsam. 1977 zog ich jedenfalls der Insel hinterher und landete in Wien. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Hier und jetzt geht es nicht um mich, sondern um den Vater des Donauinselfestes, es geht hier um Harry Kopietz.
Alles, was gelingen soll, muss gut organisiert werden. Und alles, was bahnbrechend werden soll, muss erdacht und gewagt werden. Es gibt Menschen, die oft nicht wissen, wo die rechte Hand ist und was die linke tut, das aber kombiniert mit sprühenden Ideen und Eingebungen. Sie sind unverzichtbar, wenn es um Inspiration und die Entstehung von Kunst geht. Aber wenn es um etwas geht mit vielen, vielen Künstlerinnen und Künstlern, mit kreativem Chaos und Hunderttausenden Besucherinnen und Besuchern, mit riesigem Gastro-Aufgebot und mit dem Überblick über so verschiedene Angebote und so verschiedene Botschaften an so verschiedene Adressatinnen und Adressaten, wie das beim Donauinselfest der Fall ist, dann braucht es nicht nur sprühende Ideen, sondern auch Zähigkeit im Planen und eiserne Disziplin bei der Umsetzung. Um es kurz zu fassen: Hätte ich das Donauinselfest koordinieren müssen, wäre es bereits bei der Größe eines mittleren Kindergeburtstags gescheitert. Glücklicherweise bin nicht ich die Mutter des Festes, sondern Harry Kopietz der Vater, dessen Idee von und die Liebe zu Kunst und Kultur für alle sich in den unterschiedlichsten Projekten gezeigt hat.
Hier und jetzt geht es nicht um mich, sondern es geht hier um den Vater des Donauinselfestes, es geht um Harry Kopietz.
Um das große Ganze zu sehen, ist es nun wichtig, ein paar Schritte zurückzugehen, ja sogar an die Ursprünge zurückzukehren – als Harry Kopietz zum absoluten Beginner des Donauinselfestes wurde. Er gebar das Donauinselfest wie Zeus die Pallas Athene, es war eine Kopfgeburt, eine, die sich ihm offenbarte, als er ganz allein auf der noch nicht fertiggestellten Donauinsel spazieren ging, in ihrem Wind und in ihrer Sonne badete und sich an der zukünftig noch definierteren, aber schon jetzt sich manifestierenden Schönheit der Umgebung erfreute. Auge in Auge mit dem Genius Loci fing ihn die Inspiration ein, oder eher: er sie. Das, so schien ihm, war doch eine prächtig geeignete Stelle, um Feste zu feiern. Frühlingsfeste. Musikfeste. Ein wenig Woodstock an der blauen Donau. Noch gab es diesen definierten Ort nicht, aber Harry Kopietz wusste in diesem Moment: Er würde um ihn kämpfen.
1983 materialisierte sich seine Idee ganz konkret. Die Insel war da zwar noch immer nicht fertiggestellt, sie blieb hinter der Inspiration des Kopietz noch ein wenig zurück, aber das Donauinselfest würde einfach geduldig darauf warten, mit ihr eins zu werden – später. Der Überwältigung durch die schiere Menge an Feierwilligen folgte übrigens eine kurze Ernüchterung um vier Uhr früh: In weißen Bergen von Pappbechern auf der Festwiese sei er gewatet, ein eilig herbeigerufenes Rollkommando inklusive Freiwilliger und Amtspersonen sei seinem Notruf gefolgt, um den Müll wegzuräumen. Die Insel lehrt, und die Veranstaltenden lernen: Seit es Pfand auf Becher gibt, haben sie dieses Problem wieder ziemlich im Griff.
Ja, das erste Fest sprengte von Beginn an die Erwartungen, die Auftritte von Minisex, Tom Pettings Herzattacken und Heli Deinboek zeigten Sogwirkung – statt der erwarteten 15 000 Menschen kamen 160 000, und megalomanisch ging die Geschichte des Festes weiter. Es war einfach die richtige Person am richtigen Ort zur richtigen Zeit gewesen: mit einer Idee für die vielen. Und die vielen waren begeistert. Bis 2023. Und sicher darüber hinaus.
Frühlingsfeste. Musikfeste. Ein wenig Woodstock an der blauen Donau. Noch gab es diesen definierten Ort nicht, aber Harry Kopietz wusste in diesem Moment: Er würde um ihn kämpfen.
Es war einfach die richtige Person am richtigen Ort und zur richtigen Zeit gewesen: eine Idee für die vielen.
Des Rabenkindes Inselschnee
2009
Ich trug meine Lieblingskapuzenjacke, in der ich mich jung und unabhängig fühlte, die Jacke ließ sich über dem Busen gerade noch, über dem Bauch gerade nicht mehr schließen, deswegen entschied ich mich dazu, den Reißverschluss unterhalb der Brustlinie lässig offen zu lassen. Ich war gerade erst einem brechend vollen U-Bahn-Waggon entstiegen, bewegte mich in einer langen Reihe Menschen, die somnambul auf die Zielgerade einschwenkten, von der U1-Station hin zur Insel. Über meinem Kopf ein weiter Himmel voller Sterne, hinter mir ein sehr, sehr junger Mann, der mich, ohne mich je von vorne gesehen zu haben, präventiv im Vorfeld des Festes zu bezirzen versuchte. Ich drehte mich um, er sah mein Gesicht und vielleicht auch die Schwangerschaftsstreifen unterhalb des hochgerutschten T-Shirts und verstummte peinlich berührt. Zu Hause warteten mein Mann und meine kleine Tochter, ich war ausgebrochen, um in mir die Illusion zu hegen, ich wäre wieder ein Teenie, unbeschwert und leicht so wie früher, oder sogar noch früher, als Zehnjährige, als ich die ersehnten Töne, die über das Wasser wummerten, als „Heldenmusik bezeichnete, während das Gesicht meiner Großmutter vor Entsetzen entgleiste. Vermutlich wegen der Vorstellung, ich würde mich tatsächlich unter die „Rocker und Hippies
, die sie drüben auf der gefährlichen Insel vermutete, mischen wollen ohne Rücksicht auf Verluste, wenn man mich nicht so explizit wie beherzt festhielte. Ein Rabenkind!, dachte sie wohl, eine Revoluzzerin, wenn man nicht gut genug aufpasste, immerzu bereit, sich mit Gesocks zu vermischen, schrecklich.
Ein Rabenkind!, dachte sie wohl, eine Revoluzzerin, wenn man nicht gut genug aufpasste, immerzu bereit, sich mit Gesocks zu vermischen, schrecklich.
Das ehemalige Rabenkind querte in kleinen Schrittchen die glänzende Fläche des Flusses mit einer Mischung aus Vorfreude und Nachdenklichkeit, das Gefühl der Freiheit wollte sich nicht recht einstellen, das Lebensgefühl als kinderloser Teenie fühlte sich ähnlich an wie die Jacke, es passte nicht mehr richtig. Ich irrte im Halbdunkel über die Insel, an küssenden und streitenden Menschen vorbei, Zuckerwattebratwurstlangosduft in der Nase, kippende Bierbecher und Musikschwellkörper auf diversen Bühnen, der Sound war ein Ungetüm mit sehr unterschiedlichen Ausformungen, das beständig vor sich hin mutierte. Ich hatte keinen Plan, keine Clique, ich trieb vollkommen allein in der anbrechenden Nacht dahin und wusste nicht einmal mehr, ob ich das so wollte oder nicht. Das neue Bild, das ich von mir haben sollte, war noch nicht ausgereift, das alte noch nicht verabschiedet, ich steckte in meinem eigenen Geburtskanal fest. Ich erstand eine Cola und einen gegrillten Maiskolben, um wenigstens etwas Greifbares in Händen zu halten, wenn schon keine Partystimmung im Herzen, irgendwann ließ ich mich von der Strömung zu einer der größeren Bühnen tragen, der Platz davor war schon vollständig besetzt, Leib an Leib, ein bisschen erinnerte das Nähe-Distanz-Verhältnis des Publikums mich an die Moskauer U-Bahn, von der Dichte her. Die Tokioter U-Bahn hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausprobiert, sie fehlte daher als Vergleichsmöglichkeit. Kurz und bündig gesagt: Mir blieben nur die hinteren Ränge.
Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, zu weit weg, aber ich wusste, der Mann war eine Offenbarung. Close your eyes and think of somewhere.
„Welche Band?", fragte ich meinen Nachbarn, der gut zwei Meter groß war und über die Wand von Rücken und Schultern blicken konnte, die sich vor mir aufgebaut hatte. Ich hoffte auf einen mir bekannten Namen. Ich wollte mich jung fühlen, wie gesagt.
„Snow Patrol", sagte er. Nie gehört, dachte ich. Nie gesehen. Meine Jugend schwamm mir immer weiter mit den Fellen alternder Popmusik davon, mit Cyndi Lauper und Depeche Mode (dass Depeche Mode wildeste Metamorphosen über Jahrzehnte durchleben würden, war mir da nicht klar, ist aber eine schöne Tatsache), Bonnie Tyler und a-ha. Ich beschloss, dennoch um dieses wilde Gefühl der geschenkten Unsterblichkeit zu kämpfen, und blieb trotzig stehen. Die Menge wuchs an, die Menschen drängelten sich dichter und dichter aneinander, ich wollte nicht mitdrängeln und wich auf eine kleine Anhöhe aus, um die Bühne als leuchtenden Fleck im Finstern zu beobachten. Die Anhöhe war uneben und ich musste beständig das Gleichgewicht halten. Weit, weit weg erschien die Band, die ich nicht kannte, egal, ich würde sie schon noch kennenlernen!
Und dann kam dieser Mann mit diesen Locken auf die Bühne und sang. Es war ein Schwanengesang für die Heldinnen und Helden meiner Teenietage, er klang anders. Es war ein Phönixgesang einer neu anbrechenden Lebensphase, er klang wunderbar, er klang überwältigend, die Texte seiner Lieder rissen Erinnerungen an Shakespeare an oder die russische Lyrik, die mir meine Mutter vorgelesen hatte, seine Worte hatten Eleganz und Gewicht, seine Stimme hatte hingegen Erotik. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, zu weit weg, aber ich wusste, der Mann war eine Offenbarung. Shut your eyes and think of somewhere. Der Sternenhimmel drehte sich über mir. Take back the city. Und wie ich mir die City zurückholen wollte! Ich würde nach dem letzten Song nach Hause gehen. Es war ein neues Leben. Ich schloss mit der Jacke ab, die ich nicht mehr schließen konnte. Morgen würde ich sie