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Der verschwundene Pokal - World Cup '66: Ein fantastischer Kriminalroman
Der verschwundene Pokal - World Cup '66: Ein fantastischer Kriminalroman
Der verschwundene Pokal - World Cup '66: Ein fantastischer Kriminalroman
eBook309 Seiten4 Stunden

Der verschwundene Pokal - World Cup '66: Ein fantastischer Kriminalroman

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Über dieses E-Book

London, März 1966: Ganz England freut sich auf die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer. Da geschieht das Unfassbare: Das Objekt der Begierde, der WM-Pokal, wird aus einer Ausstellung in der Westminster Central Hall entwendet. Die Hintergründe des Verschwindens wie auch des überraschenden Wiederauftauchens einige Tage später liegen bis heute im Dunkeln.
Oder besser gesagt – lagen! In einer nicht komplett wörtlich zu nehmenden Rekonstruktion greift Konstantin Josuttis die Ereignisse in den Swinging Sixties auf, vermischt sie mit ein bisschen Pop-Kultur und komponiert daraus einen mit überraschenden Wendungen gespickten Kriminalfall, dessen Spannungsbogen sich über den halben Erdball zieht.
Auch in diesem World-Cup-Rätsel ermittelt wieder Jean Conan Doyle, Tochter des berühmten Autors der Sherlock-Holmes-Romane. Sie bekommt es bei der Aufklärung mit zwielichtigen Gestalten der Londoner Unterwelt, Freundinnen englischer Nationalspieler, der Queen, weltberühmten Musikgrößen, einer Schachweltmeisterin, Heiligen, fremden Königen, einem dubiosen Linienrichter und natürlich auch wieder einem moralisch zweifelhaften Fußballpräsidenten zu tun.
So könnte sich alles rund um den World Cup '66 zugetragen haben – das Gegenteil muss erst einmal bewiesen werden!
SpracheDeutsch
HerausgeberArete Verlag
Erscheinungsdatum10. Mai 2024
ISBN9783964231260
Der verschwundene Pokal - World Cup '66: Ein fantastischer Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Der verschwundene Pokal - World Cup '66 - Konstantin Josuttis

    I. Der verschwundene Pokal

    „Horch! Das Wild ist aufgescheucht!"

    William Shakespeare

    Donnerstag – 10.3.1966

    1.

    Die Fensterscheiben vibrierten. Fast unmerklich, sanft und beständig, aber das Rattern war, einmal wahrgenommen, nicht mehr zu ignorieren. Erst waren es die Frauen, die ihr gegenübersaßen, an denen sie Anstoß genommen hatte, aber nun, da diese aufgehört hatten, unerlässlich zu quatschen, musste Jean auf die Fensterscheibe starren, die das beständige Rütteln des Zuges erbarmungslos aufnahm.

    Jeans Finger trommelten nervös auf der Ledertasche, die sie auf ihrem Schoß liegen hatte. Draußen rauschte die trübe Spätwinterlandschaft Südenglands an ihr vorbei. Sie hasste den März. Nach der durchaus besinnlichen und gemütlichen Weihnachtszeit, den zwölf Weihnachtstagen und zuletzt mehr oder weniger erholsamen zwei Wochen bei Tante Hattie in Llangollen, kam wie immer dieses lange Warten auf die ersten Boten des Frühjahrs – ein warmer Windhauch aus dem Osten, aufblühende Knospen und gelegentliches Zwitschern der zurückkehrenden Schwalben. Aber so war er, der März: unerbittlich, kalt und trostlos. So wie die gelben Felder, über denen noch nicht einmal eine zärtliche Schneedecke lag. Die großen, nassen Flocken weigerten sich beharrlich, auf den Wiesen und Wegen liegenzubleiben und verzogen sich in die Tiefen des kalten Matsches. Ihre Finger trommelten wieder.

    Sie fragte sich, was sie in London erwarten würde. Vielleicht war ja diese Ungewissheit, so wurde ihr auf einmal klar, der Grund, dass sie alles und jeden momentan mit einem überkritischen Auge betrachtete. Als spürte die ihr direkt gegenübersitzende Frau, dass Jean gerade beschlossen hatte, ihre eigene Übellaunigkeit in Frage zu stellen, schaute sie sie an, um sie anzusprechen.

    „Fahren Sie auch nach London?"

    Jean schluckte die bissige Bemerkung, die sie auf den Lippen hatte, herunter. Sie war in Crewe zugestiegen, wo die beiden Schönheiten schon im Abteil gesessen hatten.

    Aber sie nickte lächelnd. Wohin sollte man wohl sonst fahren in einem Zug nach London? Sie schaute die zwei jungen Dinger genauer an. Die erste war gekleidet wie so viele in dieser seltsamen Zeit: Hochfrisierte blonde Haare, einen Trenchcoat über einem Wollpullover, der ihre festen Brüste betonte, und der viel zu kurze Rock, der eine klare Botschaft an alle Männer aussandte. Jean bemerkte, wie sie ihre Lippen spitzte. Die junge Frau schien ihre Abneigung allerdings nicht zu spüren.

    Die andere hatte zumindest keine in höhere Stockwerke toupierten Haare, sondern eine lange, dunkle Mähne, die von einem Pony in gerade Bahnen gelenkt wurde. Sie trug ein kariertes Hemd und einen beigefarbenen Rock, der diesen Namen allerdings nicht wirklich verdiente, da ihm die entsprechenden Längenzentimeter fehlten. Jeans Blick auf sich spürend, fühlte sie sich wohl bemüßigt, nochmals nachzuhaken.

    „Wir fahren unseren Freunden hinterher, wissen Sie?"

    „Ja, wir beide."

    Jean nickte erneut. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber auch kein Wort zu viel reden, um das geschwätzige Pärchen nicht zu oberflächlicher Konversation zu ermutigen. Eine Ermutigung war allerdings auch gar nicht notwendig. Die Blonde, schon vorher Initiatorin der unsinnigen Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten gewesen, redete munter drauf los.

    „Unsere Freunde spielen nämlich Fußball. Falls Sie wissen, was das ist."

    Nun lachte Jean kurz auf. Und nun war es vorbei mit ihrem selbstauferlegten Schweigegelübde.

    „Sie werden es mir nicht glauben, Liebste, aber in der Tat weiß ich, was Fußball ist." Die Blonde war überrascht. Sie berührte mit der linken Hand kurz ihre Haare, aber ganz vorsichtig, um das mit Spray zusammengehaltene Kunstwerk nicht zu zerstören. Sie schien nur kurzfristig beeindruckt zu sein.

    „Ach, was Sie nicht sagen. Also, mein Freund, wissen Sie, der spielt nämlich in der ersten Liga. Ich will ja nicht unbedingt protzen, aber ich glaube, er ist richtig gut."

    „Wie schön."

    „Ja. Gordon ist einfach wunderbar. Samstag ist das Spiel."

    „Sie kommen aus Liverpool?"

    „Ja – am Samstag spielen wir gegen Arsenal, wissen Sie?, warf die Brünette ein, woraufhin die Blonde einen Gesang anstimmte: „Once and for Everton, once and for Everton …

    Diese Zurschaustellung stupider Fußballgeselligkeit ging Jean entschieden zu weit. Schnell warf sie eine Frage ein.

    „Sie fahren nicht zusammen mit den beiden?"

    Die Dunkelhaarige lächelte versonnen aus dem Fenster hinaus. „Aber nein. Die fahren natürlich mit der Mannschaft. Wobei die uns schon alle gerne dabei hätten." Dann fing sie an zu kichern, als ob ihre Andeutung ein gelungener Witz gewesen wäre. Ihre Freundin brach in schallendes Gelächter aus.

    „Und nach dem Spiel geht es in den Marquee Club."

    „Oh, Pat, das wird der Knaller."

    Um das Gespräch möglichst schnell wieder zu beenden, zückte Jean den Brief, der sie in erster Linie dazu bewogen hatte, Tante Hattie den Rücken zu kehren und zurück nach London zu kommen. Sie öffnete den Umschlag mit dem königlichen Siegel und las noch einmal die Worte, unterschrieben von der Queen daselbst, die sie zu einem persönlichen Gespräch vorlud. Dies war einer der Gründe dafür, dass sie sich ganz formal in ihre Uniform gekleidet hatte. So bildete sie einen sichtbaren Kontrast zu den jungen Damen, die mit ihr im Abteil saßen. Vielleicht war das einer der Gründe, dass die beiden sie wie die Gattung einer seltsamen Tierspezies anschauten und hinter vorgehaltenen Händen flüsterten und kicherten. Es war Jean egal.

    Sie schaute sich die Frauen an, die offensichtlich in vollkommener Zufriedenheit über die Umstände, die ihnen das Leben zugespielt hatte, lebten. Sie musste den Impuls unterdrücken, die beiden jungen Frauen mit Verachtung zu bedenken, denn schon immer war sie misstrauisch gegenüber Menschen, die, ohne nachzudenken, das Leben in vollem Maß genossen und nicht ahnten, dass ihre Jugend irgendeinmal verwelken musste.

    Sie dachte an ihre eigene Jugend, die so vollkommen anders gewesen war. Keine aufreizende Kleidung und kein ausschweifendes, zügelloses Leben. Ein Flämmchen Wärme flackerte in ihr auf, als sie an den einen, seltsamen Mann dachte, den sie vor langer Zeit in ihr Herz geschlossen hatte: Moritz Fischer. Sie dachte an die Schiffspassage nach Uruguay, die ihr Leben so nachhaltig und tiefgreifend verändert hatte, und für einen kleinen Moment wurde ihr klar, dass ihre Verachtung eigentlich nur ein billiger Ausdruck ihrer eigenen Enttäuschung war. Bevor sie jedoch diesen Gedanken zulassen konnte, sagte die Frau, die ihr gegenübersaß: „Was?" Jean schreckte auf.

    „Was?"

    „Was? Sie schauen mich so an."

    „Oh. Entschuldigung. Sie haben mich an eine Freundin erinnert." Jean sah die betörende Gestalt von Smeralda das Schiffsdeck herablaufen.

    „Wirklich? Oh, na dann."

    Sollte die Frau für einen kurzen Moment verunsichert gewesen sein, so schien sie sich schnell erholt zu haben. Dann fingen die beiden wieder an zu schwätzen. Es ging, soweit Jean das mitbekam, um Mode, um Tanzen und Musik. Aber sie hörte auch nur noch mit einem halben Ohr zu, denn einmal in Gang gebracht, folgte sie der ratternden Erinnerungsmaschine, die sie 36 Jahre in der Zeit zurückblicken und die Gestalten von Smeralda und Moritz vor ihrem geistigen Auge erscheinen ließ. Schwelgend wunderte sie sich, wie viel Zeit vergangen war, da die Erinnerung noch so frisch und unmittelbar wirkte. Das Schuldgefühl der Älteren, die die Chancen der Jugend ungenutzt haben verstreichen lassen, legte sich wie ein kaltnasser Film auf ihre Haut. Sie blickte hinaus und sah die veränderte Landschaft. Sie hatten Watford bereits hinter sich gelassen. Die ersten Vororte verunstalteten den Blick auf das feuchte Frühjahr.

    Immerhin wurden Jeans Gedanken dadurch abgelenkt, dass der Schaffner dem Abteil noch einen Besuch abstattete und, wie zu erwarten war, die beiden Schönheiten mit aufreizenden Blicken bedachte. Während er die braunen Pappkarten mit seinem Stanzer entwertete, starrte er auf das lockende, helle Fleisch, das ihm in Form von langen Beinen und schlanken Armen entgegenblickte. Mit einem schmierigen Grinsen schob er sich seine Schirmmütze ein Stück nach hinten und verabschiedete sich mit „Die Damen", ohne dabei Jean eines Blickes zu würdigen. Es war offensichtlich, dass die beiden Angesprochenen die zur Schau gestellte Animalität des Mannes auch noch genossen.

    Jean hatte diese zweite Welt, in der sich die Gattung Mensch zeitweise aufhielt, nie verstanden. Es war offensichtlich, dass man sich in seinem Alltag gepflegt und gesittet unterhielt, höflich miteinander umging und sich zumindest äußerlich wertschätzte. Wir Engländer beherrschen diese Kunst wie keine Zweiten, dachte Jean. Dies war die erste Welt. Doch dann gab es da eben noch eine andere. Sobald sich der Mensch in der Sicherheit der Dunkelheit zu wähnen glaubte, kam in ihm dieser animalisch dionysische Trieb hervor, der Ratio und Vernunft hinter sich ließ und nur ein Ziel verfolgte: Kopulation. Jean hatte diese seltsame Lust nie verstanden und nie gemocht. Zu groß war der damit einhergehende Kontrollverlust. Sie seufzte. Mittlerweile waren die letzten Felder und Wälder aus dem Sichtwinkel verschwunden und der Zug ratterte an schäbigen Vororthäusern vorbei, an karg befahrenen Straßen und hier und da ein paar Läden: Bäcker, Metzger oder Obsthändler, die Stände mit Kartoffeln und Rüben auf den Bürgersteig gestellt hatten.

    Dann aber fuhr Jean auf, sodass die beiden Damen ihr gegenüber sie befremdet ansahen. Vor ihr, während der Zug sich ächzend in eine lange Kurve in Richtung Südosten mühte, tat sich ein riesiges, weißes Gebäude auf. In der Entfernung sah das Gebäude aus wie ein indischer Palast, weiß und majestätisch staken zwei Türme mit runden Kuppeln in den mittlerweile vernebelten Nachmittag. Als sie sich aber dem Gebäude näherten, verschwanden die Türme hinter der Größe des Baus und aus dem Taj Mahal wurde ein römisches Kolosseum: Weite Torbögen, deren Schwärze wie tiefliegende Augen wirkte, spannten sich über eine hunderte von Metern reichende Länge. An den Seitenflügeln des massigen Baus waren die Treppenaufgänge von schützendem Mauerwerk umgeben. Hier hatte jemand geklotzt und nicht gekleckert.

    Die jungen Damen schienen Jeans Faszination bemerkt zu haben. „Das ist Wembley."

    „Oh, Pat."

    „Oh, Linda."

    Jeans Neugier war nun doch geweckt. Die Damen schauten sich verträumt an. Wieso nur?

    „Was haben Sie?"

    „Wembley. Vielleicht spielen sie da. Die Brünette schaute die Blonde an. „Ich würde mich so freuen für Gordon.

    Darauf die Blonde zur Brünetten: „Ich bin mir sicher, dass Brian nominiert wird."

    „Nominiert?", fragte Jean.

    „Zur Fußballweltmeisterschaft. Ich dachte, Sie kennen sich aus mit Fußball. Die WM. Hier in England. Im Sommer."

    „Ach so. Ja. Habe davon gehört."

    Jean gestand sich nicht gerne ein, dass sie von dem Turnier nur am Rande mitbekommen hatte. Jedes Mal, wenn Onkel George am reich gedeckten Tisch in der guten Stube ihrer Verwandten angefangen hatte, über mögliche Aufstellungen zu reden und jedes Mal, wenn er über Alf Ramsey, den Trainer der Mannschaft, hergezogen war, hatte Jean abgeschaltet, da ihre Gedanken an ihre bisherigen Begegnungen mit Fußball zurückwanderten. Wie kam es nur, dass sie immer wieder mit der eindrücklichsten Zeit ihres Lebens konfrontiert wurde, auch wenn sie diese Zeit durch einen bewussten Akt des Vergessens hinter sich zu lassen gedachte? Schnell wandte sie sich der Gegenwart zu.

    „Und ihre … äh … Freunde spielen bei der Nationalmannschaft?"

    Die Gesichter ihrer Gegenüber drückten Verzweiflung aus.

    „Nun, das hoffen wir", sagte die Dunkelhaarige und strich mit beiden Händen über den Rock.

    „Brian spielt bestimmt, Pat. Bestimmt."

    „Gordon auch, Linda. Glaub’ mir."

    „Für manche wäre es besser gewesen, wenn sie nicht nominiert worden wären", sinnierte Jean vor sich hin.

    „Was meinen Sie?" Die Blonde schaute Jean herausfordernd an.

    Zu ihrer Rettung ließ die Dampflok einen lauten Pfeifton los und mit quietschenden Rädern rollte der Zug in eine Bahnhofsstation ein, die sich adäquater Weise „Wembley Station" nannte. Menschen stiegen ein und aus und Jean war dankbar, ihren Erinnerungen entkommen zu können. Es blieb die Verwunderung darüber, dass das Leben ihr schon wieder eine Begegnung mit dem Thema Fußball präsentierte, als wollte es sagen, dass sie noch nicht abgeschlossen hatte mit den Wunden von damals. Sie ahnte noch nicht, wie recht sie mit dem Gefühl hatte.

    2.

    Draußen vor den hohen schwarzen Metallzäunen, die die streunenden Touristen staunend von der Welt des Adels abhielten, stolzierten die Reiter der Leibgarde fast provokativ gemächlich über das Pflaster, wobei ihre langen goldenen Helmpüschel auf und ab wippten und somit den sorgsam gebürsteten Schweifen der Pferde, auf denen sie saßen, auffallend ähnlich sahen. Der weiße Stein des Palasts war überzogen von schwarzen Flecken, die sich wie Pilze ausgebreitet hatten. Der beständige Regen Londons hatte seine Spuren hinterlassen. Im Gegensatz zu allen anderen, die gaffend vor dem verschlossenen Tor standen und die regungslosen Mienen der Palastwache bewunderten, ging Jean die Spur Road entlang, bis sie in die Erweiterung des Birdcage Walk bog. Sie lief die Buckingham Road entlang und fand ein weitaus kleineres Stück desselben Metallzauns, der sich gegen Eindringlinge erhob, der ihr aber nun von einem ernst aussehenden Mann in schwarzem Anzug geöffnet wurde.

    „Danke, Michael", sagte sie, woraufhin der Mann mit akkuratem Scheitel im schwarzen Frack höflich nickte. Mit dem Geschick eines erfahrenen Torwächters verschloss er die Tür und blickte die Straße hinab, bevor er sich umdrehte und sie mit ein paar schwungvollen Schritten überholte. Nun, da Jean im Inneren des Zirkels angekommen war, überkam sie wieder eine seltsame Mischung aus verschiedensten Gefühlen. Als erstes meldete sich in ihr der Stolz. Sobald sie diesen wahrnahm, ärgerte sie sich schon wieder darüber, denn es war klar, an wen er adressiert war. Es war ein weiterer unsinniger Versuch, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu bekommen, der, seitdem sie aus Uruguay zurückgekommen war, nicht mehr lebte. Dann, verspürte sie das nächste Gefühl, was sich direkt im Schutze des vorigen angeschlichen hatte: Dazugehörigkeit. Sie war im Kreise derer angelangt, die über dem gemeinen Volk standen, der Schönen, der Reichen, der Mächtigen. Und dann, ebenso sicher wie das Auftauchen der anderen zwei, meldete sich Nummer drei: Scham. Zum einen, weil sie eben nicht dazugehörte, nicht wirklich. Sie hatte sich da irgendwie reingeschummelt. Zum anderen, weil sie nicht über dem gemeinen Volk stehen wollte. Sie glaubte an die Gleichheit aller Menschen. Wie konnte es da sein, dass sie das Bessersein genoss? Während sie sich noch mit dem Dilemma ihrer Gefühlswelt beschäftigte, führte Michael sie nach oben. Er war behände eine kalkweiße Stufe hinaufgeeilt und öffnete eine Nebentür, die in den Buckingham Palast führte. Wobei Nebentür eine glatte Untertreibung war. Es handelte sich um ein schwarzes, schweres, doppeltüriges Metallportal, das bedeutungsvoll quietschend nach außen ächzte.

    Teils um ihrer eigenen chaotischen Gefühlswelt zu entgehen, schaute sie sich den Mann an, der ihr in so tadelloser Manier die Tür offenhielt, den Kopf dabei in demütiger Geste leicht gebeugt. Sie kannte Michael schon von vorherigen Besuchen, doch bisher war ihr die Geschmeidigkeit seines Verhaltens nicht aufgefallen, die sich nicht nur auf seine glatten Bewegungen bezog, sondern auf sein gesamtes Sein. Das Wesen des Mannes schien vollkommen in dem, was er tat, aufzugehen. Es schien, als wäre er zu keinem anderen Zweck geboren worden, als in einem königlichen Palast zu dienen. Er hatte diese Ausstrahlung von Bediensteten, die offensichtlich keine Schwierigkeiten damit hatten, auf der einen Seite alles im Blick zu haben und über sämtliches notwendiges Wissen zu verfügen und auf der anderen Seite nur Ausführende, niemals Bestimmende zu sein. Wie konnte man da nur hinkommen, fragte sich Jean, während sie die weiten, langen Gänge herabmarschierten. Hatte sie selber sich doch Zeit ihres Lebens den Pflichten des modernen Lebens zu entziehen versucht. Sie hatte versucht, dem Druck, den ihr Vater durch seine Berühmtheit unwissentlich aufgebaut hatte, geschmeidig durch eine Karriere bei der Royal Air Force zu entgehen. Sie hatte es als Kommandantin in der Tat weit gebracht. Die Medaillen, die sie zu diesem offiziellen Anlass auf ihrer Uniform trug und die bei jedem Schritt auf ihrer Brust klimperten, während sie über den weichen Teppich lief, waren ein Zeugnis dafür. Doch im Gegensatz zum scheinbar völlig zufriedenen Michael wusste sie, dass alles, was sie tat, nur ein Ausweichen, ein Verhindern war und keine Erfüllung bot.

    Michael blieb stehen, verneigte sich wieder leicht und wies mit seiner linken Hand eine Treppe hinauf. Jean stapfte treppauf. Nun wusste sie wieder, wo sie war. An den hohen Wänden ragten Ölportraits längst verstorbener Adliger. Die Gesichter schienen sie streng anzublicken und zu verurteilen. Jean fragte sich, ob die Architektur von Palästen bewusst darauf angelegt war, dass Menschen, die durch die überdimensionierten Räume liefen, sich klein fühlen sollten. Das wäre unsinnig, so dachte sie, denn mehrheitlich waren es hier die Majestäten, die die Räume bevölkerten, Royals und ihre Verwandten, ihres Zeichens von Gott für eine höhere Aufgabe vorgesehen. Der nächste Gang, durch den sie schritt, verstärkte das Gefühl, ein kümmerliches Leben zu führen. Goldene Spiegel säumten die Wände, eine Palastwache mit buntem Federbusch verschwand in einem Korridor, überall Weite und Größe. Mitten im Korridor stand ein großer Steinlöwe, der etwas Asiatisches an sich hatte. Der Löwe starrte geradeaus. Jean konnte ihr unbekannte Schriftzeichen entdecken, die auf dem Sockel eingeritzt waren. Die Schrift wirkte wie eine Zusammenstellung von verschiedenen Kreisen mit unterschiedlichsten Verzierungen.

    Gedämpft durch den Samthandschuh, den er trug, klopfte Michael an eine Tür, die er daraufhin öffnete und, nachdem sie eingetreten war, ebenso sanft hinter ihr wieder verschloss.

    Jean blickte in einen Raum, der offensichtlich dem Zweck diente, Gespräche zu führen. In der Mitte des Raumes standen sich zwei blau-gold gepolsterte Sofas gegenüber, daneben zwei Stühle mit derselben Polsterung. Jeans Blick fiel aber als erstes auf die Person, die am Fenster stand und gedankenverloren nach draußen zu blicken schien. Sobald aber die Tür zugeschnappt war, drehte sich die mittelgroße, leicht gebückte Frau, die ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, um. Das helle Blau des Kleides biss sich mit der dunkleren Variante der anderen Möbelstücke.

    Als sei sie aus einer Träumerei erwacht, setzte die Queen ein Lächeln auf und empfing Jean herzlich.

    „Meine liebe Jean. Wie schön, Sie wieder hier begrüßen zu dürfen."

    Jean machte eilig ein paar Schritte vorwärts und beugte das Knie, um im Knicks den Ringfinger der Königin zu küssen.

    „Eure Majestät."

    „Teure Aide-de-Camp. Wie lange ist es her?"

    „Drei Jahre, Majestät."

    „Ach, wie die Zeit vergeht. Ich habe Sie sträflich vernachlässigt."

    „Majestät, wenn Ihr keinen Bedarf an meiner Präsenz habt, dann ist das ein gutes Zeichen."

    „In der Tat, in der Tat." Mit diesen Worten führte Queen Elizabeth Jean zum Sofa, wo sich die beiden symmetrisch gegenübersetzten. In traulicher Einheit waren die Knie beider Frauen jeweils zur Seite gerichtet.

    „Tee?"

    Queen Elizabeth goss aus einer beigefarbenen Teekanne mit Goldrändchen in eine breite Tasse ein. Jean musste einen Augenblick überlegen, was zu tun sei. Selbst die einfachste Geste erzeugte bei ihr im Beisein der Queen Nervosität. Sollte sie das Heißgetränk ablehnen, da sie der anderen keine Mühen machen wollte? Oder wäre es generell unhöflich, irgendein Angebot überhaupt abzulehnen? Noch bevor sie diese Gedanken zu Ende denken konnte, reichte ihr die lächelnde Queen auf der Untertasse das dampfende Getränk.

    „Danke, Eure Hoheit."

    Elizabeth hatte sich selber eingeschenkt und Jean nahm ein kurzes Lächeln war, als der Kandis in der Tasse knackte.

    „Wie ist das Leben zu euch, Dame Jean? Was macht der Nachlass eures Vaters?"

    „Vielen Dank, Majestät. Ich kann nicht klagen. Jean legte die Hände in Falten auf den Schoß, nachdem sie die Tasse auf dem Beistelltischlein abgestellt hatte. „Der Nachlass wird ja immer noch von meinem Bruder geregelt.

    „Ich erinnere mich. Adrian, nicht wahr?"

    „So ist es, Madam. Ich führe eigentlich ein recht beschauliches Leben."

    „Wie schön. Wie schön."

    Wieder befand sich Jean in einer Zwickmühle. Sollte sie nach dem Grund für ihren Besuch selber fragen, oder geduldig warten, bis die Queen ihr Anliegen vor ihr ausbreiten würde?

    „Unser Leben ist so voller Unwägbarkeiten, meine Liebe. Für eine Regentin wie mich ist es daher von essentieller Notwendigkeit, Menschen an ihrer Seite zu haben, wie Sie – Menschen, denen ich vertrauen kann."

    „Selbstverständlich könnt Ihr das, Eure Hoheit."

    Die Queen schlürfte etwas Tee.

    „Am Nachmittag bevorzuge ich Assam."

    „Ja, köstlich." Jean kam sich kindisch vor. Und die Tatsache, dass sie zunehmend unsicher wurde, trug zu weiterem Ärger auf sich selbst bei.

    „Ein Freund von mir, ein guter Freund, muss ich sagen, ist auf mich zugekommen. Er hat ein Problem."

    Wieder nahm die Queen einen Schluck. Jean setzte ihre Tasse ab. Sie hatte soeben zum dritten Mal versucht, etwas zu trinken, musste aber im entscheidenden Moment absetzen.

    „Wenn ich Ihrer Hoheit weiterhelfen kann."

    „In der Tat. Dieses Problem betrifft England. Es betrifft unsere nationale Identität. Unseren Stolz. Unsere Würde. Leider bin ich selbst nicht genügend informiert, um euch, liebe Jean, ein genaues Bild zeichnen zu können, jedoch …"

    Erst in diesem Moment wurde Jean der weiteren Person gewahr, die sich die ganze Zeit im Raum befunden haben musste. Aus dem Hintergrund – er musste hinter dem Vorhang gestanden haben, der die Doppeltür in den nächsten Raum verdeckte – trat ein Mann hervor. Jean konnte zunächst nur einen Schatten erkennen, einen mächtigen Schatten. Der Umriss des Mannes kam ihr bekannt vor. „Moritz", hauchte sie, als eine Erinnerung wie ein warmer Lufthauch an ihr vorbeizog. Noch bevor sich das Konterfei des Mannes aber zu einer realen Gestalt zusammensetzte, war ihr klar, dass sie einem Wunsch nachgehangen hatte, der sich schnell aus ihrem

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