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Das Ende des Holocaust: Übersetzt von Manford Hanowell
Das Ende des Holocaust: Übersetzt von Manford Hanowell
Das Ende des Holocaust: Übersetzt von Manford Hanowell
eBook492 Seiten6 Stunden

Das Ende des Holocaust: Übersetzt von Manford Hanowell

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Über dieses E-Book

In this volume Alvin H. Rosenfeld criticizes the recent increase in the number of books, films and public memorials held to remember the Holocaust. It is almost perverse that such an escalation threatens rather to denigrate the remembrance of the Holocaust and effectively weakens its meaning. Rosenfeld studies a number of events, for example, Ronald Reagan´s visit to the cemetery at Bitburg in 1985 or the distortions to the story of the Anne Frank and the overall reception of the Holocaust in popular culture. He also points out the cultural forces that work to downplay the general perception of the Holocaust. The book ends with an emphatic warning against the possible consequences of proclaiming the "End of the Holocaust" in the public awareness.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Feb. 2015
ISBN9783647996684
Das Ende des Holocaust: Übersetzt von Manford Hanowell
Autor

Alvin H. Rosenfeld

Dr. Alvin H. Rosenfeld hat den Irving M. Glazer-Lehrstuhl für Jüdische Studien inne und ist Professor für Englisch an der Indiana University Bloomington.

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    Buchvorschau

    Das Ende des Holocaust - Alvin H. Rosenfeld

    Kapitel 1

    Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung

    Die meisten Menschen betrügen sich bewusst mit einer doppelt falschen Überzeugung: Sie glauben an eine immerwährende Erinnerung (an Menschen, Dinge, Taten, Völker) und an Wiedergutmachung (von Untaten, Fehlern, Sünden, Ungerechtigkeit). Beides ist eine Täuschung. Die Wahrheit liegt am anderen Ende der Skala: Alles wird vergessen werden, und nichts wird wiedergutgemacht werden. Jede Wiedergutmachung (sowohl durch Rache als auch durch Vergebung) wird dem Vergessen anheimfallen. Niemand wird Unrecht wiedergutmachen; jedes Unrecht wird vergessen werden. – MILAN KUNDERA¹

    Wir sagen „Holocaust", als ob es einen etablierten Konsens gäbe über den gesamten Bereich historischer Bedeutungen und Assoziationen, den dieser Ausdruck bezeichnen soll. Tatsächlich aber existiert ein solcher Konsens überhaupt nicht. Die gedankliche Vorstellung des Holocaust unterliegt einem Wandel; aber wie diese Vorstellung sich wandelt, wer sie verändert und welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, das sind Fragen, über die man sorgfältig und kontinuierlich nachdenken muss. Ein solches Nachdenken wird hier auf der Basis der folgenden Grundannahmen unternommen:

    1. Die meisten Menschen verdanken das, was auch immer sie sich an Kenntnissen über das Dritte Reich und die Nazi-Verbrechen an den Juden aneignen mögen, nicht so sehr der Arbeit von Historikern, sondern eher der Tätigkeit von Romanschriftstellern, Filmemachern, Dramatikern, Dichtern, Autoren und Produzenten von Fernsehsendungen; sie beziehen diese Kenntnisse dann auch von Museumsexponaten, populären Zeitungen und Illustrierten sowie Internet-Webseiten und schließlich auch von Reden und Ritualen von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens.

    2. Somit ist die „Geschichte" des Holocaust, die den meisten Menschen überwiegend vermittelt wird, zum großen Teil ein Produkt der gängigen Kultur und leitet sich nicht immer von der Geschichte der Juden unter dem Nationalsozialismus ab, um deren wahrheitsgemäße Darstellung Fachhistoriker sich bemühen; sie entspricht ihr auch nicht notwendigerweise. In mancher Hinsicht können die beiden Quellen sogar als rivalisierende Unternehmungen erscheinen, wobei die Konkurrenz zwischen ihnen als Kampf zwischen antithetischen ehrgeizigen Bestrebungen angesehen werden kann.

    3. Die breite Öffentlichkeit steht also nach wie vor bereitwillig unter dem Bann des Holocaust-Schreckgespenstes und ist daher ein aufnahmebereites Publikum für Berichte und Bilder aus der Zeit des Dritten Reiches; dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass dieses weitverbreitete Ergriffensein von dem unsagbaren Leid und dem massenhaften Sterben auch wirklich einem ernsthaften Interesse an dem jüdischen Schicksal während der Nazi-Periode gleichkäme. Eine anhaltende Konfrontation mit allgemein verbreiteten Darstellungen des Holocaust kann sogar – weit entfernt davon, dass diese Konfrontation ein wirksames Mittel ist, um die Öffentlichkeit über die Untaten des Nationalsozialismus und über das den Juden zugefügte Unheil angemessen zu informieren – in das Gegenteil umschlagen. Sie kann die moralische Sensibilität eher abstumpfen als schärfen und damit ein sachliches oder auch ein mitfühlendes Verhältnis zu den Opfern, denen in der Geschichte grausame Pein zugefügt wurde, behindern. Anschauliche Darstellungen von persönlichem oder kollektivem Leiden mögen das Gewissen durchaus aufrütteln, aber sie haben auch die Eigenschaft, die Vorstellungskraft in negativer Weise zu erregen. Und je nach dem, wie und wem sie dargeboten werden, können solche Darstellungen eine breite Palette von Reaktionen hervorrufen, die nicht alle immer angenehm oder freundlich sind. Der von der Absicht her unterrichtende Charakter des Holocaust kann durch eine pornographische Pervertierung untergraben werden.

    4. Zusammengefasst lässt sich folgendes sagen: Die Darstellungen des Holocaust werden beständig umgestaltet, und die verschiedenen Stadien dieser Umgestaltung, die man überall in der gängigen Kultur aufspüren kann, können durchaus dazu beitragen, dass statt einer Festigung genauen und nachprüfbaren Wissens eine fiktionale Unterwanderung der historischen Wahrnehmung dabei herauskommt. Als eines der Resultate einer solchen Entwicklung könnte es sich ergeben, dass man es nach und nach immer mehr ablehnt, den Holocaust als wirklich geschehen anzuerkennen; dabei kann der Fall eintreten, dass das Geschehen keinen Eingang mehr in die historische Erinnerung erfährt und somit in ihr keinen festen Platz erhält.

    Diese Perspektive und die ihr zugrundeliegenden subtilen psychologischen, ästhetischen und kulturellen Motive sind auf einer breiten Palette von Kulturphänomenen festzustellen; viele davon werden in den folgenden Kapiteln des vorliegenden Buches untersucht. Zu Beginn sollten wir einige bemerkenswerte Entwicklungen des politischen Lebens und der gängigen Kultur betrachten, die die Hauptquellen für die Verbreitung von Informationen in einer von den Massenmedien beherrschten Zeit darstellen.

    Wir können zunächst vom Offenkundigen ausgehen: Die meisten öffentlichen Gedenkveranstaltungen sind ohne Berücksichtigung der politischen Kultur des Augenblicks nicht zu verstehen. Ein amerikanischer Historiker drückt es so aus: „Bei der Erinnerung geht es niemals einfach um die Vergangenheit. Es geht immer nur um die Gegenwart.² Als anschauliche Illustration der Wahrheit dieser Einsicht ist es hilfreich, sich an einen Codenamen zu erinnern, der nicht mehr in den Medien vorkommt, obwohl er Mitte der achtziger Jahre einige Wochen lang die Schlagzeilen bestimmte: Bitburg. Es ist zweifelhaft, ob sehr viele Menschen außerhalb Deutschlands vor dem Frühjahr 1985 jemals von dieser rheinischen Stadt gehört hatten (und in Deutschland selbst war fast die einzige mitschwingende Assoziation das dort produzierte Bier, „Bit-Bier). Innerhalb kürzester Zeit jedoch symbolisierte „Bitburg weit mehr als nur den Ortsnamen und stand dann für eine außerordentliche Anspannung in Bezug auf das historische Bewusstsein, auf moralische Wertmaßstäbe, die deutsch-amerikanischen politischen Beziehungen und auf weiteres mehr. Kurz: Was sich bei „Bitburg sofort einstellte, war eine ganze Anzahl größerer und offenbar ungelöster Probleme, die ihre Wurzeln hatten in der traumatischen Periode des Zweiten Weltkrieges und der noch immer nicht verarbeiteten Geschichte der Nazi-Verbrechen an den Juden und anderen Menschen. „Bitburg, das wurde deutlich, löste eine Debatte über einige der in der westlichen Kultur tief verwurzelten Werte aus. Die Notwendigkeit der historischen Erinnerung, der nationalen Verantwortung, der Vergebung und der Gerechtigkeit, der Politik und der Moral – all das wurde durch „Bitburg" ins Bewusstsein gebracht, wenngleich auch meistens nur ansatzweise und auch widersprüchlich.

    Wie konnte etwas so Folgenschweres aus dem hervorgehen, was, oberflächlich betrachtet, mit wenig mehr als einer zeremoniellen Geste zwischen den Regierungschefs zweier alliierter Nationen begann? In einem besonders hervorgehobenen Artikel fasste Newsweek diesen Sachverhalt so zusammen: Er ist verwurzelt in „einem der gravierendsten Dilemmata unserer Zeit – nämlich in dem Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit – die alle Juden in der Welt spüren –, die Verbrechen des Holocaust in Erinnerung zu behalten, und der im nach-nationalsozialistischen Deutschland empfundenen Notwendigkeit, diese zu vergessen".³ Zwar ist diese Formulierung simplifizierend, sie ist dennoch nicht gänzlich abwegig, da sie das weitverbreitete Gefühl für die Bedeutung von „Bitburg" ziemlich genau wiedergibt. Um genauer zu verstehen, worum es sich tatsächlich handelt, ist es nützlich, sich die Worte eines der bedeutenderen Akteure in der Bitburg-Angelegenheit, nämlich Ronald Reagans, in Erinnerung zu rufen.

    Dies antwortete der Präsident der Vereinigten Staaten am 21. März 1985 in seiner aufschlussreichen Pressekonferenz auf die Frage eines Korrespondenten, warum er sich weigern würde, Dachau, das berüchtigte Konzentrationslager der Nazis nordwestlich von München, zu besuchen:

    Frage: Herr Präsident, würden Sie uns Ihre Entscheidung, während Ihres Aufenthaltes in Deutschland im Mai aus Anlass der Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an den V-E Day kein Nazi-Konzentrationslager zu besuchen, etwas erläutern?

    Antwort: Ja, das werde ich. Ich bin fest davon überzeugt, dass man bei dem Gedenken an das Ende jenes großen Krieges nicht Erinnerungen und Emotionen jener Zeit usw. wieder aufleben lassen sollte; wir sollten vielmehr jenen Tag als den Tag begehen, als vor 40 Jahren Frieden und Freundschaft begannen, weil wir jetzt Alliierte und Freunde der Länder sind, gegen die wir einst gekämpft haben, und dass wir, und weil wir ja fast feiern können, da dieser Tag das Ende einer Ära markiert und da wir nun fast 40 Jahre Frieden haben. Im deutschen Volk leben heute noch sehr wenige, die sich überhaupt an den Krieg erinnern können – sicher war von denen niemand erwachsen und in irgendeiner Weise beteiligt –; und die, und sie, und diese haben ein Gefühl, und man hat ihnen ein Schuldgefühl aufgebürdet. Und ich glaube ganz einfach, dass das unnötig ist. Ich denke, man sollte anerkennen, dass sie eine Demokratie geschaffen haben und nun nach demokratischen Prinzipien leben.

    Das ist wirklich eine bemerkenswerte Aussage, wobei nicht unerheblich ist, dass sie gravierende sprachliche Brüche und Ungenauigkeiten enthält. Man kann in einer direkten und gradlinigen Art und Weise sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen, aber Meinungen auszudrücken, die so ambivalent sind wie die von Präsident Reagan, erfordert es geradezu, dass man eine gestammelte und gewundene Redeweise verwendet. Ganz abgesehen von dem linkischen Gestammel, was eigentlich ist es, was an diesen Worten (und sie kündigten Schlimmeres an) so verstörend ist?

    Zum Teil wird man durch die Anzeichen der historischen Ignoranz, die diese Aussage enthält, vor den Kopf gestoßen und auch verblüfft: Schließlich war es zu der Zeit allgemein bekannt, dass eine große Anzahl von Deutschen noch lebten, die im Krieg gekämpft hatten, und eine noch größere Zahl, die sich an den Krieg erinnerten (diese Kenntnis wurde in Deutschland selbst nie in Frage gestellt). Warum also schien der Präsident der Vereinigten Staaten dies nicht zu wissen? Und wenn er es doch wusste, was veranlasste ihn dann, das Gegenteil zu behaupten? Warum, so fragte man sich, war er so offensichtlich bestrebt, Deutschland von seiner jüngsten Vergangenheit zu distanzieren?

    Der Gedanke, dass „unnötige Schuldgefühle den Deutschen „aufgebürdet worden seien, ist genauso verquer und steht auch der allgemeinen Moral entgegen, die bekräftigt, dass die, die sich eines Unrechts schuldig gemacht haben, sich auch wirklich schuldig fühlen sollten. Wenn die Schuldigen solche Gefühle nämlich leugnen oder sie nur deshalb zulassen, weil jemand anders sie dazu drängt, dann werden sie sich zu ihren Untaten nie auch nur ansatzweise bekennen, geschweige denn dafür Sühne leisten. Dass Präsident Reagan das Gewissen der Schuldigen durch den Gedanken erleichterte, es sei unfair, die Erinnerung an die Kriegsjahre wieder aufleben zu lassen, war ein weiteres erschreckendes Beispiel dafür, wie weit die präsidiale Rhetorik in die Irre ging.

    Was aber an Präsident Reagans Äußerung am beunruhigendsten war, das war etwas anderes, nämlich das Gefühl, dass das, was er sagte – so bizarr und inakzeptabel es auch schien –, vielleicht überhaupt nicht nur seine eigene Auffassung spiegelte, sondern im Gegenteil die Einstellung vieler wiedergab. Der Präsident der Vereinigten Staaten war nicht dumm, und er war mit Sicherheit mit dem weit verbreiteten Empfinden und den allgemeinen Wunschvorstellungen vertraut. Ein großer Teil des Erfolges seiner Präsidentschaft erklärt sich ja durch seine natürliche Fähigkeit, das auszudrücken, was im Inneren seiner Mitbürger vorging, und einige ihrer tief empfundenen, grundsätzlichen Ansichten zu artikulieren. Wenn er mit seinen Äußerungen über Deutschland und die Deutschen nicht nur seine persönliche Missachtung der Vergangenheit mitteilte, sondern auch die einer erheblichen Anzahl seiner Landsleute, dann ist das Problem für uns noch beunruhigender.

    Aus verschiedenen Gründen haben viele Amerikaner eine nur ungenügende Kenntnis der Geschichte. Es fällt ihnen auch schwer, eine Beziehung zur Geschichte herzustellen, hauptsächlich wenn es sich um die Geschichte anderer Personen handelt, und besonders wenn diese Geschichte schmerzhaft oder sonstwie beunruhigend ist. Dadurch, dass er sich von der jüngsten deutschen Geschichte abkoppelte, repräsentierte der amerikanische Präsident wohl wirklich eine unter seinen Landsleuten weit verbreitete Stimmung. Als einer der Berater Präsident Reagans im Weißen Haus gefragt wurde, ob der Präsident den Besuch eines früheren Konzentrationslagers plane, zitierte er ihn mit den Worten: „Wissen Sie, ich glaube, wir sollten uns nicht auf die Vergangenheit konzentrieren; ich will mich auf die Zukunft konzentrieren und diese Geschichte hinter mir lassen. Ein anderer Regierungsbeamter erläuterte: „Der Präsident war nicht darauf versessen, ein Lager zu besuchen. Wissen Sie, er ist ein fröhlicher Politiker. Er mag es nicht, vor einem grausigen Schauplatz wie Dachau den Zerknirschten zu spielen.

    Das sind ziemlich bekannte Äußerungen, heute wie damals. Wie der Präsident wollen die meisten Menschen nicht an die Brutalitäten der Vergangenheit erinnert werden und sind nicht versessen darauf, sie auf verstörende Weise beständig im Sinn zu haben. Soweit sie über Dachau überhaupt etwas wissen, möchten sie den Ort, der wirklich grausig ist, gedanklich hinter sich lassen. Als ein nach vorn schauendes Volk billigen sie generell den Gedanken, dass es besser sei zu vergeben, wenn auch nicht notwendigerweise zu vergessen, und machen sich daran – wenn sie dazu eine Möglichkeit finden –, selbst mit einem früheren Gegner auszukommen.

    So wie Präsident Reagan es sah, war es daher seine Aufgabe in Bitburg, nach den alten Feindseligkeiten das Verhältnis zu den Deutschen wieder zusammenzuflicken und ihnen früheres Unrecht zu verzeihen; eine Aufgabe, für die er eine zweifache Lösung vorsah: 1. die Leistungen des neuen Deutschland lobend anzuerkennen, und 2. dem alten Deutschland Absolution zu gewähren, und zwar dadurch, dass er dessen Untaten einer, wie er es wiederholt ausdrückte, „totalitären Einmann-Diktatur" anlastete, einer Diktatur, die er als absolut und verantwortlich dafür beschrieb, dass nicht nur die Völker Europas, sondern auch das deutsche Volk seine Opfer wurden. Was die erste der beiden Lösungen angeht, so wird von den meisten anerkannt, dass die deutsche Demokratie in der Nachkriegszeit sich bewährt hat und dass Deutschland heute als ein generell florierender, starker und verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten dasteht. Wenn ein amerikanischer Präsident dergleichen sagt, dann ist das weder verwunderlich noch kritikwürdig. Aber wenn er dies tat im Rahmen eines geplanten Besuches eines deutschen Soldatenfriedhofes ganz in der Nähe des Schauplatzes der Ardennenoffensive, wo auch Gräber von SS-Leute sind, dann musste das beunruhigende Fragen aufwerfen.

    Präsident Reagans Antworten auf diese Fragen verstärkten die Peinlichkeiten seines bevorstehenden Besuches in Bitburg sehr, dennoch zeigten sie seine Entschlossenheit, mit der selbstgestellten Aufgabe der historischen Bereinigung fortzufahren. Man möge nun die folgenden Worte des Präsidenten auf der Pressekonferenz vom 18. April 1985 beachten und sich dessen erinnern, dass er nur einen Monat zuvor erklärt hatte, dass er kein Nazi-Konzentrationslager besuchen wollte aus Furcht davor, alte Emotionen wieder aufleben zu lassen: „Ich glaube, es ist nicht verkehrt, jenen Friedhof zu besuchen, wo diese jungen Männer ebenfalls Opfer des Nationalsozialismus sind, obwohl sie in deutschen Uniformen kämpften, in den Militärdienst eingezogen wurden, um den abscheulichen Willen der Nazis zu erfüllen. Sie waren mit Sicherheit genauso Opfer wie die Opfer der Konzentrationslager".⁶ Wenn je eine öffentliche Äußerung geeignet war, alte Emotionen aufleben zu lassen, dann war es diese; denn in zwei einfachen Sätzen wurde erreicht, den Unterschied zwischen den in den Lagern ermordeten Menschen und den Kampfgenossen ihrer Mörder einzuebnen. Gleichzeitig schwang bei den Worten des Präsidenten die Verteidigung der Mörder bei den Nürnberger Prozessen mit, der Mörder, die in Präsident Reagans apologetischen Ansichten nur widerwillig den aggressiven Willen eines anderen ausgeführt hätten.

    Seltsamerweise wurde dieser „andere niemals namentlich erwähnt, obwohl der Präsident bei mehreren Gelegenheiten unter anderem von „dem schrecklichen Übel, das von einem einzigen Mann ausging oder von „der totalitären Diktatur eines einzigen Mannes sprach. Es gibt Aspekte von Nazi-Deutschland, die wir noch nicht vollständig verstehen, aber inzwischen ist klar, dass der Nazi-Staat nicht von „nur einem Mann geleitet wurde, und dass der Terror, der zwölf Jahre lang im Namen des Dritten Reiches ausgeübt wurde, nicht hätte geschehen können, wenn so viele Menschen nicht aktiv und bereitwillig der Führung dieses „einen Mannes" gefolgt wären. Der Nationalsozialismus war ein Massenphänomen und hatte während des Krieges in hohem und auch in geringerem Maße sehr viele Deutsche einbezogen. Dadurch, dass Präsident Reagan das Übel des Nationalsozialismus nur Hitler allein anlastete und ihn auch unerklärlicherweise nie bei Namen nannte, reduzierte er die Geschichte auf eine Karikatur, auf das Maß eines Zelluloid-Bildchens einer alles durchdringenden heimtückischen Macht, die sich jedoch aller Beschreibung entzieht.

    In Bergen-Belsen, einem Lager, das er ziemlich spät und dazu recht ungeschickt seiner Reiseroute durch Deutschland hinzufügte (und das auch nur aufgrund beträchtlichen öffentlichen Druckes), sprach Präsident Reagan von dem „schrecklichen Übel, das durch einen einzigen Mann anfing – einem Übel, das die ganze Welt mit seiner zerstörerischen Kraft zu seinem Opfer machte. Er fuhr dann in derselben figurativen Sprache fort: „Denn Jahr für Jahr, solange bis dieser Mann und sein Übel vernichtet waren, brachte der Abgrund der Hölle seinen gräßlichen Inhalt zum Vorschein. Solche Sätze, die alte und inzwischen leere Abstraktionen verwenden, lenken von der Geschichte mit ihren sie kennzeichnenden Zügen ab und haben zur Folge, dass ihre individuellen handelnden Personen immer mehr vergessen werden. Hitler erscheint in Präsident Reagans Sichtweise als eine erschreckende, aber vage Verkörperung des Übels, und Hitlers Soldaten, die „jungen Männer in ihren Gräbern, als seine unschuldigen und ihm nur widerwillig folgenden Opfer. Was die wirklichen Opfer betrifft – von Präsident Reagan beklagt als „Nie mehr hoffen. Nie mehr beten. Nie mehr lieben. Nie mehr genesen. Nie mehr lachen. Nie mehr weinen –, so werden diese durch sentimentale Phrasen aus dem Bewusstsein getilgt. Nur ein einziges Opfer wird namentlich genannt: Anne Frank. Aber die Stelle aus Anne Franks Tagebuch, die Präsident Reagan in Bergen-Belsen zitierte, wird jedesmal von denjenigen benutzt, die die Vergangenheit von ihren negativen Inhalten befreien und ihre Schrecken so schnell wie möglich vergessen wollen: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind". In der prekären Sicherheit ihres Verstecks in einem Amsterdamer Hinterhaus gab es durchaus Augenblicke, in denen das junge Mädchen ein solches optimistisches Gefühl empfand; aber angesichts dessen, dass sie später von den Toten und Sterbenden in Auschwitz umgeben war und danach ein Opfer der Entbehrungen und der Krankheiten in Bergen-Belsen wurde, ist es zweifelhaft, dass eine derartige Passage aus ihrem Tagebuch auch nur entfernt das repräsentierte, was Anne Frank am Ende empfand.

    Präsident Reagans Rhetorik ließ jedoch erkennen, dass er an der wirklichen Anne Frank oder dem wirklichen Bergen-Belsen nicht sehr interessiert war. „Wir sind hier, erklärte er an der Stätte des Lagers, „um dessen zu gedenken, dass das Leben über die Tragödie und über den Tod durch den Holocaust triumphiert hat – dass es das Leiden, die Krankheiten, die schweren Prüfungen, ja, und auch die Vergasungen überwunden hat.⁷ Die Tatsache, dass es in Bergen-Belsen keine Gaskammern gab und deshalb auch keine Vergasungen, blieb den Redenschreibern und offensichtlich auch Präsident Reagan selbst verschlossen. Aber selbst wenn es sie gegeben hätte, dann hätte das keinen großen Unterschied gemacht. Der Präsident hatte Helmut Kohl, den deutschen Bundeskanzler, und die nationale Versöhnung im Sinn, nicht Bergen-Belsen und den Holocaust. Und sobald sein Pflichtbesuch eines Nazi-Konzentrationslagers beendet war, flog er weiter, um auf dem Bitburger Friedhof den deutschen Kriegstoten seine Reverenz zu erweisen.

    Wenn man sagte, dass die ganze fehlgeleitete Episode das Produkt historischer Ignoranz und unzureichender Planung gewesen sei, dann wäre das eine bewusste Untertreibung. Es war ein Rückschlag recht großen Ausmaßes in Bezug auf Informationen der Öffentlichkeit über den Holocaust, Informationen, die sehr stark auf anschauliches Material angewiesen und somit gegenüber revisionistischen Manipulationen jedweder Art außerordentlich empfindlich sind. Aber die amerikanische Öffentlichkeit, oder zumindest die Hälfte, betrachtete die Angelegenheit ganz anders; und ihre Reaktion muss sowohl bei Präsident Reagan als auch bei Bundeskanzler Kohl Befriedigung ausgelöst haben. Denn wie aufgebracht amerikanische Juden, frühere U.S.-Soldaten und andere über „Bitburg" auch immer gewesen sein mochten, so hat doch eine von der New York Times und dem CBS (Columbia Broadcasting System) nach dem Deutschland-Besuch durchgeführte Umfrage ergeben, dass 41 % der Befragten die Handlungsweise Präsident Reagans billigten und ebenso viele sie kritisierten.⁸ Über diese statistische Erhebung hinaus ergab eine Stichprobe von Leserbriefen an amerikanische Zeitungen hinsichtlich zustimmender bzw. kritischer Äußerungen ein ähnliches Resultat. Die im folgenden aufgeführten Briefe stellen keine hinreichenden Stichproben dar, um die allgemeine Auffassung zu repräsentieren, man kann sie aber vielleicht als Hinweis auf die Bandbreite der Einstellungen zu der Zeit werten. Beide Briefe sind in Universitätszeitungen von Orten des mittleren Westens erschienen; somit könnte man davon ausgehen, dass ihnen ein gewisses Bildungsniveau zugrundeliegt.

    Der erste Brief, von einem Geschichtsprofessor geschrieben, der während des Zweiten Weltkrieges selbst in Europa gekämpft hatte, kritisierte den Besuch des Präsidenten in Bitburg heftig und betrachtete ihn als gefühllosen Affront. Der Verfasser hielt dem Präsidenten vor, dass er nicht sachgerecht unterschieden hatte zwischen den deutschen Kriegstoten und ihren Opfern, und kommentierte wie folgt:

    Zweifellos gab es im Zweiten Weltkrieg Tausende von anständigen, ehrenhaften Männern in der deutschen Armee. Aber die Armee, in der sie kämpften, war nicht anständig und ehrenhaft, und das Regime, dem sie dienten, war vielleicht das schrecklichste in der gesamten Geschichte der Menschheit. Was die Waffen-SS angeht, so waren diese auf keinen Fall Opfer, sie waren im Gegenteil Täter, die andere Menschen zu Opfern machten.

    Der Verfasser lobt Elie Wiesels Worte im Weißen Haus, mit denen er den Präsidenten beschwor, seinen Besuch in Bitburg abzusagen, und beschließt seinen Brief mit diesem Hinweis:

    Es heißt, dass die Deutschen, wenn die Bitburg-Angelegenheit abgesagt wird, dann beleidigt seien. Wie schade! Ich glaube nicht, dass die anständigen Deutschen beleidigt sein werden. Was die anderen angeht, wenn ihnen noch nicht klar ist, welche Meinung der Rest der Welt von der Waffen-SS hat, dann ist es höchste Zeit, dass sie sich das klar machen.

    Der Verfasser des zweiten Leserbriefes ist Student, und er schreibt aus einer völlig anderen Sichtweise. Seine Hauptsorge ist, dass eine zu konzentrierte Beschäftigung mit dem Holocaust uns daran hindere, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen, und dass sie auch in ungerechter und negativer Weise die Deutschen insgesamt stereotypisiere. Er betrachtet Wiesels Worte an den Präsidenten als einen Affront, kritisiert, dass „die mächtige jüdische Lobby unzulässigen Druck auf die Regierung ausübe, und argumentiert dahingehend, dass es an der Zeit sei, damit aufzuhören, auf dem Holocaust als Beispiel außergewöhnlichen jüdischen Leidens herumzureiten. „Holocausts sind keine ungewöhnlichen Erscheinungen, schreibt er. „Ich kann Bitten um Mitgefühl verstehen, aber ich weigere mich, in eine Pseudo-Verehrung der früher Verfolgten hineinmanipuliert zu werden. Er fährt fort: „Müssen wir eigentlich von ein paar Knochen, die fast überall in der Welt herumliegen, abgelenkt werden? Er fordert den Präsidenten dazu auf, seine Pläne, Bitburg zu besuchen, auszuführen, und schreibt: „Das ist viel wichtiger als das Jammern von Leuten wie Wiesel, und wird bedeuten, dass wir anfangen, dem deutschen Volk seine früheren Sünden zu vergeben, genauso wie Amerika begonnen hat, um Vergebung für Vietnam zu bitten. Der Besuch werde, wie er weiter schreibt, zeigen, dass wir jüdische Appelle zurückweisen könnten (die dahingehend zu verstehen seien, dass sie nur den Interessen der israelischen Regierung dienten, „die ‚gib mir, gib mir‘ sagt, wenn sie etwas will, und ‚Antisemitismus, Antisemitismus‘, wenn sie nichts erhält). Der Brief endet damit, dass der Verfasser anerkennt, dass „der methodische Mord an über sechs Millionen Juden tatsächlich eine Tragödie sei, aber dass „diejenigen, die sie umbrachten, ohne Zweifel von abartigem Denken geleitet waren und daher auch Opfer seien. Daher sei ihr Schicksal „auch eine Tragödie", eine, die der Präsident ansprechen könne und solle, wenn er nach Bitburg geht.

    In diesen beiden Briefen beobachtet man etwas von den gemischten Gefühlen bezüglich der Bitburg-Affäre zu der Zeit. Auf dem Hintergrund dieser Episode bekommt man auch ein Gespür für den übergreifenden Themenkomplex einer sich in der amerikanischen Öffentlichkeit immer noch herausbildenden und sehr verschiedenartigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an die Verfolgung der Juden durch die Nazis.

    Es mag eine Zeit gegeben haben, in der man vielleicht von einem gewissen Grundkonsens in Bezug auf den Holocaust und von einer allgemeinen Gefühlshaltung den Opfern gegenüber ausgehen konnte; aber es ist bei weitem nicht sicher, dass irgendein derartiger Konsens heute besteht. Wenn sie in die Enge getrieben werden, dann werden die meisten Menschen wahrscheinlich ihren Abscheu gegenüber den Nazi-Verbrechen und ihr Mitgefühl für die Opfer ausdrücken; es ist aber zweifelhaft, ob sich sehr viele einem solchen Druck über längere Zeit würden aussetzen wollen. Wer kann sie auch dafür tadeln? Eine ernsthafte Konfrontation mit der Geschichte des Holocaust ist eine schmerzvolle Erfahrung und belastet die meisten Menschen mehr, als sie so ohne weiteres tragen können. Als Konsequenz würden viele wahrscheinlich die Vergangenheit lieber ruhen lassen. Sie ist zu schmerzvoll und zu unfassbar, erfüllt mit albtraumhaften Bildern von Grausamkeit, Terror, Entbehrungen und Tod, Schuld und Schande. Es ist daher verständlich, wenn auch nicht besonders empfehlenswert, wenn Menschen dem Impuls nachgeben, zu vergeben und zu vergessen.

    Vor diesem Hintergrund könnte man die Bitburg-Affäre als anschauliches Beispiel für eine spürbare Belastung der Empfindungslage der amerikanischen Öffentlichkeit betrachten. Unter anderem wird deutlich, dass in Bezug auf die moralische Wahrnehmung des Holocaust ein gewisses Maß an Überdruss erreicht worden ist. Dies wurde auf schmerzhafte Weise durch Präsident Reagans Worte und seine Handlungsweise illustriert und ließ deutlich werden, dass Ereignisse der Geschichte nach und nach übergehen in Pseudo-Geschichte, politisches Kalkül und andere Fiktionen. Denn mit welchem Nachdruck auch immer der Präsident vor den Kameras darauf bestanden haben mochte, dass man all das nie vergessen dürfe, so wurde doch aus seinen Worten und Handlungen unmissverständlich der Wunsch deutlich, dass das Bewusstsein von heute nicht mehr so schwer durch die Last der Vergangenheit niedergedrückt werden solle. Heute, etwa 25 Jahre später, ist „Bitburg" zum größten Teil vergessen; aber wenn das Ereignis uns alle überhaupt noch beunruhigt, dann deshalb, weil es den prekären Stellenwert des Holocaust in der öffentlichen Wahrnehmung so sehr deutlich macht, einen Stellenwert, den früher nur wenige Menschen überhaupt in Frage gestellt hätten.

    Wenn man aber kritisch betrachtet, wie der Holocaust der Öffentlichkeit über die Zeit hin vermittelt worden ist, dann sieht man, dass eine Abschwächung seines Stellenwertes in der Geschichte eben kein plötzliches Phänomen war, sondern dass es sich um eine jahrelange Entwicklung handelt. Ein gewisses Maß an Erosion kann man sogar in den historischen Fachveröffentlichungen selbst entdecken, die nicht frei sind von fiktionalisierenden Tendenzen.¹⁰ Den weitaus größten Teil jedoch findet man in den populären Medien – in den zahllosen Romanen und Geschichten, Gedichten und Theaterstücken, Filmen und Fernsehsendungen über das Dritte Reich und die Juden. Wenn man an diese denkt, dann erkennt man, dass der Weg nach Bitburg bereitet war, lange bevor Bundeskanzler Kohl und Präsident Reagan sich auf ihren Spaziergang entlang den Gräbern auf dem Militärfriedhof in Bitburg begaben.

    Man betrachte z. B. die Figur Hitler, womit ich ganz wörtlich die verschiedenen Formen meine, die er in Wort und äußerer Erscheinung annahm, und infolgedessen sein wechselndes Bild in der öffentlichen Wahrnehmung. Das beherrschende Bild des Mannes ist gekennzeichnet durch Bedrohung sowie meist, aber nicht nur, auch durch eine Erscheinungsform, als die Präsident Reagan sie gern bezeichnete, nämlich des undifferenzierten Bösen. Solche gleichsam überlebensgroßen Figuren sind indes nicht nur abstoßend, sondern durchaus auch faszinierend und attraktiv. Nicht selten haben sie auch eine menschliche Seite. So ist es bei Hitler, der heute vor uns steht als die bezwingendste Figur zerstörerischer Macht. Aber in manchen Darstellungen hat Hitler auch eine Andeutung von Menschlichkeit angenommen, die seiner bösen Seite mit einer manchmal komischen, manchmal auch tragischen Anziehungskraft entgegenwirkt.

    Wenn man an Darstellungen Hitlers in Filmen denkt – von Leni Riefenstahls heroischem Porträt (Triumph des Willens) über Charlie Chaplins Satire (The Great Dictator; Der große Diktator) und Hans Jürgen Syberbergs Film, in dem das Grab Wagners eine Rolle spielt (Hitler, Ein Film aus Deutschland) und Oliver Hirschbiegels eher verständnisvollen Film (Der Untergang) und Dani Levys sehr umstrittenen Film (Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler), der den Versuch macht, Hitlers „komische" Seite darzustellen, bis, erst vor kurzem, zu Quentin Tarantinos megamanischem Film (Inglourious Basterds; etwa: Unrühmliche Mistkerle) –, dann wird man einem Hitler in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen begegnen, von denen durchaus nicht alle abstoßend sind. Man denke auch an Darstellungen in der Literatur – von dem eigennützigen politischen Porträt (Mein Kampf) über Wyndham Lewis’ apologetisches Porträt (Hitler) und George Steiners neo-kabbalistische Novelle (The Portage to San Cristóbal of A. H.; Der Transport von A. H. nach San Cristóbal) und Norman Mailers Tändelei mit den metaphysischen und dämonologischen Dimensionen von Hitlers Geschichte (The Castle in the Forest; Das Schloss im Wald) –, in denen man so ziemlich das Gleiche findet. Auf der Bühne zeigt Mel Brooks’ Musical-Fassung seines Films (The Producers; Frühling für Hitler) einen clownhaften Hitler „mit einem Lied im Herzen". Es gibt sogar romantische Bühnendarstellungen Hitlers, so etwa in Love Letters to Adolf Hitler (Liebesbriefe an Adolf Hitler), eine musikalische Rezitation von Briefen, die an den deutschen Führer von Dutzenden seiner in ihn vernarrten Untertanen gerichtet sind.¹¹ Hitler im Fernsehen, Hitler in übergroßen Bilderbüchern, Hitler in verbreiteten Illustrierten, Hitler in Science-Fiction, in Liedern, Witzen und Karikaturen – Hitler ist eine allgegenwärtige und unendlich wandelbare Figur. Gordon Craig hat ihn zusammenfassend so beschrieben: „Eineinhalb Generationen nach seinem Tod im Bunker war Hitler wie der kleine Mann auf der Treppe in dem bekannten alten Lied. Er war nicht da, aber er wollte auch nicht weggehen.¹² Hitler ist also sowohl eine allegorische als auch eine historische Figur geworden, eine Präsenz, die die Aufmerksamkeit dieser Generation fordert und die in den kommenden Jahren zweifellos eine bezwingende Präsenz behalten wird. Während er auf der einen Ebene eine bedrohliche Figur bleibt, so erfährt er auf einer anderen Ebene im übertragenen Sinne gleichsam einen Prozess der Zähmung und Normalisierung mit der Folge, ihn von dem verbrecherischen Regime, das er errichtete, und der Katastrophe, die er heraufbeschwor, loszulösen. Man betrachte z. B. die folgende kleine „Biographie des Mannes in Norman Spinrads Roman The Iron Dream (Der Stählerne Traum):

    Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Österreich geboren. Er zog als junger Mann nach Deutschland und diente während des Ersten Weltkrieges in der deutschen Armee. Nach dem Krieg dilettierte er kurze Zeit in radikalen politischen Gruppierungen in München, ehe er schließlich 1919 nach New York auswanderte. Während er dort Englisch lernte, schlug er sich mühsam durch mit Straßenmalerei und gelegentlichen Übersetzungen in Greenwich Village, dem Künstler- und Szeneviertel von New York. Nachdem er einige Jahre dieses unstete Leben geführt hatte, nahm er verschiedene Jobs als Zeitschriftenillustrator und Karikaturist an. 1930 machte er seine erste Illustrationsgestaltung für das Science-Fiction-Magazin Amazing. 1932 fertigte er inzwischen regelmäßig Illustrationen für Science-Fiction-Magazine an, und 1935 schließlich war er im Englischen genügend versiert, um sein Debut als Autor von Science-Fiction-Geschichten zu geben. Er widmete den Rest seines Lebens dem Science-Fiction-Genre als Autor, Illustrator und Herausgeber von Fan-Zeitschriften. Obwohl er heutigen Science-Fiction-Fans hauptsächlich durch seine Romane und Geschichten bekannt ist, war er während der Goldenen dreißiger Jahre ein weithin bekannter Illustrator, gab mehrere Anthologien heraus, schrieb flotte Rezensionen und gab fast zehn Jahre lang eine beliebte Fan-Zeitschrift, Storm, heraus.

    Posthum gewann er 1955 bei der Welt-Science-Fiction-Konferenz einen Hugo für den Herrn des Hakenkreuzes, ein Werk, das 1953, kurz vor seinem Tod, fertiggestellt worden war. Viele Jahre lang war er eine populäre Figur bei Science-Fiction-Konferenzen, weithin bekannt bei Science-Fiction-Fans als sprühender Geist und unermüdlicher Erzähler. Seit der Veröffentlichung des Buches sind die farbenfrohen Kostüme, der er in dem Herrn des Hakenkreuzes geschaffen hat, Lieblingsmotive auf Konferenzmaskeraden. Hitler starb 1953, aber die Geschichten und Romane, die er hinterließ, bleiben ein Vermächtnis bei allen Science-Fiction-Enthusiasten.¹³

    Bizarr? Empörend? Amüsant? Wie auch immer man diesem Hitler gegenüber eingestellt ist, so hat diese Figur nur wenig Ähnlichkeit mit dem Führer des Dritten Reiches. Natürlich kann es sein, dass Spinrad genau das beabsichtigt; aber wenn, dann ist sein Versuch einer Parodie gescheitert. Mit Sicherheit hat sie andere nicht daran gehindert, sich in ziemlich ähnlich origineller Weise ein neues Bild von Hitler zu machen. Man lese Baryl Bainbridges Young Adolf (Der junge Adolf), und man wird ihn in dem Roman als aufgeblasenen Tolpatsch geschildert finden. Oder George Steiners The Portage to San Cristóbal of A. H. (Der Transport von A. H. nach San Cristóbal), worin er fast als von der Thora inspirierter Visionär dargestellt wird, der angeblich für die Gründung des Staates Israel verantwortlich ist. In jeder beliebigen dieser Geschichten haben wir den tobenden Hitler, den zerknirschten Hitler, den künstlerischen Hitler, den feinfühligen Hitler. Es gibt fiktionale Texte, die ihn als Frau zum Leben erstehen lassen. Andere erschaffen in neu als Juden. Man nehme etwa Joachim Fests Dokumentation über Hitler, und man wird darin nur mit Mühe den Mann entdecken, dessen leidenschaftliches Programm der Mord an den Juden war. Oder Syberbergs phantasmagorischen Hitler-Film (er läuft volle sieben Stunden), in dem er als der romantische Künstler erscheint, der entschlossen ist, einen epischen Zeitpunkt apokalyptischer Erfüllung zu erreichen. In den Werken verschiedener Komödienautoren ist er immer gut für einen Spaß. Für gewisse Rockfans war er „der erste Rockstar". Für Pornographen, die gern seine privaten Augenblicke mit Eva Braun nachempfinden wollen (über die wir wenig wissen), ist er – wie überhaupt der Nationalsozialismus als Ganzes – eine reiche Quelle der Symbolik für sadomasochistischen Sex.

    Wie er in den einst berühmt-berüchtigten „Hitler-Tagebüchern genau ausgesehen hätte, wissen wir nicht; denn sie wurden als Betrug aufgedeckt, ehe es eine Chance gab, sie in größerem Umfang als Serienveröffentlichung in Zeitschriften herauszubringen. Man kann jedoch sicher sein, dass Herr Kujau, der talentierte Fälscher dieser „Tagebücher, ihn reingewaschen hätte. Aber andere haben das mehr oder weniger regelmäßig sowie schon getan. Der britische Historiker David Irving und seine verschiedenen Kollegen in der amerikanischen und europäischen „revisionistischen" Bewegung haben praktisch eine Industrie aus ihren Veränderungen der Nazi-Geschichte gemacht. Und sie sind kaum allein damit. Etwa in der Zeit der Bitburg-Affäre brachte Österreichs erfolgreichste Massenzeitung, die Neue Kronen Zeitung, Auszüge aus einem Buch von Christa Schroeder, einer von Hitlers Privatsekretärinnen, die ihren früheren Chef als liebenswürdigen Menschen beschrieb, der Blumen und Hunde sowie hübsche Frauen und vegetarische Ernährung liebte und großzügig mit Geschenken an seine Angestellten war. Die Zeitung wurde heftig kritisiert, weil sie eine so grotesk apologetische Ansicht veröffentlichte, die Hitler, wie ein Kritiker es formulierte, als „eine Mischung aus Robert Redford und einem Pfadfinderleiter erscheinen ließ.¹⁴ Solche Rügen halten jedoch offenbar nicht lange an. Hirschbiegels Film Der Untergang, der sich auf die Erinnerungen einer anderen von Hitlers Sekretärinnen gründet, schildert den deutschen Führer in seinen letzten Tagen als einen Mann mit menschlichen Zügen, der Sensibilität anderen gegenüber zu zeigen vermochte.

    Vor einigen Jahren fand ein attraktiv gestalteter Prospekt weite Verbreitung, der potenziellen Käufern das Erscheinen von „Adolf Hitler, der unbekannte Künstler ankündigte. Der Prospekt warb für ein Buch mit großformatigem Bildmaterial „in burgunderrotem Leinen mit Goldprägung, das „über 830 Bilder [enthielt], davon 94 in Farbe, die größtenteils zum ersten Mal publiziert werden. Ein anschaulich beschreibender Text erwähnte Hitlers „Erinnerungen als Heranwachsender an das Wien vor dem Ersten Weltkrieg, Schilderungen von Menschen, denen er im Laufe des Lebens begegnet war, friedliche Hirtenszenen, die längst Vergangenheit waren, flüchtige Blicke auf Straßen des alten Europa, hoch aufragende Kirchen, Blumenstillleben, architektonische Pläne für die Zukunft. Warum überhaupt irgendjemand sein gutes Geld für den Besitz dieses „unbekannten Hitler", dessen Fähigkeiten als Maler nur mäßig waren,

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