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Drei Schalen
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eBook147 Seiten2 Stunden

Drei Schalen

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Über dieses E-Book

Eine Frau sucht einen Namen für ihren Tumor. Eine andere holt sich die Pappfigur eines Popsängers ins Haus, als der geliebte Sohn auszieht. Eine Kinderhasserin bietet sich ihren Freunden als Leihmutter an. Aus Angst, seiner Exfreundin zu begegnen, traut sich ein Mann kaum noch vor die Tür, und eine Verlassene kann die Trennung buchstäblich nicht verdauen.

Die Protagonisten von Michela Murgias Geschichten erleben alle auf ihre Weise einen radikalen Umbruch: Sie verlieren sämtliche Gewissheiten – und finden die unterschiedlichsten Antworten auf das, was ihnen geschieht. Sie treffen ungewöhnliche Entscheidungen, kämpfen ums Überleben, erfinden sich neue Rituale oder wählen die kontrollierbare Katastrophe, um der unkontrollierbaren zu entgehen.

Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung erzählt Michela Murgia in zwölf miteinander verflochtenen Geschichten von Krankheit und Tod, von Trauer und neuer Liebe, von der Kunst des Abschiednehmens und der des Weiterlebens. Ein Mut machendes Buch über Krisen und Neuanfänge, wahrhaftig und hell.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2024
ISBN9783803143877
Drei Schalen
Autor

Michela Murgia

Michela Murgia is an Italian novelist and politician. She has written travel books, political non-fiction and novels, for which she has been awarded the Premio Campiello and the Mondello International Literary Prize.

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    Buchvorschau

    Drei Schalen - Michela Murgia

    Wie gehen Menschen mit einer grundstürzenden existentiellen Veränderung um?

    Das letzte Buch der großen italienischen Schriftstellerin Michela Murgia erzählt davon: unverblümt und trostreich, kompromisslos und voll ermutigender Lebensklugheit.

    »Michela Murgia verfügte über das großartige Talent, Dinge wirklich verändern zu können.«   Roberto Saviano

    Michela Murgia

    Drei Schalen

    Aus dem Italienischen

    von Esther Hansen

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    Für Raphael, Francesco, Alessandro und Riccardo

    Unübersetzbarer Ausdruck

    »Sie haben eine Zellneubildung an der Niere.«

    Der lockere Tonfall des Arztes verführte sie kurz zu dem Gedanken, dies sei eine erfreuliche Nachricht. Über der weißen Maske sah sie das Gesicht des freundlichen Herrn um die Sechzig nur zur Hälfte, und während der ersten Minuten der Sprechstunde hatte sie geglaubt, es sei die richtige Hälfte. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Hinter der Plexiglasscheibe, die den Schreibtisch als zusätzlichen Schutz vor dem allgegenwärtigen Virus zweiteilte, entzogen sich ihr die Augen des Arztes so sehr, dass sie nicht einmal ihre Farbe erkennen konnte. Wie zum Trotz setzte sie eine möglichst undurchdringliche Miene auf. Durch die großen Fenster des Krankenhauses in Monteverde fiel das Licht der Mittagssonne, wie es in dieser elektrisierenden Helligkeit nur in Rom vorkommt. Sie war der festen Überzeugung, dass dieses Licht aus der heimlichen Glut des einzig wahren Imperiums aufstieg, die unter den Trümmern dreier Zivilisationen, zu schwach, sie zu ersticken, weiterglomm. In diesem Licht lächelten sie einander zaghaft an, und der Arzt fuhr, womöglich im Glauben, verstanden worden zu sein, fort.

    »Der Fachbegriff dafür lautet Neoplasie, was nichts anderes bedeutet als ›Neubildung von Körperzellen‹.«

    Sofort blitzte die Silbengruppe vor ihrem inneren Auge auf, und ihr Lächeln gefror. Sie konnte das Wort zwar nicht aus dem Lateinischen herleiten, doch was eine Neoplasie war, wusste sie selbst auf Koreanisch. Nervös zog sie ihren eleganten, Falten werfenden Damenmantel um sich zurecht, als müsse sie sich wappnen. Die Kleiderwahl für diesen Termin war sie planmäßig angegangen, nur erstklassige Designer, dabei schlicht, nicht wie für ein Date, sondern eher, um eine vornehme Dame mit generationenaltem Reichtum zu beeindrucken oder um bei einer wichtigen Vertragsverhandlung nicht zu interessiert zu wirken, oder um sich Respekt zu verschaffen. Ihr Kleiderschrank war eigens dafür gemacht, eine Rüstkammer mit verschiedenen gut geschnittenen Waffen namhafter Hersteller, eine für jeden der Kriege, in denen sie sich keine Niederlage erlauben durfte. Was auch immer der Mann im weißen Kittel zu sagen hatte, er sollte sich von vornherein im Klaren sein, dass sie nicht irgendwer war und diese Neoplasie auch für ihn keine Routine darstellte, da sie nicht zufällig genau ihren Körper betraf.

    Der Onkologe schien allerdings wenig beeindruckt. Er machte keinerlei Anstalten, die vor ihm liegende Krankenakte aufzuschlagen. Stattdessen griff er nach einem Notizblock mit dem Logo eines großen Pharmakonzerns in der Ecke, riss einen Zettel ab und drehte ihn um. Auf die Rückseite zeichnete er mit einem Kugelschreiber ein wirres Knäuel, von dem Schlangenlinien abgingen, die ein paar Zentimeter weit in dieselbe Richtung strebten. Ohne von dem Zettel aufzuschauen, sprach er langsam weiter, jedem Wort entsprach ein Strich in seiner Skizze. Sie hatte den Eindruck, dass er diese Zeichnung nicht zum ersten Mal verwendete, und ihr Ehrgeiz, eine besondere Patientin zu sein, verflog. Wie viele Körper waren diese Schlangenlinien schon gewesen? Wie viele Existenzen dieses Knäuel?

    »Wie alles, was lebt, braucht auch Ihre Zellneubildung Ressourcen, und die hat sie sich bisher im linken Lungenflügel geholt. Wir nennen das Metastasen, aber Sie müssen sich das wie die Ölquellen im Irak vorstellen.«

    »Wir nennen das«, hatte er gesagt. Wer »wir«, fragte sie sich und malte sich eine ständige Versammlung von Weisen aus, die irgendwo im prächtigen Schloss der Onkologie zusammenkamen und eine Nomenklatur der Katastrophen erstellten, die sich in den Körpern der Menschen auf der ganzen Welt zutrugen. Der Arzt ließ die letzte gewellte Linie auf einer Höhe mit den anderen enden und versiegelte sie alle mit einem Sternchen. Diese Geste tat ihr fast körperlich weh, doch sie ließ sich nichts anmerken. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das Gefühl, dass sie ihm Mut machen müsse, nicht umgekehrt. Ein nervöses Auflachen schien ihr die passende Ermunterung, damit er seine geopolitischen Erläuterungen fortsetzte. Die Hand des Onkologen hinter der Plexiglasscheibe war blass, aber ruhig, und am Handgelenk lugte unter dem strahlend weißen Kittel ein blaues Bündchen Qualitätsbaumwolle hervor. Bei der vorangegangenen Untersuchung hatte sie seine Finger warm auf ihrer Haut gespürt, so wie sie jetzt wohl den Stift berührten, mit dem er einen Rahmen um die grobe Skizze ihrer erkrankten Organe zeichnete.

    »Das erste Medikament nehmen Sie täglich, je eine Tablette morgens und abends, damit bringen wir die Quellen zum Versiegen: Ohne Ressourcen schwindet die Kraft … wenn Sie verstehen.«

    Der Arzt blickte von dem Zettel auf und sah ihr geradewegs in die Augen. Sie verstand.

    »Das zweite Medikament verabreichen wir intravenös alle drei Wochen, es dient dazu, Ihr Immunsystem wieder anzukurbeln, damit es auf die Zellneubildung reagiert und eine weitere Ausbreitung verhindert.«

    »Ist das eine Chemo?«

    »Sie werden keinen Haarausfall bekommen, wenn es das ist, was Ihnen Sorge macht.«

    Nein, das war es nicht. Die Silbe und ihr Klang – AM – pulsierten weiter durch ihr Hirn wie die Neon-Leuchtschrift einer Dönerbude.

    »Es ist eine Immuntherapie auf der Grundlage von Biopharmazeutika. Wie gesagt, wendet sie sich nicht direkt gegen die Neoplasie. Sie soll vielmehr die natürliche Reaktion Ihres Organismus stimulieren. Wenn die Niere uns keinen Ärger macht, müssen wir ihr auch keinen machen.«

    Wer wir?, dachte sie wieder, im Kopf nun das Bild von ihnen beiden, wie sie sich ein und dieselbe Neoplasie teilten, hier in diesem Behandlungszimmer, während die Linien aus dem Knäuel vom Notizzettel mit ihren Tentakeln unter der Türschwelle hindurchkrochen, aus den Putzrissen in den Wänden drangen und nach ihnen griffen, um sich die Ressourcen aus ihnen herauszusaugen. Bei dieser Vorstellung musste sie unwillkürlich lächeln, was offenbar eher nach einem zähnefletschenden Tier aussah, denn der Arzt lächelte nicht zurück. Sie stellte die naheliegendste Frage, die dümmste.

    »Was habe ich falsch gemacht?«

    Sie war Vegetarierin. Sie rauchte nicht, ganz selten mal einen Joint mit Freunden. Sie trank nur erlesene Sachen, sodass Signor Bernabei sie immer freudestrahlend von der Türschwelle seiner Weinhandlung grüßte, auch wenn sie nicht eintrat. Sie hatte zahlreiche schlechte Angewohnheiten, die aber alle nicht die Physis betrafen und allein durch Verzicht zu beheben gewesen wären. Die Schuld musste woanders liegen, wenn nicht in den Taten, dann in den Gedanken, Worten und Unterlassungen. Der Arzt schwieg einen Moment lang, offenbar irritiert von der Frage nach einem Urteil. Als er den Stift weglegte, verwechselte sie die Geste mit Resignation.

    »Wir Menschen sind äußerst komplexe Wesen, Signora … ich glaube nicht, dass man die Sache mit einem Fehler Ihrerseits erklären kann. Hochentwickelte Organismen sind sehr anfällig für Fehlleistungen. Manchmal gerät das System durcheinander, mit dem Willen hat das nichts zu tun.«

    Sie schloss die Augen. Er sollte nicht an ihrer Miene ablesen, wie gern sie die Schuld sich selbst oder etwas anderem oder irgendjemandem gegeben hätte, ungebührlichem Verhalten, Junkfood, einer langanhaltenden schlechten Angewohnheit, einem tiefsitzenden Trauma, den Abgasen in der Stadt, einer nahen Industrieanlage, dem Fluch eines Feindes, alles war erträglicher als die Annahme eines statistisch erwartbaren Vorfalls. Irgendwie schien der Arzt das zu spüren.

    »Sie haben mir erzählt, dass Sie Romane schreiben, eine wunderbare Arbeit, aber auch sehr schwierig. Keine andere Spezies ist dazu in der Lage, nur der Mensch. Können Sie noch andere Sprachen außer Italienisch?«

    »Englisch, Französisch, ein bisschen Spanisch … Und ich lerne gerade Koreanisch.«

    »Wäre es Ihnen lieber, nichts von all dem zu können und dafür niemals krank zu werden? Einzeller beispielsweise entwickeln keine Neoplasien, aber sie sprechen auch keine Sprachen. Amöben schreiben keine Bücher.«

    Sie musterten sich eine Weile, die beiden endlos vorkam, und dieses Mal war sie sich sicher, dass der Onkologe das Bild speziell für sie gefunden hatte, im Unterschied zum vorangegangenen Vergleich mit dem Risiko-Spiel und der habgierigen Kolonisierung irakischer Ölquellen. Bis vor zwei Minuten hatte sie noch tausend Fragen gehabt. Zum Beispiel, wie lange der Krieg dauern würde, der ihr bevorstand. Ob sie eine Chance hatte, ihn zu gewinnen. Wieviel Zeit ihr zum Kämpfen blieb. Sie wollte die Eckdaten des Gefechts, einen Schlachtplan. Doch die Unzulänglichkeit des Kriegsvokabulars, mit dem normalerweise vom Umgang mit tödlichen Krankheiten gesprochen wurde, ließ sie verstummen. Schuld daran war ganz offensichtlich der Arzt. Die Worte, die der Mann gewählt hatte, veränderten das metaphorische Umfeld und zwangen sie, sich auf ein ihr unvertrautes Ziel zuzubewegen: den Nichtangriffspakt. Das, was doch eigentlich ihr Feind sein sollte, der vernichtet werden musste, wurde ihr hier als Komplize ihrer eigenen Komplexität vorgestellt, als ein verirrter Teil ihres hochentwickelten Körpers, als ein Kurzschluss in einem sonst funktionierenden System, letztendlich als ein guter Freund auf Abwegen. Sie war es nicht gewohnt, mit Worten zu unterliegen. Der Kampf gegen die Krankheit, wie auch immer sie ihn sich vorgestellt hätte, klang plötzlich wie ein Versuch der Selbstverstümmelung. Und um einen Krieg gegen sich selbst zu führen, fehlte es ihr an Lust und an Kraft.

    »So habe ich es tatsächlich noch nie gesehen. Wenn das Leben einer Amöbe die Alternative ist, dann bin ich an einem Tausch nicht interessiert. Sagen Sie mir lieber, was ich tun muss, um den Fehler im System zu beheben.« Sie zögerte kurz und setzte dann hinzu: »Wenn das geht.«

    Bei dem Wechsel des Sprachregisters leuchteten die Augen des Arztes auf, und sein Körper schien sich zu entspannen. Er setzte sich auf. Wahrscheinlich dachte er, den schwierigsten Teil der Unterhaltung hinter sich gebracht zu haben.

    »Ich stelle Ihnen ein Rezept aus, und Sie holen sich die Medikamente in der Apotheke ab, aber vorher unterschreiben Sie mir noch diese Erklärung, dass Sie der Behandlung zustimmen und sich über die Risiken und Nebenwirkungen im Klaren sind.«

    »Bin ich mir das?«

    »Hier auf dem Blatt sind alle aufgelistet, ich rate Ihnen allerdings, sie nicht zu lesen: Das geht los mit Niesen, endet mit dem Tod, und dazwischen liegen noch tausend weitere Leiden, genau wie auf den Beipackzetteln von Aspirin. Da bekäme jeder Panik. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur eine dieser Nebenwirkungen eintritt, ist so gering, dass es keinen Sinn ergibt, sich schon präventiv zu ängstigen. Vertrauen Sie mir, wenn etwas passiert, werden wir es frühzeitig merken und gegenwirken.«

    »Das hatte ich ohnehin nicht vor. Ich vertraue Ihnen.«

    Das war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte bereits nach dem Blatt auf dem Tisch gespäht, auf dem ganz oben kurz und knapp die Diagnose stand, die noch vor zehn Jahren einen baldigen Tod bedeutet hätte. Nierenkarzinom im vierten Stadium.

    AM. Ein Blitz.

    AM. Noch ein Blitz.

    AM. Noch einer.

    Während sie den Zettel unterschrieb und er das Rezept ausstellte, blitzte die Silbe immer wieder in ihrem Hirn auf, und ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Arzt die

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