Gardelegen 1945 - Dokumentation des Unfassbaren
Von Torsten Haarseim
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Über dieses E-Book
Es war die Ideologie, die Ideologie des Nationalsozialismus. Viele Deutsche fühlten sich in dieser Zeit einer Moral verpflichtet, die die Erniedrigung, Verfolgung und Vernichtung anderer Menschen forderte und nicht verurteilte.
Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 in seiner Posener Rede vor ausgewählten SS-Männern: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.“
Der Holocaust-Überlebende Primo Levi: „Es gibt Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als das sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.“
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Buchvorschau
Gardelegen 1945 - Dokumentation des Unfassbaren - Torsten Haarseim
Vorwort
Am 27. Mai 1925 wurde Frans Jonghbloet in Herentals, Belgien geboren.[1] Ende Dezember 1942 wurde er auf der Grundlage des „Nacht- und Nebel-Erlasses Adolf Hitlers verhaftet. Als „N+N
-Häftling war Frans Jonghbloet in verschiedenen Haftanstalten inhaftiert, bevor er im Januar 1945 in das Konzentrationslager Groß Rosen überführt wurde. Kurz danach wurde das Lager evakuiert und er wurde zusammen mit vielen anderen Häftlingen dem Konzentrationslager Mittelbau-Dora überstellt.[2] Die Familien der „Nacht- und Nebel-Häftlinge" erhielten zu keiner Zeit Auskünfte oder Informationen über den Verbleib ihrer verschleppten Angehörigen.
Am 25. März wurde Frans Jonghbloet dem Mittelbau-Dora-Außenlager Ilfeld zugeteilt, welches kurz danach, am 4. April 1945, in Richtung Nordosten evakuiert worden ist.
Frans Jonghbloet wurde am 13. April 1945 Opfer des Massakers in der Feldscheune Gardelegen. Er war einer von über eintausend Menschen verschiedener Nationen, die in Gardelegen ermordet wurden.
Das Schicksal dieser Menschen wird in diesem Buch umfassend beschrieben, im Gedenken an die Ermordeten und zum Nachdenken über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Torsten Haarseim
Gardelegen, 18. Februar 2015
Kapitel 1 Der Hannover-Stöcken-Transport
Zehn Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie, am 17. Juni 1944, erließ der Reichsführer SS Heinrich Himmler eine Weisung, die die Sicherheitslage in den Konzentrationslagern betraf.
Bild 1.jpgBild 1: Reichsführer SS Heinrich Himmler in Magdeburg, 1944
Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, LHASA, MD, C 20 I, Ib Nr. 334 Bd. 6
Himmlers Erlass „Sicherung der Konzentrationslager A-Fall" besagte, dass die Höheren SS-und Polizeiführer (HSSPF) bei Annäherung des Feindes sofort und uneingeschränkt das Kommando über die Konzentrationslager in ihren Bereichen übernehmen sollten.[3]
Bereits Mitte 1944 wurden daraufhin durch die Höheren SS- und Polizeiführer Pläne für die Rückführung der Arbeitskräfte aus den Konzentrationslagern ins Reichsinnere aufgestellt.
Das Konzentrationslager Neuengamme, zu dem auch das Außenlager Hannover-Stöcken gehörte, lag im Herrschaftsbereich des Höheren SS- und Polizeiführers SS-Obergruppenführer Georg-Henning Graf von Bassewitz-Behr.
Bild 2.jpgBild 2: SS-Obergruppenführer Graf von Bassewitz-Behr
Quelle: http://media.offenes-archiv.de/ss2_2_bio_1946.pdf
Der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Nordsee und in den Gauen Hamburg, Osthannover, Schleswig-Holstein, Weser-Ems und im Wehrkreis X, Graf von Bassewitz-Behr, erließ daraufhin am 5. Mai 1944 den „Organisationsbefehl für den SS-Fall".[4]
Im Falle einer Luft- oder Seeinvasion regelte der Befehl die Bekämpfung von Ausländerunruhen der Zwangsarbeiter und die Zusammenziehung, Bewachung und Rückführung ausländischer Arbeiter und Häftlinge ins Reichsinnere, um die Arbeitskräfte zu erhalten.
Der „SS-Fall" beinhaltete laut dem Befehl drei Alarmstufen, die durch Fernschreiben, LS-Sondernetz, Fernsprecher und gegebenenfalls durch Funk mit Hilfe von Stichwörtern ausgelöst werden sollten.[5]
Die Alarmstufe 1 „Allgemeiner Alarmzustand sollte mit dem Stichwort „FALKE
ausgelöst werden und eine erhöhte Aufmerksamkeit, die Vernichtung der Akten sowie eine Urlaubssperre für die Lager-SS nach sich ziehen.
Die Alarmstufe 2 „Durchführung von Sicherungsmaßnahmen, Stichwort „ADLER
, würde die erhöhte Alarmbereitschaft nach sich ziehen.
Und schließlich sah die Alarmstufe 3 „Beginn der Rückführungen mit dem Stichwort „NACHTEULE
den Abmarsch der Häftlinge zu noch zu befehlenden Zielen vor.
Ende März 1945 trat der „SS-Fall ein. Die alliierten Truppen näherten sich Münster und von Bassewitz-Behr gab „FALKE
aus.
Gemäß Buchstabe J) Allgemeine Richtlinien dieses Befehls, Punkt 4: „[…]ist von der Waffe überall dort sofort Gebrauch zu machen, wo Widerstände entgegengesetzt werden oder wo ein Gegner mit der Waffe in der Hand angetroffen wird. Andererseits ist jedes unnötige Blutvergießen zu vermeiden."[6]
Einen zentralen Räumungsbefehl für die Konzentrationslager von Himmler, von Hitler oder anderer zentraler Stelle gab es nicht.
Das Konzentrationslager Hannover-Stöcken grenzte unmittelbar an die Akkumulatorenfabrik AFA des Wehrwirtschaftsführers Günther Quandt. Hier mussten KZ-Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen U-Boot-Batterien herstellen.[7]
In den frühen Morgenstunden des 6. April 1945 überschritten die Amerikaner die Weser und würden am Abend Bückeburg, knapp vierzig Kilometer westlich von Hannover, erreichen. Um 7 Uhr erschien ein SS-Offizier im KZ Hannover-Stöcken und übergab dem Lagerkommandanten, SS-Hauptsturmführer Kurt Klebeck, den Räumungsbefehl. Es war der SS-Obersturmführer Stöhr, welcher vom Neuengammer Außenlager Watenstedt-Salzgitter kam und das Stichwort „NACHTEULE" übermittelte. Nach Aussage des SS-Obersturmführers Stöhr wurde dieser konkrete Räumungsbefehl vom territorial zuständigen HSSPF Mitte im Wehrkreis XI, SS-Obergruppenführer sowie General der Waffen-SS und Polizei Ernst Rudolf Querner, mit Dienstsitz in Braunschweig ausgegeben.[8]
Gemäß den Anweisungen im „SS-Fall sollte das Lager nach Ausgabe des Stichwortes „NACHTEULE
unmittelbar in Marsch gesetzt werden. Im Laufe des Tages wurde Proviant an die Häftlinge ausgegeben. Am 7. April, morgens um 3 Uhr, ging es los. Alle marschfähigen Häftlinge, über 1.300 Menschen, mussten ein letztes Mal auf dem Appellplatz antreten. Der Rapportführer, SS-Untersturmführer Paul Maas, brüllte über den Platz, dass alle Fluchtversuche während des Marsches mit der sofortigen Erschießung geahndet würden. Maas gab dem Lagerältesten weiße Armbinden aus, die dieser an alle Kapos und einige andere Deutsche weitergab. Sie sollten einen Ordnungsdienst während des Marsches durchführen. Dann setzte sich die Kolonne in Bewegung. Langsam bewegten sich die unterernährten, erschöpften Häftlinge vom Lagerplatz.[9]
Wenige Tage zuvor waren aus dem Hauptlager Neuengamme mit weißen Bussen vom Schwedischen Roten Kreuz mehrere hundert kranke KZ-Häftlinge in das Außenlager Hannover-Stöcken gebracht worden.
Bild 3.jpgBild 3: Weißer Bus des Schwedischen Roten Kreuzes
Quelle: http://ww2gravestone.com/general/bernadotte-folke
Hintergrund dieser Transporte war die sogenannte „Aktion Weiße Busse". Heinrich Himmler hatte mit Graf Bernadotte vom Schwedischen Roten Kreuz eine Geheimvereinbarung zur Ausfuhr schwedischer und dänischer KZ-Häftlinge nach Dänemark getroffen. Zunächst wurden die skandinavischen Häftlinge mit den weißen Bussen nach Neuengamme geholt. Auf den Fahrten in die Außenlager und die anderen Konzentrationslager mussten die Schweden kranke und schwache Häftlinge vom KZ Neuengamme mitführen. Viele dieser Häftlinge starben.[10]
Bild 4.jpgBild 4: die „Aktion Weiße Busse"
Quelle: http://media.offenes-archiv.de/zeitspuren-sam-fotorettungweissebusse.pdf
Auf diese Weise kamen im März 1945 zirka 400 bis 450 kranke Häftlinge nach Hannover-Stöcken.[11] Insgesamt waren nach dem Abmarsch der dazu noch fähigen Häftlinge jetzt noch 568 Kranke im Lager.
Gemäß den Anweisungen im „SS-Fall: „[…]sollten die kranken, marschunfähigen KZ-Häftlinge nach Möglichkeit mit der Eisenbahn oder Kraftfahrzeugen in die als Sammellager bestimmten Plätze überführt werden. Sofern dies nicht möglich sei, sollten sie den örtlichen Polizeidienststellen übergeben werden.
Der Lagerkommandant des Konzentrationslagers Hannover-Stöcken, SS-Hauptsturmführer Kurt Klebeck, hatte sich am 6. und 7. April vergeblich bei verschiedenen Dienststellen um Fahrzeuge für den Abtransport der kranken Häftlinge bemüht. Schließlich setzte er sich dann mit dem Polizeirevier in Stöcken in Verbindung, woraufhin am 8. April 1945 mehrere Luftschutz-Polizisten zur Bewachung in das Außenlager geschickt wurden.
Dann wurde auf dem Werksgleis der AFA, auf Betreiben der Geschäftsführung der Akkumulatorenfabrik, wie Kurt Klebeck der Lagerkommandant später aussagte, ein Güterzug bereitgestellt.
Die Polizisten begannen die Häftlinge in die acht Güterwaggons zu treiben. Viele waren halb nackt, sie hatten nur Krankenhemden an. Einige blieben tot liegen. Jeweils siebzig Kranke wurden in einen Waggon gepfercht. Vierundzwanzig Häftlinge waren schon so schwach, dass sie auf Bahren in die Waggons gehoben wurden. Dann warf man noch drei bis vier Laibe Brot in jeden Waggon geworfen. Die stärkeren KZ-Häftlinge kämpften um das Brot. Seit dem 6. April hatten sie nichts mehr zu essen und zu trinken bekommen. Wasser gab es nicht. Dann verschloss man die Waggons. Am Abend setzte sich der Zug in Bewegung und verließ das Lager in Richtung Osten.
Im Lager fand man nach der Abfahrt des Zuges etwa 180 Tote vor, die auf dem Seelhorster Friedhof verbrannt wurden.
Der Zug fuhr nur ein paar Minuten, dann hielt er auf dem Bahnhof Hannover-Herrenhausen schon wieder an. In der Nacht ging der Bahntransport weiter. Er kam durch Fallersleben und Wolfsburg und fuhr immer weiter in Richtung Osten.
Am Morgen des 9. April um 6 Uhr hielt der Zug erneut. Er hielt auf dem kleinen Bahnhof der Ortschaft Mieste, achtzehn Kilometer westlich der Stadt Gardelegen, zum Stehen gekommen.[12] Auf dem Bahnhofsgelände standen bereits mehrere Güterwaggons, die von einem Häftlingstransport aus dem Konzentrationslager Mittelbau-Dora bei Nordhausen und den Außenlagern stammten. Die Waggons aus Hannover wurden hinter den Mittelbau-Dora-Zug geschoben. Insgesamt standen jetzt vierundfünfzig Waggons auf dem