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Gardelegen Holocaust
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eBook456 Seiten5 Stunden

Gardelegen Holocaust

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Über dieses E-Book

Das Massaker von Gardelegen -

Hat es das tatsächlich gegeben? Oder war es Propaganda der Amerikaner?
Die Scheune stand doch noch fast unversehrt!
Gab es einen zentralen Befehl für die Todesmärsche? Oder war das Ganze ein Versehen? Welchen konkreten Befehl hatten die Begleitkommandos?
Wer gab den Befehl in Gardelegen? Hat jemand außerhalb der Stadt das Massaker befohlen?
Warum haben die Amerikaner den NSDAP-Kreisleiter Thiele frei gelassen, obwohl sie ihn unter seinem richtigen Namen verhaftet hatten?
Wie fühlt es sich an, in ein KZ zu kommen, wie mit tausend Menschen auf je weniger als einen Quadratmeter zu stehen, während sich Rauch und Flammen ausbreiten?
Aber bitte bedenken Sie beim Lesen dieses Buches, so schnell wird es Sie nicht wieder loslassen!
SpracheDeutsch
Herausgeberwinterwork
Erscheinungsdatum13. März 2013
ISBN9783864684371
Gardelegen Holocaust

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    Buchvorschau

    Gardelegen Holocaust - Torsten Haarseim

    CoverAU12-4430_front.pdf

    Torsten Haarseim 

    GARDELEGEN HOLOCAUST 

    edition winterwork

    Dies ist die Geschichte zweier Freunde,  

    Hermann Meyer, geboren 1922 und  

    Erwin Schneider, geboren 1926.  

    Die beiden Figuren sind frei erfunden und  

    erzählen die Geschichte jeweils aus ihrer Sicht.  

    Alle anderen Personen, Orte und Ereignisse sind real.  

    Die Geschichte ist bittere deutsche Wahrheit  

    und hat sich etwa so abgespielt. 

    „…und so du ins Feuer gehest, 

    sollst du nicht brennen, 

    und die Flamme soll 

    dich nicht versengen." 

    Die Bibel, Buch Jesaja, Kapitel 43, Vers 2 

    Im Gedenken an die 1.016 Toten 

    und die fünfundzwanzig Überlebenden 

    des Massakers in der Feldscheune Isenschnibbe 

    bei Gardelegen am 13. April 1945 

    und allen andern Opfern! 

    Kapitel 1 „Gummihund"

    1936, Groß-Rosenburg (Ich = Erwin) 

    „Los, beweg deinen Hintern, du lahme Ente!", schrie Hermann. Mir schlug der Rucksack mit den Wackersteinen bei jedem Schritt, den ich rannte, gegen den Rücken. Sechzig Meter waren ja nicht viel. Aber mit den Steinen? 

    Ich rannte so schnell ich konnte. Bei jedem meiner Schritte wurde ich von einem der Steine mit einer Spitze in den Rücken gestoßen. Jetzt reichte es mir. Ich hielt an, streifte den Rucksack ab und warf ihn mit voller Wucht auf die Erde. 

    „Ich hab die Schnauze voll, schnaufte ich. „Das schaffe ich doch sowieso nie.  

    „Was bist du bloß für eine Pfeife, Erwin, sagte Hermann. „Du Pimpf! Ach nein, du bist ja noch nicht mal ein Pimpf. Du,… du… Mädchen! 

    „Ja, ja, du hast gut lachen, erwiderte ich. „Du bist ja schon vierzehn und ich bin erst zehn, aber dafür bin ich schlauer als du! 

    „Los, lass uns jetzt abhauen", sagte ich. Ich kippte die Steine aus dem Rucksack und wir gingen zurück in Richtung Dorf. Wir hatten für meine Pimpfenprobe trainiert. Wenn ich die Pimpfenprobe bestehe, nehmen sie mich in das Deutsche Jungvolk auf. Dazu musste ich, unter anderem, den 60-Meter-Lauf in zwölf Sekunden schaffen. Das war das Problem. Ich war einfach zu langsam. Die 2,75 Meter im Weitsprung und die 25 Meter im Schlagballwerfen waren keine Themen für mich. Das schaffte ich locker. Und die Texte des Horst-Wessel-Liedes, des HJ-Fahnenliedes und die Schwertworte des Deutschen Jungvolkes, kannte ich sowieso schon. Hermann war schon vier Jahre im Deutschen Jungvolk. Er kommt jetzt bald zur Hitler-Jugend. 

    Auf dem Rückweg kamen wir wieder ins Träumen. Wir träumten unseren Traum. Wir spreizten die Arme aus und liefen, immer schneller werdend, den kleinen Hügel hinab. Wir waren Flieger,… tollkühne Piloten. Mit unseren Doppeldeckern, ach was sage ich, Dreifachdeckern stürzten wir uns, wie einst der Rote Baron, auf unsere Feinde. Ja, es stand fest, wir werden beide Flieger und fliegen dann Tragfläche an Tragfläche der Sonne entgegen.  

    „Nicht so schnell Hermann", rief ich und trottete ihm hinterher. Er hielt inne und wartete auf mich. Dann klopfte er mir auf die Schulter und legte seinen Arm auf meine Schulter. 

    „Na gut, sagte er. „Dann jetzt das Buchstabier-Alphabet! Das musst du als Pilot auch können. 

    So war er immer zu mir. Er gab nie Ruhe, Hermann musste stets irgendetwas tun, etwas unternehmen. Einfach nur einmal so im Gras liegen und die vorbeiziehenden Wolken betrachten, das gab es für ihn nicht. Ich war da anders. Ich machte das gern. Dann träumte ich vom Fliegen und vergaß die Welt um mich herum. 

    „Nun los!", polterte er.  

    „Anton, Ärger, Bertha, Cäsar, Dora", begann ich zu buchstabieren.  

    „Ha! Falsch!, plärrte Hermann dazwischen. „Du hast Charlotte vergessen. Nach Cäsar und vor Dora kommt Charlotte! Ha! Ha! 

    „Ja, aber nicht im normalen Alphabet, entgegnete ich. „Und außerdem wollen die das bei der Pimpfenprobe ja gar nicht wissen. 

    Ach! Da fällt mir ein, hast du überhaupt schon ein Deutsches-Jungvolk-Leistungsbuch? Du Nase?, fragte er. 

    „Nein!, erwiderte ich. „Krieg ich das nicht von denen? 

    „Nein!, sagte Hermann, der schon lange beim Jungvolk war. „Das musst Du dir selbst kaufen. Da tragen sie dann das Ergebnis der Pimpfenprobe ein, falls du es je schaffen solltest. Aber das wird ja sowieso nichts, frohlockte er. 

    „Ich fliege mit einem Flugzeug über unseren Hügel und du rennst immer noch hier unten mit einem Rucksack voller Steine herum! Ha! Ha!" 

    „Was kostet denn das?", fragte ich. 

    „Dreißig Reichspfennige", antwortete Hermann. 

    Wir kamen ins Dorf zurück und verabschiedeten uns voneinander. Dann ging ich nach Hause. 

    Am nächsten Morgen gingen wir wieder zur Schule. Das Meiste was wir lernten, hielten wir für sinnlos. Wir sollten Luftschutz-Aufgaben lösen. Missmutig überflog ich die Aufgabe: 

    „Als Luftschutzraum für 20 Personen wird ein Raum mit einer Bodenfläche von 30 m² und einer Höhe von 2 m benötigt. 

    a) Welche Bodenfläche und welcher Luftraum steht einer Person zur Verfügung?" 

    „Was soll das?", fragte ich mich. Die Deutsche Luftwaffe würde niemals zulassen, dass auch nur ein einziges feindliches Flugzeug das Reichsgebiet erreichen könnte. Das war doch klar. Viel interessanter waren da die Flugzeug-Treffaufgaben von Hermann. Immer, wenn er in der Schule solch eine Aufgabe lösen musste, brachte er das Schulheft mit auf den Hügel, so wie heute. Ich las: „Auf dem Flugplatz Dresden startet um 12.00 Uhr ein Schwarm von schweren Maschinen zu einem Flug in Richtung 340° mit einer Geschwindigkeit von 240 km/h. Gleichzeitig startet auf dem Flugplatz Erfurt eine Kette von leichten, schnellen Maschinen mit einer Geschwindigkeit von 300 km/h mit dem Auftrag, sich dem Schwarm auf kürzesten Weg anzuschließen. 

    a) Welchen Kurs muss die Kette innehalten? 

    b) Um wie viel Uhr und in welcher Entfernung von Dresden erreicht sie den Schwarm?" 

    Das war einmal eine Aufgabe für einen Deutschen Jungen! Und dann sollte man noch mit verschiedenen Winden rechnen. Ich schrieb die Aufgabe ab und versuchte mehrere Tage lang die Lösungen von Hermann nachzuvollziehen. Das war anstrengend, aber ich schaffte es. Ansonsten lernten wir in der Schule zum Beispiel das Einmaleins und zwar mit dem Rohrstock. Alle mussten dazu aufstehen und wer eine Lösung rief, durfte sich setzen. Der Letzte, der sich nach dem Lösen einer Aufgabe setzen durfte, bekam vom Lehrer Prügel mit dem Rohrstock. 

    So verlebten wir viele Tage. Es war eine schöne Zeit. Eines Tages brachte ich ein Buch mit auf den Hügel. Ein Klassenkamerad hatte es mir für ein paar Tage ausgeborgt. Wir versuchten immer irgendetwas Interessantes mit hoch auf den Hügel zu bringen, um uns gegenseitig zu imponieren. Das Buch hatte den Titel: „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid! Das war zwar ein Kinderbuch, aber es war voller Bilder und Geschichten über „den Volksfeind des Deutschen Volkes, den Juden. Ich fand es interessant und lustig. 

    Herman war gelangweilt. „Ach lass doch den Scheiß mit den Juden, sagte er. „Die tun doch keinem was. 

    „Doch!, erwiderte ich. „Die sind an allem Schuld! 

    „Lass uns lieber etwas Vernünftiges lesen", rief Hermann und rannte los. Ich rannte hinterher.  

    „Was denn?, rief ich. „Hast du etwa ein neues Buch? Ist es interessant?  

    „Das glaubst du sowieso nicht, du alter Fast-Pimpf", erwiderte er.  

    „Was ist es denn? Wollen wir es holen?", fragte ich aufgeregt, während ich hinter ihm her rannte. 

    „Nein", schrie Hermann beim Rennen. Er war schon fünfzig Meter entfernt und ich rannte so schnell ich konnte hinter ihm her. Wir rannten den Hügel hinunter zu unserem Dorf. Es dämmerte schon. 

    „Na, dann rate mal bis Morgen", brüllte er. Das hörte ich noch, dann war er außer Reichweite.  

    „So ein Schweinehund", sagte ich zu mir, während ich austrudelte.  

    „Das macht der immer mit mir. Na warte. Eines Tages kriegt er das zurück. Ich trottete nach Hause und grübelte und grübelte. Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen. „Was konnte das denn bloß für ein interessantes Buch sein?, fragte ich mich.  

    Am nächsten Tag in der Schule war ich unkonzentriert. Andauernd dachte ich daran. Endlich war es Nachmittag und die Schule war vorbei. Ich rannte hinauf zum Hügel. Von weitem konnte ich Hermann nicht sehen. „Der Idiot hat sich bestimmt hinter dem großen Laubbaum, der einsam auf dem Hügel stand, versteckt", dachte ich. Doch er war nicht da.  

    Nach einer halben Stunde kam er dann endlich gemächlich angeschlendert. Er kostete seinen Triumph voll aus. Ich legte mich mit dem Rücken ins Gras, kaute dabei auf einem Grashalm und sah die am Himmel vorbeiziehenden Wolken an. Er kam hoch und setzte sich schweigend neben mich ins Gras. Zwischen seinen Beinen lag ein Stoffbeutel mit einem Buch drin, soviel konnte ich aus dem Augenwinkel erkennen, ohne direkt hinzusehen. Er schaute gelangweilt gerade aus und begann zu pfeifen. „Jetzt reicht es", dachte ich. Ich sprang auf und stürzte mich auf ihn. Wir kabbelten und kullerten umher.  

    Ich brüllte: „Hurra! Jungvolk gegen Hitler-Jugend!" 

    Nach ein paar Minuten war der Kampf vorbei. Ich hatte, wie immer, keine Chance. Er war ja auch einen Kopf größer als ich und knebelte mich. Dann ließ er mich los und endlich packte er das Buch aus.  

    „Wahnsinn!, rief ich aus. Es war die „Luftwaffen-Fibel des Deutschen Jungen von Oberst Hermann Adler. „Mensch, Hermann, rief ich entzückt. „Wo hast du die denn her? Können wir die Fibel behalten? 

    Gelassen antwortete er: „Von meinem Onkel Ottokar. Die muss ich aber wieder abgegeben." Wir blätterten hastig durch das Buch.  

    „Hermann, wir brauchen doch die Flugzeugbilder, frohlockte ich. „Ich weiß was wir machen. Wir klauen zu Hause Butterbrotpapier und pausen die Bilder mit dem Bleistift ab. 

    „Ja!, freute sich Hermann. „Dann haben wir unsere eigene Luftwaffenfibel und kennen auch gleich noch die Konturen der einzelnen Flugzeugtypen. Dann können wir später als Piloten die Flugzeuge am Himmel erkennen! 

    Stundenlang stöberten wir im Buch umher. Es gab doch nichts Interessanteres als Flugzeuge. Es war ein schöner Nachmittag. Abends gab es dann den Arsch voll. Wir hatten bis zum Dunkelwerden oben gesessen und sind einfach nicht rechtzeitig zum Abendbrot nach Hause gegangen. Zu essen gab es auch nichts mehr. Aber egal. Jetzt waren wir ja schon fast Flieger.  

    Dann im Sommer durfte ich endlich in das Deutsche-Jungvolk-Lager fahren. Hier wurden wir gedrillt und ausgebildet. In der Ausbildung lernten wir viel über das Leben des Führers, das Deutschtum im Ausland, die Fahnensprüche und die Lieder der Hitler-Jugend. Wir absolvierten Leibesübungen und schossen mit dem Haenel-Luftgewehr. Wir erfuhren etwas über Gasmasken. Unser Ausbilder erzählte uns, dass man ohne Gasmaske ganz schön aufgeschmissen sein könnte, wenn uns der Tommy, so wie im Weltkriege mit Gelbkreuz, Grünkreuz oder Chlor angreifen sollte, bis wir ihn von der Insel gejagt hätten. Aber er wusste Rat: „Nehmt ein Tuch und pinkelt drauf. Das haltet ihr Pimpfe euch dann vors Gesicht, schön vor Mund und Nase. Dann könnt ihr überleben. Das hilft gegen die Kampfstoffe und auch gegen Rauch. Das haben die Eisenbahner in den Alpentunneln früher auch schon genutzt, um während der Tunneldurchfahrt nicht in Ohnmacht zu fallen." 

    Wir staunten. „Ob das wahr ist?", fragten wir uns. 

    So vergingen die Tage. Dann war es endlich soweit. Wir sollten die Pimpfenprobe ablegen. Ich war ganz schön aufgeregt. Natürlich schaffte ich es. Elf Sekunden fünfunddreißig brauchte ich für die sechzig Meter. Mann, war ich stolz. Neben den Liedtexten wollten die auch noch den Lebenslauf von Adolf Hitler von jedem hören. Darauf hatte ich mich nicht extra vorbereitet. Aber den kannte ja sowieso jeder. Nun stand es schwarz auf weiß in meinem Leistungsbuch. Ich hatte es geschafft. Ich war jetzt ein „Echter Deutscher Pimpf, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Krupp-Stahl! Fasst jedenfalls, schmunzelte ich. Wir waren Männer! So wie es Baldur von Schirach, unser Reichsjugendführer, von uns erwartete. Männer, die alle Strapazen ertragen konnten, wie die langen Fahrradtouren oder die Gepäckmärsche. Da mussten wir unsere „Affen, so hießen unsere Tornister, mit Ziegelsteinen füllen. Fünfzehn Pfund musste jeder Tornister wiegen. Alles kein Problem für mich.  

    Als besonderes Erlebnis durften wir im Kino den Film: „Hitlerjunge Quex" sehen. Der Heini Völker, das war ein feiner Kerl. Wir waren total erschüttert, als ihn am Ende diese Schweine von der roten Kommune erstochen hatten. Wir heulten im Kino und hassten sie, die Kommunisten. Wir hassten sie alle. Und am meisten die Juden. Die waren an allem Schuld, waren das Hauptproblem, wie wir lernten. Woran sie Schuld sein sollten und was sie taten, wusste ich zwar nicht ganz genau, aber egal. Der Jude aus der Stadt, den wir kannten, der Schuster, der war wohl sicher nicht gemeint. Der war ganz normal. 

    Dann kam der letzte Tag. Wir standen stramm auf dem Appellplatz. Unsere grauen Kniestrümpfe, handbreit über den Knien, bildeten beinahe eine Linie. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als mich der Fähnleinführer nach vorn brüllte. Er war zwölf und ich hatte einen mörderischen Respekt vor ihm. Er überreichte mir mein HJ-Fahrtenmesser. Nach meiner erfolgreichen Pimpfenprobe durfte ich nun das HJ-Fahrtenmesser an meinem Koppel tragen. Jetzt war ich ein Mann des Deutschen Jungvolkes. Ich war jemand. Sogar die Erwachsen achteten uns. Ich war stolz wie Oskar.  

    Endlich fuhren wir dann nach Hause. Ich sah aus dem Fenster zum Himmel, sah die Wolken ziehen. „Bestes Flugwetter, dachte ich. „Hermann wird Augen machen. Jetzt war ich ihm endlich ebenbürtig. Ich gehörte zum Jungvolk, wie Hermann. Wir würden gemeinsam durch die Wolken fliegen, Tragfläche an Tragfläche, der Sonne entgegen. Nach der Ankunft rannte ich sofort los. Ich wollte schnell zu Hermann mein Deutsches-Jungvolk-Leistungsbuch und vor allem mein HJ-Fahrtenmesser zeigen. „Der wird Augen machen, der alte Pimpf", freute ich mich. 

    Als ich das Haus von Hermanns Familie erreichte, riss ich die Tür auf. Plötzlich stand er vor mir. Entsetzt stolperte ich zwei, drei Schritte rückwärts. Mit offenem Mund stand ich da und starrte ihn an. Von Kopf bis Fuß sah ich an ihm herunter und wieder hinauf. Hermann trug eine nagelneue, einwandfreie, blaugraue HJ-Uniform. Nichts hatte er mir vorher davon erzählt, der Schweinehund, ärgerte ich mich. Vor allem blaugrau. Das war die Uniform der Flieger-HJ. Enttäuscht senkte ich den Kopf, mein HJ-Messer und mein Leistungsbuch in den Händen haltend. Hermann klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Junge hab dich nicht so. Ich bin stolz auf dich. Du hast es geschafft, bist ein Jungvolk-Junge, ein echter Deutscher Pimpf und bald bist du Pilot, tröstete er mich. „Aber natürlich nur Bruchpilot und nicht so ein Held, wie ich, lachte er. Ich lachte mit und war verdammt stolz auf ihn. Ach, wäre ich doch schon älter. Dann wäre ich auch schon in der Flieger-HJ. 

    „Zeig mal her, dein Messer, forderte er mich auf. Voller Stolz gab ich es ihm. Er zog das Messer aus der Scheide und betrachtete intensiv die Messerklinge, auf der die Worte: „Blut und Ehre graviert waren. „Es ist fast so scharf wie meins", sagte er, mit dem Daumen über die Klinge gleitend. Immer musste er mich verarschen, ärgerte ich mich, stets musste Hermann besser sein als ich… 

    Endlich waren wir wieder zusammen. Schnell rannte ich nach Hause, um mich umzuziehen. Ich wollte gleich wieder weg. Doch Mutter sagte, ich solle erst essen. Es gab Gulasch mit Knödeln und gelben Bohnen. Das Essen schmeckte so einigermaßen. Nur der Tomatensalat schmeckte, wie immer, lecker. Hastig schlang ich alles runter und dann ging es los. Hermann wartete schon am Dorfrand auf mich. Wir rannten unseren Hügel hinauf. Ich sah zum Himmel. Die Wolken zogen schnell dahin. Wir flogen wieder Seite an Seite… 

    Eines Tages brachte Hermann ein paar Bilder von seiner großen Schwester mit auf den Hügel. Sie war 19 Jahre alt und gerade beim Reichsarbeitsdienst für die Weibliche Jugend. Er hatte ihr Arbeitsmaidalbum dabei. In ihrem kleinen Album waren Bilder vom RAD-Sommerlager in Wust bei Havelberg. Hermann beschwor mich, dass ich das mit den Bildern nie verraten dürfte. Ich schwor es ihm bei meiner Fliegerehre. Äußerst interessiert sah ich mir die Fotos von den Mädels an, vor allem die Bilder mit den Mädchen in den kurzen Sportsachen. Eine Fotogrußkarte von der Lotti Reichel hatte es dem Hermann besonders angetan. Er stierte gebannt auf das Bild. 

    „Nun gib schon endlich her", stupste ich ihn an. 

    „Mann, sieht die Lotti toll aus in ihrer stramm sitzenden RAD-Uniform, seufzte er. „So eine werde ich später einmal heiraten. 

    „Duuu?, platzte ich heraus. „An so eine kommst du doch nie ran, frohlockte ich. „Ich nehme lieber so eine, wie die aus dem Film: ‚Hitlerjunge Quex‘, die Hübsche von der kommunistischen Kommune. Die hat geraucht und man konnte ihr, sogar vor den Augen der anderen Jungs, an die Brust fassen, sinnierte ich. „Seitdem ich den Film sah, träume ich manchmal sogar, wie ich ihr an den Busen fasse. 

    „Du Schwein!", plärrte Hermann los. 

    „Du bist ja versaut und außerdem werde ich das der Staatspolizei melden, von wegen Kommunistenfreund. Dann kommst du in Schutzhaft. Ha. Ha." 

    „Dann müsst ihr mich erst mal kriegen", rief ich, riss ihm das Bild mit der Lotti Reichel aus der Hand und rannte damit den Hügel herunter. 

    „Na warte", rief er, sprang auf die Beine und rannte hinter mir her. Als er mich eingeholt hatte, legte er den Arm über meine Schulter und wir liefen wieder gemeinsam zum Dorf hinunter. So verlebten wir eine schöne Zeit. 

    Nur einmal, da hing Hermann ziemlich durch. Er kam an diesem Nachmittag den Hügel zu unserem großen Baum regelrecht hoch geschlichen. Schon von Weitem rief ich: „Was ist denn los, Hermann?" Mit gesenktem Haupt fasste er sich in die Hosentasche und zog, als er auf dem Hügel angekommen war, einen gefalteten Zettel aus der Tasche.  

    „Die haben mich vorgeladen", sagte er mit ernster Mine. Ich erschrak. 

    „Wer? Die Gestapo? Kommst Du in ein Konzentrationslager?" 

    „Zeig mal her", rief ich und riss ihm den Zettel aus der Hand. 

    Ich las: „NSDAP-Hitler-Jugend, Gebiet Mittelelbe (23), Zahnbehandlungszettel 

    Hermann Meyer, wohnhaft in Groß-Rosenburg, Dorfstrasse 3, ist nach zahnärztlicher Untersuchung aufgefordert sich in Zahnbehandlung zu begeben. Eine möglichst vollständige Sanierung des Gebisses ist erwünscht. 

    Die Beendigung der Zahnbehandlung am … wird bescheinigt … Zahnarzt-Dentist. 

    Dieser Zahnarztzettel ist sofort nach beendeter Zahnbehandlung zur Einsendung an die Gesundheitsstelle des Bannes oder Untergaues dem Gefolgschafts-/Fähnleinführer abzugeben!" 

    „Ha, ha, prustend fing ich an zu lachen. „Zahnklempner? 

    „Hermann, du Pfeife. Hast du etwa Angst vor dem Zahnarzt?" 

    Kleinlaut antwortete er: „Ja und wie." 

    „Und so einer ist in der Hitler-Jugend, frohlockte ich. „Die haben früher aber auch jeden Pimpf genommen, sogar Angsthasen. Pilot werden wollen und sich noch nicht einmal auf den Zahnarztstuhl trauen, das sind sie!  

    Ich schlug ihn auf die Schulter und sagte dabei: „Na, dann geh doch einfach nicht hin. Hermann antwortete: „Dann lassen die mich vorführen. Man wird von der Polizei abgeholt, wenn man der Aufforderung nicht nach kommt. 

    „Wirklich?" 

    „Ja, das ist so", antwortete er deprimiert. 

    Ein paar Wochen später hatte der „Held" es überstanden und Hermann war wieder das alte Großmaul. 

    Eines Tages konnte ich den Hermann einmal richtig ins Staunen versetzen. Ein Klassenkamerad hatte mir für einen Tag das Zigarettenbilderalbum „Adolf Hitler – Bilder aus dem Leben des Führers" geborgt. Es war von 1936 und vollständig. Wir blätterten äußerst interessiert das Album durch. Das waren wirklich tolle Bilder. Hermann war, so wie auch ich, begeistert. Unser Führer war wirklich ein Genie. Er konnte sogar ganz toll zeichnen, wie wir sahen. Aber am meisten beeindruckte uns ein Bild, auf dem ein Pimpf dem Führer einen Brief seiner kranken Mutter überreichte. Wir dachten in diesem Moment beide das Gleiche. Was würden wir dafür geben, ihn einmal im Leben zu sehen und sei es auch nur aus der Ferne. 

    Ein paar Monate später sollte ich gewaltigen Ärger bekommen. Das brachte mir eine Tracht Prügel und vier Wochen Stubenarrest ein. Hermann sollte zum Fluglager der Hitler-Jugend nach Ballenstedt. Dort befand sich die Segelflugschule „An den Gegensteinen. Er würde dort zum ersten Mal richtig fliegen. Bisher hatten sie neben dem normalen HJ-Dienst nur Flugzeugmodelle gebaut. Und nun sollte Hermann das erste Mal in seinem Leben wirklich abheben und fliegen. Da musste ich unbedingt hin. Das stand für mich felsenfest. Meine Eltern brauchte ich gar nicht erst zu fragen. Das hätten Mutter und Vater niemals erlaubt. Meine Eltern verstanden unsere Liebe zum Fliegen und zur Hitler-Jugend sowieso nicht. Auch hielten sie von dem „Kerl aus Österreich, unserem Führer, nicht viel. 

    Verstehen konnte ich das nicht. Seitdem der Führer da ist, gab es doch wieder Arbeit und Brot! Wir bauten Autobahnen. Es herrschte Ruhe und Ordnung. Der Führer achtete und ehrte sogar die Mütter. Sie, die Alten, müssten es doch besser wissen. Früher, in der Systemzeit, war doch alles viel schlimmer. Hunger, Arbeitslosigkeit, Massenarmut, Unruhen und Terror waren doch an der Tagesordnung. Ich verstehe sie einfach nicht.  

    Das Fragen konnte ich mir also wirklich ersparen. Ich musste heimlich abhauen. Morgens um vier Uhr stahl ich mich aus meinem Zimmer. Ich zog meine normalen Sachen an, nicht die Jungvolk-Uniform. Nur mein HJ-Fahrtenmesser nahm ich mit. Leise schlich ich mich aus dem Haus. Ich holte mein Fahrrad und den versteckten Proviant aus dem Schuppen und schob bis zum Ende der Straße. Dann radelte ich, wie verrückt, los. Ich hatte alles geplant. Von unserem Dorf Groß-Rosenburg bis nach Ballenstedt waren es neunundsechzig Kilometer. Das sollte ich in vier Stunden schaffen. Um 9 Uhr sollte es auf dem Flugplatz losgehen, soweit ich von Hermann erfahren hatte. Die ersten vier Kilometer bis Patzetz flog ich förmlich die Straße entlang. Es war frisch, aber ich fror nicht. Ich sah nach oben zum Himmel. Schnell, immer schneller, sah ich die Wolken ziehen. Ich befand mich mit meinem nagelneuen Messerschmitt-Jagdflugzeug im Tiefflug, …berührte fast die Baumwipfel. 

    Ich kam durch mehrere Ortschaften. Zuchau, Gerbitz, Nienburg und Bernburg hatte ich nun schon hinter mir. Ich war jetzt viel langsamer geworden. Eine Pause machte ich aber nicht. Als Deutscher Pimpf war man ja zäh…  

    Kurz vor halb neun war ich schon in Ballenstedt und hatte den Segelflugplatz gefunden. Kein Mensch war zu sehen. Ängstlich sah ich mich um. Jetzt fühlte ich mich doch ein bisschen unwohl. „Was machte ich hier bloß?, grübelte ich. „Zu Hause waren sie jetzt schon aufgestanden und suchten mich. Na das kann ja heute Abend was werden… 

    Jetzt kamen die Hitlerjungen anmarschiert. Ich war aufgeregt. „Warum dauert es denn solange? Was machen die denn da?", fragte ich mich und renkte mir beinahe den Hals aus. Jetzt verschwanden sie in der Flughalle. Mir knurrte der Magen. Ich hatte Hunger. Aber vor Aufregung hatte ich keine Zeit etwas von meinem Proviant zu essen. Endlich tauchten sie wieder auf. Sie trugen den hellbraunen Schulgleiter hinaus. Den kannte ich genau. Tagelang hatten wir auf unserem Hügel darüber gesprochen. Alles was Hermann lernte, wusste ich anschließend auch. Der Gleiter war ein Einsitzer aus Holz. Die Tragflächen maßen insgesamt zehn Meter vierzig und waren mit Stoff bespannt. Der Pilot saß im Freien auf einem lederbezogenen Holzbrett. Unter ihm die Kufe zum Landen. Der Schulgleiter konnte es auf einhundertfünfzehn Kilometer pro Stunde bringen. Jetzt sah ich den SG 38 zum ersten Mal mit eigenen Augen und war total begeistert. 

    Auch der Start sollte wirklich spektakulär sein. Ich hatte schon oft davon gehört. Am Gleiter waren, v-förmig nach vorn gerichtet, zwei Gummiseile angebracht. Für den Start brauchte man mehrere Leute. Es gab neben dem Piloten und dem Fluglehrer noch die Startmannschaft und die Haltemannschaft. Obwohl ich in der Theorie ganz genau wusste, was jetzt passieren würde, war ich total aufgeregt. Vor dem Start wurde die Ausrichtung des Gleiters gegen den Wind geprüft. Dann gab der Pilot das Handzeichen. Das war das Zeichen für seine Startbereitschaft.  

    Ich stand zu weit weg, um die Worte hören zu können. Dennoch wusste ich, was nun gesprochen wurde. Ich hatte die Kommandos genau im Kopf und verfolgte die Aktivitäten auf dem Flugfeld. Nachdem die Haltemannschaft und auch die Startmannschaft dem Fluglehrer die „Fertig!-Meldung gegeben hatte, gab er das Kommando: „Anziehen! an die Startmannschaft. An jeder Seite standen sechs Hitlerjungen, die nun die beiden Seilenden straff zogen. 

    Jetzt brüllte der Fluglehrer: „Laufen! und die Startmannschaft rannte los. Die Gummiseile spannten sich. Als endlich das Kommando: „Los! vom Fluglehrer kam, löste die Haltemannschaft die Startfalle, während die Startmannschaft weiter lief.  

    Mir stockte der Atem. Der Schulgleiter schnellte nach vorn und hob ab. Der Hitler-Junge flog. Wahnsinn! Das Ding aus Holz und Stoff flog tatsächlich, war ich fasziniert.  

    Aber im Grunde war es ja kein Flug, sondern nur ein kleiner Hupfer. Aber er war in der Luft. Sie flogen nicht weit, nur ein paar hundert Meter. Nach der Landung mussten die Hitlerjungen den Segler zurück zum Startplatz schleppen. So verging Stunde um Stunde. Später einmal würden sie richtig fliegen lernen. 

    Zum Ablegen der A-Prüfung müssten die Hitlerjungen dann, bei mehreren Prüfungsflügen, dreißig Sekunden lang geradeaus fliegen können, wie ich wusste. Nacheinander flogen die Hitlerjungen mit dem Schulgleiter. Alle schafften den Start. Ich konnte vom Rand des Flugfeldes aus keine Probleme erkennen. Kein Wunder, es war ja auch einwandfreies Flugwetter. 

    Jetzt musste er doch gleich dran sein. Ich würde Hermann das erste Mal in der Luft sehen. Na, ja, sagen wir mal zum zweiten Mal. Das erste Mal flog dieser Idiot vom Kirschbaum, erinnerte ich mich jetzt schmunzelnd. Den Rücken voller Blut, lag er dann unter dem Kirschbaum. So dachten wir damals zuerst, dabei war es nur der Kirschsaft… 

    „Jetzt ist er wohl dran, oder?" Hermann stand am Schulgleiter. Gebannt starrte ich auf das Flugfeld. Doch was war das? Irgendetwas war da los. Hermann fuchtelte wild mit den Armen herum. Es wurde wohl etwas diskutiert. Dann ging er mit gesenktem Kopf weg vom Flugfeld. Er sah mich und kam auf mich zu. Als er näher kam, sah ich, dass er rote Flecken am Hals hatte. Er musste stinksauer oder sehr aufgeregt sein. Das kannte ich von ihm, wenn er solche Flecken am Hals hatte. 

    „Die Schweine lassen mich nicht fliegen, polterte er los. „So ein Schwachsinn. Bloß wegen so einem blöden Eintrag. 

    „Was ist denn? Was ist denn los?", fragte ich neugierig. 

    „Ich habe die blöde Verzichtserklärung zu Hause nicht unterschreiben lassen. Das habe ich vergessen." 

    „Was hast Du vergessen?", hakte ich nach.  

    „Mann, du bist ja mal wieder schwer von Kapee, schnaufte er. „Bei Minderjährigen müssen die Eltern dafür unterschreiben, dass sie bei einem Flugunfall auf Schadenersatz verzichten, damit der Staat keine Invaliden versorgen muss. 

    „Ach so. Du bist ein wahrer Idiot, fluchte ich. „Ich wusste es ja schon immer. Und ich bin erst ein Idiot. Hab mir den ganzen Tag versaut, weil ich dachte, ich sehe mal einen richtigen Bruchpiloten fliegen. 

    Ich setzte noch einen drauf: „Duuu bist der Pimpf! Immer muss ich auf Dich aufpassen und Klein-Hermann an die Hand nehmen!" 

    Sein Grollmund verzog sich langsam zu einem verkrampften Lächeln. Mit voller Wucht schlug ich ihm nun auf die Schulter und

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